E. Demm u.a. (Hrsg.): Habitus und Sozialprofil von Gelehrten

Titel
Akademische Lebenswelten. Habitus und Sozialprofil von Gelehrten im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Demm, Eberhard; Suchoples, Jarosław
Erschienen
Frankfurt am Main 2011: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
290 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carola Groppe, Historische Bildungsforschung, Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg

Der von Eberhard Demm und Jarosław Suchoples herausgegebene Band ist das Ergebnis einer deutsch-polnischen Tagung an der Universität Szczecin im Jahr 2009. Sie widmete sich einem Thema, das in der bildungs- und fachhistorischen Forschung bereits seit geraumer Zeit Aufmerksamkeit findet. Gelehrtenbiographien, aber auch die prosopographische und kollektivbiographische Untersuchung von Mentalitäten, Normen und Werten sowie Lebensstilen von Gelehrten sind etablierter Teil der Forschung zur Geschichte des Bildungsbürgertums und der Universität.1 Die inzwischen breit ausdifferenzierte Forschungslandschaft widmet sich dabei sowohl der Frühen Neuzeit als auch dem 19. und 20. Jahrhundert. Der vorliegende Band, der zwölf Beiträge enthält, befasst sich mit dem 19. und dem gesamten 20. Jahrhundert, mithin der Zeit der klassischen deutschen Universität und den mit der Bildungsexpansion in den 1960er- und 1970er-Jahren einsetzenden Frequenz- und Strukturveränderungen und ihren Auswirkungen auf die Gelehrten. Ziel der Tagung wie der publizierten Beiträge war es dabei, neue analytische Wege zu beschreiten, insbesondere durch die Heranziehung des analytischen Instrumentariums Pierre Bourdieus: soziale Macht und sozialer Raum, Kapitalsorten, Lebensstil, Habitus. Zu Recht weisen die Herausgeber in der Einleitung darauf hin, dass Pierre Bourdieus Kategorien in der Gelehrtengeschichte bislang noch kaum Anwendung gefunden haben (vgl. S. 8). Dabei haben die Herausgeber allerdings nicht darauf bestanden, dass das bourdieusche Instrumentarium zur Anwendung kommt. Wichtig war ihnen, dass Fragen der Macht und der Lebenswelt der Gelehrten im historischen Prozess mit konkreten Forschungszugängen erschlossen und möglichst auch theorieorientiert analysiert wurden (vgl. ebd.).

Der Band konzentriert sich im ersten Teil auf Aspekte der inner- und außerinstitutionellen Macht und der Habitusformierung der Gelehrten im späten 18., im 19. und im frühen 20. Jahrhundert. Der zweite Teil befasst sich mit der Veränderung des wissenschaftlichen Feldes und seiner Tektonik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere mit dem Aufbegehren der Studierenden und den Karrieren von Wissenschaftlerinnen. Der dritte Teil lotet die Produktivität neuer Zugänge zur Gelehrtenforschung aus: Generation, Raum, Migration. Der erste Teil ist mit sechs Beiträgen der umfangreichste. Er enthält Analysen zu einem Gelehrten des 18. Jahrhunderts, Christian Gottlieb Kratzenstein, zu protestantischen Universitätstheologen des Nachmärz, zu Lujo Brentano, Marianne Weber, Alfred Weber und eine Abhandlung zur Darstellung des Leidens in der Wissenschaft in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa. Nicht alle Beiträge des ersten Teils verwenden die Analysekategorien Pierre Bourdieus. Susan Splinters Beitrag über Christian Gottlieb Kratzenstein (1723-1795) versucht zum Beispiel, über das soziologische Rollenmodell dessen Leben unter Aspekten der Macht zu erfassen. Welche Möglichkeiten der Einflussnahme boten sich in verschiedenen sozialen Räumen? Und wie wurden sie von Kratzenstein genutzt? Der Ansatz ist interessant: Über eine biographische Analyse sollen die Strukturen und Regeln sozialer Räume erfasst werden. Leider fehlt eine Reflexion über die Reichweite einer solchen Analyse: Biographische Zufälligkeiten, der Einfluss von Erlebnissen oder die Teilnahme an weiteren sozialen Feldern usw. können als Faktoren in einer Einzelfallanalyse nicht ausgeschlossen werden und begrenzen die Aussagekraft des Falles für die Struktur und die Regeln sozialer Räume.

Die folgenden Beiträge zu Lujo Brentano (1844-1931) und Alfred Weber (1868-1958) kommen dann nur zum Teil über eine narrative Rekonstruktion der jeweiligen Biographien hinaus. Die bourdieuschen Analysekategorien und Interpretationsangebote werden zwar begrifflich eingeführt, aber kaum analytisch fruchtbar gemacht. Richard Bräus kurzer Beitrag über Lujo Brentano nennt Bourdieus Kapitalbegriffe in den Zwischenüberschriften, die Darstellung selbst kann aber nicht zeigen, worin denn der analytische Ertrag der Verwendung der bourdieuschen Kapitalbegriffe bestehen könnte. Ähnliches gilt für Eberhard Demms Beitrag über Alfred Weber. Er entwickelt zwar in großer Ausführlichkeit die Persönlichkeit eines Wissenschaftlers des späten 19. und des 20. Jahrhunderts, aber auch hier mangelt es an einer theoriegeleiteten Analyse. Bezeichnend ist, dass der Beitrag, wie auch der Bräus, unvermittelt mit einer knappen biographischen Skizze einsetzt, aber keine Fragestellung entwickelt wird. Dass Alfred Weber insbesondere Freunde und Schüler habilitierte (vgl. S. 107ff.) und in verschiedenen sozialen Feldern (Politik, Wissenschaft, Literatur) Netzwerke aufbaute, wird ohne Zweifel deutlich, auch, dass er über erhebliche soziale Macht innerhalb und außerhalb der Universität und des wissenschaftlichen Feldes verfügte und unterschiedliche Kapitalsorten besaß und nutzbar machte; aber die Frage des Lebensstils erschöpft sich in der Aufzählung typisch bürgerlicher Verhaltensformen und bildungsbürgerlicher Interieurs (vgl. S. 124ff.), Fragen des Habitus und seiner Bedeutung werden neben eher oberflächlichen Schilderungen von Aspekten der Selbstinszenierung (vgl. S. 127ff.) nicht behandelt; die Beziehung Alfred Webers zu Frauen, insbesondere zu Else Jaffé (vgl. S. 130ff.), beschränkt sich auf narrative Episoden.

Bärbel Meurers Beitrag über Marianne Weber (1870-1954) unternimmt nicht den Versuch, das bourdieusche Forschungsinstrumentarium zu erproben, sondern ordnet lediglich Marianne Webers Biographie nach bourdieuschen Kategorien. Dabei wird die biographische Forschung zu Max Weber nicht einbezogen. Joachim Radkau kommt ebenso wenig vor wie Dirk Käsler.2 Das entstehende Porträt weist keine Distanz zum Forschungsgegenstand auf. Marianne Webers Selbststilisierung in ihrer Biographie ihres Mannes Max wird nicht hinterfragt. Die deskriptive, oft affirmative Darstellung (vgl. S. 84f., S. 89 usw.) enthält keine neuen Forschungsergebnisse, sondern fällt hinter den Stand der Weber-Forschung und den Stand der Biographie-Forschung zurück. Der Beitrag von Johannes Wischmeyer über die protestantischen Universitätstheologen des Nachmärz (1850-1870) ist der Versuch, prosopographisch mit Bourdieus Kategorien des Kapitals und des Habitus zu arbeiten. Hier gelingt es dem Autor, Kapitalerwerb und soziale Platzierung, Macht und Statuskämpfe produktiv mit Bourdieu zu deuten, auch wenn er an manchen Stellen Bourdieus Kategorien für ‚konjunkturabhängig‘, das heißt für historische Epochen mal mehr, mal weniger gültig hält (vgl. S. 41, S. 51f.). Das kann man mit Recht diskutieren, leider fehlt eine solche Auseinandersetzung im Text.

Der zweite Teil des Bandes beginnt mit einem Beitrag von Ingrid Hudabiunigg über die zweite Frauenbewegung in den 1960er-Jahren und den biographischen Weg von Frauen in die Wissenschaft. Als Interviewstudie mit allerdings nur fünf narrativen Interviews angelegt, untersucht sie die Biographien der Interviewpartnerinnen, deren analytische Reichweite aufgrund der schmalen Basis jedoch begrenzt bleiben muss. Die Autorin versucht ihre Analyse am Habitusbegriff Bourdieus entlang zu organisieren. Doch wird der Begriff nicht in habitusbezogene Forschungsperspektiven umgesetzt. Es bleibt bei einer interessanten Studie über die Probleme von Frauen, zu anerkannten Wissenschaftlerinnen aufzusteigen, die aber auch ohne den Habitusbegriff ausgekommen wäre.

Der anschließende Beitrag von Hartmut Soell ist keine wissenschaftliche Analyse, sondern eine Erinnerung an seine Zeit als wissenschaftlicher Assistent in Heidelberg und als Vertretungsprofessor in Berlin in der Zeit der Studentenbewegung. Der Beitrag fügt sich nicht in den Band. Aufschlussreich wäre gerade für die Zeit der „68er“ eine Analyse der Universität mit den bourdieuschen Kategorien gewesen, was an dieser Stelle eine deutliche Lücke im Band hinterlässt. Jan Eike Dunkhases anschließende Analyse der Abschiedsvorlesung Werner Conzes 1979 in Heidelberg ergänzt den Beitrag Soells und ordnet Conzes wissenschaftliche Nachkriegsbiographie in die Veränderungsprozesse an der Universität zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren ein. Sein Fazit ist, dass hier ein bildungsbürgerlicher Wertekosmos und gelehrter Lebensstil dominierte, der in der Bildungsexpansion und Studentenbewegung in eine biographische Krise geriet. Insgesamt kann der zweite Teil des Bandes nicht überzeugen. Dies liegt einerseits an dem mit drei Beiträgen geringen Umfang, andererseits an der Heterogenität der Beiträge.

Im dritten Teil sollen mit nochmals drei Beiträgen neue methodologische Wege der Gelehrtenforschung beschritten werden. Den Anfang macht Barbara Stambolis mit ihrem Interviewprojekt zu 44 deutschen Universitätshistorikern des Jahrgangs 1943. Hier geht es um die Frage generationaler Besonderheiten ebenso wie um Habitualisierung. Stambolis gelingt es, Habitus – als Vorbewusstes – und konkrete Entscheidungen differenziert darzustellen und zu kontextualisieren. An diesem Beitrag wird deutlich, in welche Richtung die bourdieusche Habitus-Kategorie fruchtbar gemacht werden könnte: im Zusammenhang mit feldspezifischen Generationen- oder Milieuporträts oder im Vergleich feldspezifischer Generationen. Peter Meusburger und Thomas Schuch befassen sich anschließend mit der Bedeutung der räumlichen Mobilität Heidelberger Professoren vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis 1932. Inwiefern sind Karrieren gekoppelt an räumliche Mobilität? Welche Rolle spielt die Reputation der Universität? In der Auswertung von 722 Gelehrtenbiographien ermitteln sie die akademischen Karrierestationen fakultätsspezifisch sowie im historischen Verlauf und korrelieren dies mit der Reputation der Universität. Auch soziale Herkunft, soziale Netzwerke, die Eröffnung räumlicher (Wohn-)Nähe, formelle wie informelle Kommunikationsstrukturen und die Bedeutung von Promotions- und Habilitationsorten werden einbezogen. Der Beitrag liefert eine Fülle von Daten, bleibt aber deskriptiv. Eine stärkere theoretische Fundierung der Forschungsdimension „Raum“ wäre als Rahmen hilfreich gewesen und hätte die Dateninterpretation präzisieren können. Am Schluss des Bandes steht der Beitrag von Jarosław Suchoples über polnische Gelehrte und Studierende in Berlin 1820-2010. Der Beitrag ist der einzige mit einem interkulturellen Bezug, obwohl diese Forschungsperspektive in der historischen Forschung zunehmend Aufmerksamkeit findet und sich gerade für die historische Gelehrtenforschung anbietet. Der Beitrag gibt einen guten Überblick über die polnische akademische Migration nach Berlin, bleibt aber ebenfalls deskriptiv.

Insgesamt fehlt den meisten Beiträgen die konkrete kritische Erprobung eines theoretischen und methodischen Instrumentariums, so dass weder ein produktives Ergebnis zum Beispiel hinsichtlich einer Bourdieukritik aus Sicht der Geschichtswissenschaft entsteht noch weiterführende Perspektiven für die Gelehrtenforschung entwickelt werden. Es ist zudem bedauerlich, dass es den Herausgebern nicht gelungen ist, außer dem Herausgeber selbst, Jarosław Suchoples, weitere polnische Beiträgerinnen und Beiträger für den Band zu gewinnen. Daher fehlt eine vergleichende Perspektive. Ebenso bedauerlich ist, dass viele Beiträge sehr schematisch an den in der Einleitung wiedergegebenen Analysekategorien der Herausgeber entlang gehen, ohne diese jeweils für den eigenen Untersuchungsgegenstand zu konkretisieren oder zu modifizieren. Der Wunsch der Herausgeber, methodologisch neue Wege zu erschließen (vgl. S. 17), bleibt für die Gelehrtenforschung damit weiter bestehen.

Anmerkungen:
1 Vgl. als klassische Studien Fritz K. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933, Stuttgart 1983; Klaus Schwabe (Hrsg.), Deutsche Hochschullehrer als Elite 1815-1945, Boppard am Rhein 1988. Exemplarisch Matthias Steinbach / Stefan Gerber (Hrsg.), Klassische Universität und akademische Provinz. Studien zur Universität Jena von der Mitte des 19. bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, Jena u.a. 2005; Hubert Treiber / Karol Sauerland (Hrsg.), Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der „geistigen Geselligkeit“ eines „Weltdorfes“ 1850-1950, Opladen 1995.
2 Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München u.a. 2005. Dirk Käsler, Der retuschierte Klassiker. Zum gegenwärtigen Forschungsstand der Biographie Max Webers, in: Johannes Weiß (Hrsg.), Max Weber heute. Erträge und Probleme der Forschung, Frankfurt am Main 1989, S.29-54.