C. M. Tangerding: Der Drang zum Staat

Titel
Der Drang zum Staat. Lebenswelten in Würzburg zwischen 1795 und 1815


Autor(en)
Tangerding, Clemens Maria
Erschienen
Köln 2011: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marko Kreutzmann, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Jahrzehnte um 1800 waren eine Epoche tiefgreifender politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umbrüche. Diese fanden ihren Ausdruck in einschneidenden Ereignissen, wie der Französischen Revolution von 1789, den territorialen Veränderungen in Deutschland, dem Ende des Alten Reiches 1806, den umfassenden inneren Reformen in den neu gebildeten Territorialstaaten und schließlich in dem Sturz Napoleons und der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress 1814/15.

Diese bewegte Phase wird von der Geschichtswissenschaft seit langem intensiv untersucht. Gemäß den historiographischen Konjunkturen stand zunächst die politisch-militärische Ereignisgeschichte im Mittelpunkt des Interesses, während später die staatlich-administrativen und sozialstrukturellen Veränderungen und mit dem Aufstieg der Alltags-, Mentalitäts- und der neuen Kulturgeschichte schließlich die unterschiedlichen Wahrnehmungen dieser Ereignisse und deren Bedeutung für die lokale Lebenswelt der Menschen ins Zentrum der Forschung rückten. Mit der Neuperspektivierung der Epoche geht auch eine Debatte um deren Zäsurcharakter einher. Inwieweit wirkten sich politische oder militärische Ereignisse, wie das Ende des Alten Reiches 1806 oder die Befreiungskriege gegen Napoleon zwischen 1813 und 1815, auf die Wahrnehmungen, Erfahrungen und konkreten Lebensumstände der historischen Individuen aus?1

An dieser Stelle setzt die innerhalb des Europäischen Graduiertenkollegs 625 (Dresden/Paris) entstandene Dissertation von Clemens Maria Tangerding zu den Lebenswelten in der Stadt Würzburg zwischen 1795 und 1815 an. Die Residenz des gleichnamigen Hochstiftes erlebte im Untersuchungszeitraum der Studie nicht weniger als drei Herrschaftswechsel sowie mehrere Besetzungen durch französische und österreichische Truppen. Im Jahr 1801 wurde das Hochstift dem Kurfürstentum Bayern zugeschlagen, 1805 erstand es als Kurfürstentum (seit 1806 als Großherzogtum) unter einem habsburgischen Herrscher wieder auf und 1814 wurde es endgültig Teil des territorial erweiterten und inzwischen zum Königreich erhobenen bayerischen Staates. Tangerding fragt danach, wie sich diese Herrschaftswechsel, die zugleich einen tiefen Einschnitt in das politisch-kulturellen Gefüge der Stadt Würzburg bedeuteten, auf die Menschen vor Ort ausgewirkt haben. Er nutzt dazu das von Alfred Schütz entwickelte Konzept der „Lebenswelt“, verstanden als das „fraglos Gegebene“ im alltäglichen Leben der Menschen (S. 14). Aus einer konsequent „akteurszentrierten Perspektive“ (S. 20) untersucht Tangerding, inwieweit die politischen Veränderungen „Relevanz“ (S. 18) für die Menschen vor Ort erlangten, inwieweit sie also deren Lebenswelt veränderten.

Für die Studie werden exemplarisch fünf Berufsgruppen herangezogen. Es handelt sich dabei um die Professoren der Würzburger Universität, um Beamte, Künstler, städtische Handwerker sowie Reisende. Auf eine nähere Begründung der Auswahl gerade dieser Berufsgruppen wird allerdings verzichtet, ebenso auf Überlegungen zu der Frage, in welchem Verhältnis diese Gruppen zur Bevölkerungsstruktur der Stadt Würzburg im Untersuchungszeitraum standen. Aus den ausgewählten Gruppen werden jeweils Einzelpersonen anhand ihrer hinterlassenen Selbstzeugnisse für die Rekonstruktion der Lebenswelten in Würzburg herangezogen. Auch hier ist die Motivation für die Auswahl der Personen nicht immer vollständig nachvollziehbar. Viele der untersuchten Professoren etwa verbrachten innerhalb des Untersuchungszeitraums nur eine vergleichsweise kurze Zeit in Würzburg. Gleiches gilt für die beiden Beamten, die exemplarisch für ihre Berufsgruppe herangezogen wurden und sich jeweils nur ein halbes (1802/03) bzw. vier (1813-1817) Jahre in Würzburg aufhielten. Eine langfristige Perspektive, wie sie für die Untersuchung des Wandels von Lebenswelten notwendig ist, kann auf dieser Basis kaum gewonnen werden.

Die Arbeit fußt vor allem auf zumeist ungedruckten Briefen, Tagebüchern, Suppliken sowie publizierten Reisebriefen. Die Überlieferungslage ist disparat, da die entsprechenden Quellen für die einzelnen Gruppen sowie für die ausgewählten Personen in sehr unterschiedlichem Umfang und Gehalt überliefert sind. Dies schlägt sich unmittelbar in der Länge der einzelnen Kapitel nieder. Während das Kapitel über die Professoren mit ihrer reichhaltigen Briefhinterlassenschaft gut 100 Seiten füllt, werden die Beamten und die Künstler auf jeweils etwa 20 Seiten abgehandelt. Dagegen kommt Kapitel fünf über das „kleine und mittlere Bürgertum“ auf immerhin 70 Seiten.

Insgesamt kann Tangerding plausibel darlegen, dass die großen politischen und militärischen Ereignisse der Zeit für die Lebenswelt der Menschen in Würzburg, das von Kriegshandlungen weitgehend verschont blieb, kaum Relevanz erlangten. Vielmehr spielten konkrete, mit den Herrschaftswechseln unmittelbar verbundene, politisch-administrative Veränderungen vor Ort eine größere Rolle. So waren die Würzburger Hochschulprofessoren in erster Linie von den Auseinandersetzungen um den Erhalt und die Reform der Universität betroffen, während etwa die Lebenswelt der Stadtbürger vom bayerischen Konskriptionsgesetz von 1804, das die bis dahin für die Bürger der ehemaligen Residenzstadt bestehende Befreiung vom Militärdienst aufhob, tiefgreifend verändert wurde. Insofern herrschte in Bezug auf die Lebenswelt der einzelnen Berufsgruppen eher ein „Zäsurenpluralismus“ (S. 13, 325) als eine gemeinsame Krisen- und Umbruchserfahrung.

Allerdings werden die Ergebnisse der Arbeit, wie Tangerding (zum Beispiel S. 14) selbst einräumt, von der Auswahl der Quellen stark determiniert. Die Briefe der Professoren an ihre Freunde und Kollegen, die hinterlassenen Briefe der untersuchten Beamten sowie die als Quelle für das städtische Bürgertum herangezogenen Suppliken sind schon von ihrem Entstehungskontext her auf die politisch-administrativen Verhältnisse vor Ort bezogen. Sie thematisieren meist die aus diesen Veränderungen resultierenden beruflichen Anliegen der Verfasser, vor allem das Streben nach einer Anstellung an der Universität, in der Verwaltung oder nach Aufträgen des Staates für ansässige Gewerbetreibende. Reflexionen zu übergreifenden politischen oder militärischen Ereignissen sind in diesen Quellen kaum zu erwarten. Erst recht lässt sich daraus nicht ableiten, ob die Veränderungen vor Ort eine stärkere Relevanz in der Wahrnehmung der Menschen besaßen als die größeren politisch-militärischen Ereignisse. Da es sich bei den untersuchten Berufsgruppen zudem um staatsnahe Gruppen handelt, ist auch der von Tangerding konstatierte „Drang zum Staat“ wohl eher das typische Merkmal einer sozial von Beamten und von Gewerbetreibenden, die vom Hof abhängig waren, geprägten, kleinen bzw. mittleren (ehemaligen) Residenzstadt als ein spezifisches Kennzeichen des Untersuchungszeitraums. Denn Tangerding geht es ausdrücklich nicht um die in dieser Zeit durch das Ausgreifen der staatlichen Verwaltung in immer mehr Lebensbereiche fortschreitende „Herrschaftsintensivierung“, sondern lediglich um die Feststellung, dass sich die untersuchten Gruppen mit ihren Anliegen immer wieder an den Staat wandten (S. 328f.).

Die von Tangerding selbst reflektierte Gefahr eines methodisch bedingten Zirkelschlusses wird durch die mangelnde Präzision und Stringenz von Fragestellung und Argumentation noch verstärkt. Trotz kenntnisreicher Referierung des Forschungsstandes bleibt die Leitthese, dass die Wahrnehmung der „Umbrüche“ im Untersuchungszeitraum davon abhänge, „welcher Gruppe man angehörte“, letztlich doch zu allgemein (S. 13). Die von der akteurszentrierten Perspektive motivierte Entscheidung (zum Beispiel S. 57), den Inhalt der Kapitel unmittelbar von den sehr disparaten Quellen leiten zu lassen anstatt die Quellen aufgrund einer klaren Fragestellung systematisch auszuwerten, führt dazu, dass sich die Argumentation immer wieder in Einzelbeobachtungen verirrt. Dadurch erhält man nur ein sehr bruchstückhaftes Bild der untersuchten Lebenswelten, welches zahlreiche Bereiche ausblendet. Obwohl entsprechende Stichworte in den einzelnen Kapiteln immer wieder auftauchen, bleiben für die Umbruchzeit um 1800 so wichtige Kategorien wie Nation, Religion oder Geschlecht von einer systematischen Analyse ausgeschlossen.2

Die Studie Tangerdings tritt mit einem hohen theoretischen und methodischen Anspruch an, dessen Erfüllung vor allem durch den unbestritten äußerst schwierigen Quellenzugang zu den Lebenswelten und individuellen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern erschwert wird. Dennoch ist eine anregende Arbeit gelungen, die zum ersten Mal im lokal begrenzten Rahmen eine schichtenübergreifende Analyse der Wahrnehmung der einschneidenden politischen, ökonomischen und sozialen Umbrüche um 1800 versucht und damit einen wichtigen Beitrag zu dieser aktuell intensiv diskutierten Frage darstellt.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu exemplarisch die wegweisenden Studien: Wolfgang Burgdorf, Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806, München 2006; Ute Planert, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden. Alltag – Wahrnehmung – Deutung 1792-1841, Paderborn 2007.
2 Vgl. dagegen etwa den facettenreichen Ansatz bei: Ute Planert (Hrsg.), Krieg und Umbruch in Mitteleuropa um 1800. Erfahrungsgeschichte(n) auf dem Weg in eine neue Zeit, Paderborn 2009.