D. L. Cooper: Creating the Nation

Cover
Titel
Creating the Nation. Identity and Aesthetics in Early Nineteenth-Century Russia and Bohemia


Autor(en)
Cooper, David L.
Anzahl Seiten
347 S.
Preis
€ 32,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jiří Štaif, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Karlsuniveristät Prag

Das Buch des amerikanischen Slavisten David L. Cooper ist eine in vielen Aspekten inspirierende Lektüre. Und zwar deshalb, weil es seinem Autor gelungen ist, in nicht alltäglicher Weise die Werteaspekte moderner nationsbildender Prozesse im Kontext der Kulturgeschichte zu erklären. Prädestiniert durch seine perfekte Kenntnis der russischen und der tschechischen Sprache liefert er eine solide Analyse der gewählten Problematik voll interpretativer Kreativität und theoretischer Inspirationen. Er eröffnet damit unter anderem den Weg zu einem beginnenden Dialog zwischen Literaturtheorie nebst ihrer Geschichte und kulturell ausgerichteter Sozialgeschichte. Auf der anderen Seite aber provoziert gerade der auf die Logik ästhetischer Zusammenhänge des modernen Nationalismus gelegte starke Akzent kritische Anmerkungen, die sich aus einem etwas anderen Blickwinkel ergeben.

Das Buch ist in drei grundlegende Interpretationsbereiche gegliedert. Die Titel wie die Anordnung der zum Teil bereits früher veröffentlichten Kapitel deuten auf das Anliegen des Autors: Cooper ist nicht konsequent chronologisch, sondern problemorientiert und komparativ vorgegangen. Der Grund, weshalb er die ästhetischen Zusammenhänge der nationsbildenden Prozesse in Russland und in Böhmen vergleicht, erschließt sich Schritt für Schritt mit sophistischer Raffinesse, denn es handelt sich hier aus theoretischer und methodologischer Sicht um viel mehr als nur um eine slavistisch ausgerichtete Forschung. Konzeptioneller Ausgangspunkt ist der europäische Streit zwischen Traditionalisten und Modernisten über die Interpretation des kulturellen Erbes der Antike, der am Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich entbrannte und dann zu einer Paradigmenachse des literarischen Klassizismus wurde.

Modernisten vom Typ Voltaires profitierten von der Krise des literarischen Klassizismus, in der Homers ästhetische Vorbilder und auch Genrevorbilder die literarischen Bedürfnisse der sich modernisierenden Gesellschaft und das Konzept einzelner Nationalliteraturen nicht mehr zu befriedigen vermochten. Nach Coopers Auffassung führte diese Krise nämlich trotz zahlreicher Peripetien mit einer inneren Logik zu einem analogen Ergebnis: zur Entstehung des modernen Nationalismus. Sein Buch basiert auf der These, dass dieses Modell in den Jahren 1800 – 1830 sowohl in der russischen als auch der tschechischen Nationsbildung eine entscheidende Rolle gespielt habe. Dieser Prozess wurde besonders durch das Phänomen der Übersetzung gesteuert, das im Einklang mit Antoine Berman (S. 89 ff., 182-183) als konstitutives Element jeder Kultur verstanden wird.

Cooper geht des Weiteren von der These aus, dass es bei der Entstehung der modernen tschechischen und russischen Literatur in ihren Übersetzungsprozeduren nicht nur um einen Tribut an kulturelles Spätzünden ging, sondern um ein allgemein gültiges Paradigma, nach dem sich auch die „weiter entwickelten“ nationalen Kulturen gerichtet hätten. Dabei lässt er leider die zweifelsfreie Asymmetrie der Proportion von Übersetzungen in den einzelnen nationalen Kulturen außer Acht. Seine Passagen zum kulturellen Imperialismus, auf den er in seiner Schilderung der russischen Diskussionen über die Nationalliteratur eingeht, zielen in eine etwas andere Richtung. Er nimmt nämlich an, dass die kulturelle Übersetzung, die sich nicht nur auf die literarische Übersetzung beschränkt, entweder durch ein Erfassen des „Fremden“ aus der Position der Macht und dessen Einbetten als untergeordnete Komponenten in die „eigene“ Kultur zu definieren ist, oder als Dialog zwischen zwei verschiedenen, jedoch „gleichberechtigten“ Kulturen zu verstehen sei.

In diesem Zusammenhang verweist er auf die Tendenz einiger Sympathisanten der Dekabristen in Russland, sich nach dem machtgeleiteten Aspekt dieses Vermittlungsaktes zu richten. Das literarische Schaffen Puschkins mit orientalischen Sujets sieht er in diesem Sinne etwas ambivalenter. Die Frage der diametral abweichenden sozialen Struktur der wichtigsten Teilnehmer des literarischen nationsbildenden Prozesses in Russland und in Böhmen lässt Cooper indes außer Acht, ebenso wie verschiedene Modalitäten ihrer Beziehung zu Staat und Gesellschaft, in der sie ihre kulturellen Ambitionen zur Geltung brachten. In Russland war nämlich zu jener Zeit ein bedeutender Teil der literarischen bzw. kulturellen Elite zugleich ein nicht unbedeutender Teil des Machtestablishments. In den böhmischen Ländern sah dies völlig anders aus. Führende Persönlichkeiten der tschechischen nationalen Wiedergeburt waren bestrebt, im Rahmen der bestehenden Verhältnisse zu einer neuen bzw. alternativen Elite zu werden. Deshalb entwickelten sie eine neue Nationalliteratur, die im Vergleich mit der offiziellen alternativ war. Sie rechneten auch damit, dass sie später versuchen würden, eine eigene, das heißt autonome Kulturpolitik zu schaffen.

Im Mittelpunkt der angenommenen Logik des nationsbildenden Prozesses stand bei Cooper im Falle Russlands der vielschichtige und gleichzeitig mehrdeutige Begriff „narodnosť“, der im westlichen Kulturkreis am ehesten mit dem Begriff der nationalen Eigenheit gleichgesetzt werden kann. Besonders interessiert ihn dabei, wie sich dieser in damaligen literaturwissenschaftlichen Diskussionen über das französische ästhetische Erbe, in einem gewissen Maße auch die deutsche Klassik einerseits und über romantische Inspirationen andererseits, äußerte. Eine bedeutende Rolle spielte hier eine ganze Reihe von Persönlichkeiten, vor allem A. A. Bestushev – Marlinskij, W. Küchelbecker, O. M. Somov, D. V. Venevitinov und P. A. Vjazemskij. Wichtig waren in diesem Zusammenhang auch Puschkins Überlegungen zur Beziehung des nationalen Charakters und des Klassischen im Dramenschaffen Shakespeares. Gleiches gilt für seine kritische Distanz zur westlichen Romantik als literarischem Modell, das seiner Ansicht nach nicht an und für sich eine russische Nationalkultur schaffen könne (S. 217 ff.).

Die Akzentuierung der literarischen Basis des nationsbildenden Prozesses ermöglicht Cooper eine positivere Einschätzung von Personen, die bisher als reaktionär oder zumindest konservativ verstanden wurden. Als ihre Hauptvertreter sind der russische Admiral A. S. Schischkov und Graf S. S. Uvarov zu sehen, die als Präsident der Russischen Akademie der Wissenschaften und eine gewisse Zeit auch als Minister für nationale Aufklärung amtierten. Schischkov machte sich durch seine Betonung der Schlüsselrolle einer Kultivierung der Sprache bei der Herausbildung der Nationalkultur einen Namen. Gleichzeitig war er Herausgeber des alten russischen Literaturdenkmals „Slovo o polku Igoreve [Igorlied]“ (1805), dessen Authentizität umstritten ist. Im Jahre 1820 übersetzte und edierte er im Russischen das Falsifikat des „Rukopis královédvorský [Königinhofer Handschrift]“, das von den Vertretern der tschechischen nationalen Wiedergeburt als „Beweis“ für ein althergebrachtes literarisches Schaffen in tschechischer Sprache betrachtet wurde. Uvarov wurde unter anderem als Vater der Reform des russischen Sekundarschulwesens (1828) auf der Basis der bekannten konzeptionellen Triade Orthodoxie-Autokratie-volksverbundener Patriotismus bekannt, und trug so zur Entstehung der modernen russischen Intelligenz bei (S. 244 ff.).

Im Umfeld der tschechischen nationalen Wiedergeburt betont Cooper den literarischen Diskurs über die Beziehung der entstehenden modernen Nationalliteratur zum klassischen ästhetischen Erbe. Die Protagonisten waren Josef Jungmann, František Palacký, Pavel Josef Šafařík und Jan Kollár (siehe insbesondere Zusammenfassung auf S. 206 und Schluss auf S. 251-257). Dem wäre aus der Sicht der Rolle literarischer Eliten im nationsbildenden Prozess hinzuzufügen, dass die klassische literarische Ästhetik im damaligen gesellschaftlichen Umfeld eine der wenigen Legitimationsmittel war, durch die diese Gruppe der tschechischen Vertreter der Wiedergeburt symbolisches Kapital gegenüber dem renommierten Begründer der modernen Slavistik Josef Dobrovský akkumulieren konnte. Die Interpretationsrichtung Coopers trifft jedoch auf einige Hindernisse. Es handelt sich besonders darum, dass sich die prosodische Norm des „časomíra [Zeitmaß]“, das zusammen mit „libozvučnost [Wohlklang]“ die progressive Ästhetik des dichterischen Schaffens bestimmen sollte, in der literarischen Praxis der tschechischen nationalen Wiedergeburt nicht als verbindliches Muster durchsetzte. František Palacký, der zusammen mit Šafařík die so verstandene Ästhetik in der Schrift „Počátkové českého básnictví, obzvláště prosodie [Anfänge der tschechischen Poesie, besonders der Prosodie]“ (1818) propagierte, kam mit der Zeit zu dem Schluss, es habe sich eher um einen Ausdruck jugendlichen Elans gehandelt denn um die Auffindung einer konstitutiven Komponente der tschechischen Kultur.

Ein Historiker der modernen Sozialgeschichte hat darüber hinaus eine ganze Reihe von Gründen, den vor allem instrumentellen und letztlich komplementären Charakter dieser Bemühungen um eine Herausbildung tschechischer nationaler Eliten zu akzentuieren. Cooper jedoch betrachtet ihn als konstitutiv. Seine Interpretation der Beziehung der von der literarischen Klassik beeinflussten Modernisten zur Romantik erfordert jedoch meiner Ansicht nach eine etwas ausgefeiltere Argumentation. Ich nehme nämlich an, dass gerade die Romantik in bedeutendem Maße zu einer Weiterentwicklung von der Ästhetik der Formen des literarischen Schaffens hin zu einer Ästhetik der Inspiration durch die Natur und insbesondere dann einer genialen Tat zugunsten der Nation beigetragen hat. Diese Anmerkungen ändern jedoch nichts daran, dass ich Coopers Buch als aus professioneller Sicht sehr kompetent und intellektuell brillant betrachte. Es bietet auch einem weniger bewanderten Leser eine zuverlässige Orientierung, wozu auch das ausgezeichnet ausgearbeitete Register beiträgt.

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