T. Geldmacher u.a. (Hrsg.): Österreicher vor Gerichten der Wehrmacht

Cover
Titel
'Da machen wir nicht mehr mit...'. Österreichische Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht


Herausgeber
Geldmacher, Thomas; Koch, Magnus; Metzler, Hannes; Pirker, Peter; Rettl, Lisa
Erschienen
Anzahl Seiten
236
Preis
24,90€
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Uziel, Yad Vashem Archive, Jerusalem

Die Debatte um die Opfer der Wehrmachtjustiz hat in den 1990er-Jahren in Deutschland begonnen und verlief parallel zum wachsenden öffentlichen und wissenschaftlichen Interesse an den Kriegsverbrechen der Wehrmacht. Eine Folge davon war eine Wanderausstellung, die von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas konzipiert und seit Sommer 2007 in mittlerweile 19 Städten in Deutschland und Österreich gezeigt wurde. In September 2010 war die Ausstellung zum ersten Mal in Österreich zu sehen.

Der hier besprochene Sammelband wurde eigens für die adaptierte österreichische Version der Ausstellung konzipiert und konzentriert sich auf österreichische Opfer und Täter der Wehrmachtjustiz. Er enthält eine Anzahl von Beiträgen, meist von österreichischen Wissenschaftler/innen verfasst, die drei Unterkapiteln zuzuordnen sind: Allgemeiner Blick auf verschiedene Aspekte der Militärjustiz, Opfergeschichten und Tätergeschichten.

Gerade im Fokus auf Österreich liegt der größte Reiz dieses Sammelbandes. Das enorme Ausmaß der Verfolgung von Wehrmachtsangehörigen wird durch eine Statistik verständlich: „Schätzungen gehen davon aus, dass von ca. 1,3 Millionen in der Wehrmacht dienenden Österreichern etwa 114.000 vor einem Kriegsgericht standen und rund 2.500 von ihnen zum Tode verurteilt wurden“ (S. 13). Wie diese Zahlen zeigen, wurden die meisten Wehrmachtangehörigen, die vor ein Kriegsgericht kamen, zu einer Haftstrafe verurteilt, die aufgrund der Brutalität des militärischen Strafvollzugs in der Praxis freilich noch vielen mehr das Leben kostete. Thomas Geldmachers Beitrag erläutert nicht nur die unzähligen Institutionen des Strafvollzugs, sondern auch ihre unterschiedlichen Funktionen. „Schon die schiere Anzahl deutet darauf hin, dass es häufig nicht ganz einfach war, die ‚Aufrechterhaltung der Manneszucht’, das erklärte Ziel des NS-Militärstrafrechts, zu gewährleisten“ (S. 22). Walter Manoschek blickt in seinem Beitrag auf den problematischen Umgang mit den Opfern der Wehrmachtjustiz und beschreibt, wie sich in Österreich die Legende der „sauberen“ Wehrmacht entwickeln konnte. Österreichs „Sonderweg“ in der NS-Vergangenheitsbewältigung führte dazu, dass während man in Deutschland schon die Rehabilitierung der Opfer der Wehrmachtjustiz zu diskutieren begann, diese in Österreich kein Thema war.

Es folgen weitere Beiträge, die verschiedene Aspekte der österreichischen Erinnerungskultur zu den Opfern der Wehrmachtjustiz (etwa über Literatur, Denkmale, Standorte usw.) beleuchten.

Der zweite Teil des Sammelbandes widmet sich Fallgeschichten von Opfern. Hier geht es nicht nur um die Einzelschicksale von Opfern, sondern auch um ausgewählte Orte der Verfolgung und um die soziale Umgebung der Opfer. So beschreibt zum Beispiel Lisa Rettl anhand der Geschichte von Maria Peskoller die Rolle der Frauen als Unterstützerinnen von Deserteuren. Dieselbe Autorin untersucht in einem weiteren Beitrag auch einen Fall von kollektiver Desertion im Rahmen des Kärntner Partisanenkampfs. Der bewaffnete Wiederstand der slowenischen Minderheit in Kärnten ist bis heute, zumindest außerhalb von Österreich, eine weithin unbekannte Episode des Zweiten Weltkrieges. Die meisten Deserteure aus dieser Region waren Soldaten slowenischer Herkunft, die wegen der weitgehenden Unterstützung der heimischen Bevölkerung relativ große Chancen hatten, sich dem Zugriff der Militärjustiz zu entziehen (S. 96).

Die Kriegserfahrungen dreier Soldaten mit slowenischer Herkunft stehen auch im Zentrum des nächsten Beitrags von Peter Pirker, der verschiedene Formen der Entziehung aus der Wehrmacht beschreibt und analysiert. Eine weitere Untersuchung Pirkers zur regionalen Ebene befasst sich mit Osttiroler Deserteuren. Dieser Beitrag, wie weitere Beiträge dieses Abschnittes, zeichnen den Weg der Deserteure nach, von ihrer sozialen Herkunft über die Erfahrung im Wehrdienst bis hin zur Desertion, Festnahme, Verhandlung vor dem Kriegsgericht und schließlich dem Vollzug der Strafe. Weitere Beiträge fokussieren auf einzelne Regionen bzw. Orte in Österreich und berichten von Desertionen und ihren Folgen in Vorarlberg, Salzkammergut, Salzburg und Graz. Einen völlig anderen Blickwinkel auf die kollektive Geschichte der Opfer der NS-Militärjustiz eröffnet Magnus Koch in seinem Beitrag, in dem er die Flucht von 535 Wehrmachtangehörigen in die Schweiz analysiert (S. 139).

Der dritte Teil des Bandes widmet sich den Tätern der Wehrmachtjustiz. Er besteht zwar lediglich aus zwei Beiträgen, aber diese sind aufschlussreich. Die Aufsätze beschreiben nicht nur die beruflichen Laufbahnen zweier Wehrmachtrichter, sondern bieten auch einen allgemeinen Blick auf die Wehrmachtrichter als eine Gruppe von NS-Tätern, sowie auf bestimmte Fälle von sogenannter Wehrkraftzersetzung. Lisa Rettls Beitrag erzählt die Geschichte des Richters Leopold Breitler. Ihr zufolge waren es „vermutlich weniger nationalsozialistische Überzeugung als vielmehr kritiklose Anpassungsfähigkeit und ein nicht in Frage gestellter Pflichterfühlungsgedanke, die Breitler leiteten.“ (S. 213). Der zweite, von Thomas Geldmacher verfasste Aufsatz behandelt die Geschichte des Marinerichters und späteren österreichischen Justizministers Otto Tschadek und vergleicht die beschönigenden Nachkriegschilderungen Tschadeks mit Informationen aus Gerichtsakten.

Obwohl dieser Ausstellungsband sich hauptsächlich mit Opfern der Wehrmachtjustiz befasst, gewährt er gleichzeitig Einblicke in die Art und Weise, wie die österreichische Armee in die Wehrmacht integriert wurde, sowie in die Rekrutierungsformen der Wehrmacht in Österreich. Das Buch verdeutlicht die wichtige Rolle, welche die Integration der österreichischen Armee beim Aufbau der Wehrmacht spielte, indem es den Integrationsprozess und die damit verbundenen Probleme auf der unteren Ebene schildert. So wird zum Beispiel gezeigt, dass die Rekrutierung und der militärische Einsatz von slowenischen Soldaten mit den rigiden politischen Maßnahmen gegen die slowenische Minderheit in Widerspruch geriet und daher militärisch gesehen wohl unklug war.

Ein Manko dieses Bandes, das es übrigens mit anderen Werken zu diesem Thema teilt, ist der Fokus auf – in weiterem Sinne – ‚politische’ Opfer. Bei der Wehrmacht, wie in jeder Armee, wurden Soldaten nicht nur wegen Desertion oder Verweigerung, sondern oft auch wegen Bagatelldelikten, wie zum Beispiel Diebstahl, Vernachlässigung des Dienstes, Schwarzhandel, aber auch schwereren Kriminaldelikten vor ein Militärgericht gebracht. Der Umgang der Wehrmachtjustiz mit diesen Delikten ist bis heute kaum erforscht (die 2003 publizierte österreichische Studie ‚Opfer der NS-Militärjustiz’ bildet hier die große Ausnahme1), obwohl im dritten Teil des Buches solche Fälle kurz beleuchtet werden. Gerade die Untersuchung der militärgerichtlichen Verfolgung dieser Delikte könnte interessante neue Kenntnisse über die Wehrmacht geben. Insgesamt jedoch gewährt der Band wichtige Einblicke in die Geschichte der Wehrmachtjustiz und wird daher allen am Thema Interessierten ans Herz gelegt.

Anmerkung:
1 Walter Manoschek (Hrsg.), Opfer der NS-Militärjustiz Urteilspraxis - Strafvollzug - Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003.

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