R. Dunphy: Encyclopedia of the Medieval Chronicle

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Titel
Encyclopedia of the Medieval Chronicle.


Herausgeber
Dunphy, Raymond Graeme
Erschienen
Anzahl Seiten
LXXXIV, 1748 S., 2 Bde.
Preis
€ 399,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Schütte, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen

Quellenkunde und Quellenkritik sind wichtige Teile historischen Arbeitens. Dies gilt zumal für die Erforschung des frühen und hohen Mittelalters, weil die Beschäftigung mit den vorwiegend erzählenden Quellen mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden ist. Diese berühren die Person des Verfassers, die Überlieferung, benutzte Vorlagen, die Nachwirkung und Ähnliches mehr. Darüber hinaus entwarfen die Autoren im Spannungsverhältnis von persönlichem Erleben, mündlichen Berichten und Lektüre, von literarischer Tradition, Publikum und Darstellungsabsicht jeweils eigene Bilder, deren Deutung durch die Geschichtswissenschaft sowohl durch den zunehmenden Erkenntnisgewinn als auch durch die Zeitbezogenheit des modernen Historikers einem steten Wandel unterworfen ist.

Mit der Etablierung der historisch-kritischen Methode und dem Fortschreiten editorischer Tätigkeiten vor allem im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica entstand offenbar das Bedürfnis, die literarischen Werke möglichst umfassend vorzustellen und einzuordnen. 1858 schuf Wilhelm Wattenbach (1819−1897), Mitarbeiter der Monumenta und schließlich Professor in Berlin, mit seinem Werk ‚Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts‘ erstmals einen hauptsächlich nach Zeit und Raum gegliederten Überblick, in dem Autoren und Werke im eingangs umrissenen Sinne erläuternd gewürdigt wurden. Der ‚Wattenbach‘ wurde mehrmals überarbeitet und ist heute in den von 1952 bis 1990 erschienenen Bänden zu benutzen.

Daneben gibt es noch weitere quellenkundliche Hilfsmittel wie zum Beispiel die in drei Bänden erschienene ‚Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters‘ (1911−1931) aus der Feder von Max Manitius, die wegen ihrer ungeheuren Materialfülle nichts an Wert verloren hat. Es handelt sich freilich nicht um eine problemorientierte Literaturgeschichte, sondern letztlich um einen Katalog, der von der Zeit Justinians I. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts reicht sowie chronologisch, inhaltlich und auch typologisch gegliedert ist und eben nicht nur die historiographische Überlieferung umfasst. Wichtig ist auch das von 1978 bis 2004 in zweiter Auflage bearbeitete ‚Verfasserlexikon‘, das in elf Bänden alphabetisch geordnet Autoren und anonym überlieferte Werke vorstellt. Der Schwerpunkt dieses Werkes liegt zwar auf zumal deutschsprachigen literarischen Werken des Mittelalters, doch wird auch die lateinische Geschichtsschreibung in gebotener Breite berücksichtigt. Von ganz anderem Zuschnitt ist hingegen die seit 1972 erscheinende ‚Typologie des Sources du Moyen Âge Occidental‘, deren einschlägige Bände sich dem Stoff aus gattungsgeschichtlichem Blickwinkel nähern und eine nützliche Ergänzung zum ‚Wattenbach‘ oder dem ‚Verfasserlexikon‘ bieten.

In den Kreis dieser quellenkundlichen Hilfsmittel gehört auch die von dem Regensburger Anglisten Graeme Dunphy federführend betreute ‚Encyclopedia of the Medieval Chronicle‘. Bei der Entstehung dieses voluminösen, ausschließlich in englischer Sprache verfassten Werkes wurde Dunphy von einer achtzehnköpfigen Herausgebermannschaft unterstützt, die das Wirken der knapp 450 Beiträger koordiniert hat. Der Sache nach handelt es sich um ein alphabetisch angelegtes Nachschlagewerk, das Autoren und anonym überlieferte Texte verzeichnet. Die Auswahl der rund 2500 Artikel folgte rein pragmatischen Gesichtspunkten: Der Zeitraum umschreibt die Jahre etwa von 300 bis 1500, der Stoff erstreckt sich auf alle nur möglichen Formen der Geschichtsschreibung aus dem Norden, Osten, Süden und Westen der Christenheit, aus dem Judentum und aus der islamisch geprägten Welt. Die meisten Werke sind in Latein abgefasst, doch werden gemäß den weiten Erfassungskriterien auch zahlreiche Quellen zum Beispiel in Deutsch, Französisch, Portugiesisch, Griechisch, Armenisch, Arabisch, Syrisch oder einer der slawischen Sprachen vorgestellt.

Die Artikel folgen einem bestimmten Aufbau, fallen insgesamt recht knapp aus und enthalten letztlich nur elementare Informationen. Die den Autoren gewidmeten Beiträge erörtern zunächst deren Lebensrahmen, während bei den namenlos auf uns gekommenen Texten die mutmaßliche Entstehungszeit und der Entstehungsort oder ein in Betracht kommender Verfasser diskutiert werden. Anschließend wird kurz die Sprache des jeweiligen Werkes notiert und sodann versucht, Gattungszugehörigkeit, Inhalt, Berichtszeitraum, Vorlagen, Darstellungsabsicht und verwandte Gegenstände zu umreißen. Ein besonderes Augenmerk ruht stets auf der Überlieferung, denn die wichtigsten Handschriften werden mit dem heutigen Aufbewahrungsort und sogar ihrer Signatur genannt. Am Ende steht eine ‚Bibliography‘, in der die maßgeblichen Ausgaben, moderne Übersetzungen und ein paar Literaturtitel gelistet sind. Wenn Autor und Werk im ‚Verfasserlexikon‘ oder in dem von 1962 bis 2007 erschienenen ‚Repertorium fontium historiae medii aevi‘ behandelt wurden, schließen die jeweiligen Stellenangaben die ‚Bibliography‘ ab.

Hinzukommen mehrere übergeordnete Einträge, die sich zum Beispiel mit Annalen, Weltchroniken, früher christlicher Geschichtsschreibung, islamischer Historiographie, Himmelserscheinungen und der Translatio imperii beschäftigen oder mit Blick auf die Buchausstattung kunsthistorische Fragen erörtern. Erschlossen wird das Werk durch eine einleitende alphabetische Auflistung der Artikel mit Hinweisen auf die zeitliche Einordnung, die Sprache und die geographische Herkunft sowie vier Indices, die Werke, Verfasser, erdkundliche und sonstige Namen, Sachen und Handschriften verzeichnen.

Worin liegt der Wert dieses neuen Nachschlagewerkes? Wenn man in Lehre und Forschung die mehr oder weniger bekannten Felder der deutschen Mediävistik beackert, dann wird man sich über zentrale Autoren wie Widukind von Corvey, Thietmar von Merseburg, Rahewin von Freising oder Burchard von Ursberg im ‚Wattenbach‘ und im ‚Verfasserlexikon‘ belesen oder gleich zu den Editionseinleitungen greifen, weil es der ‚Encyclopedia of the Medieval Chronicle‘ letztlich doch an Tiefenschärfe fehlt. In vielen Fällen ist man sogar gezwungen, anderwärts Auskunft einzuholen, denn nach Brun von Querfurt, Eberwin von Trier, Gerhard von Augsburg, Iotsald von Saint-Claude, Lantbert von Deutz oder den Lebensbeschreibungen Kaiser Heinrichs IV., Papst Leos IX. und des Bischofs Meinwerk von Paderborn, ja sogar nach Einhard sucht man vergebens, wohingegen Notker Balbulus mit einem Artikel vertreten ist. Anders gesagt wurden im weitesten Sinne hagiographische Werke oder Werke, die von den Herausgebern für Hagiographie gehalten wurden, nicht hinreichend berücksichtigt, und die sieben Zeilen über einen bedeutenden Verfasser wie Caesarius von Heisterbach sind derart belanglos, dass man sie getrost hätte fortlassen können. Auch römische Autoren, die in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht wichtig oder unwichtig sind, sind nur ungleichmäßig bearbeitet: Sueton und Tacitus sind verzeichnet, Florus, Justinus, Livius und Sallust nicht.

Derartige Einwände wird hinsichtlich seiner jeweiligen Arbeits- und Interessengebiete wohl jeder Benutzer erheben, aber diese Einwände umreißen zugleich die große Stärke der ‚Encyclopedia‘, denn sie informiert über all das, was einem fernsteht, und erlaubt wenigstens einen beschränkten Vergleich. Zudem ist das ausgebreitete Material derart umfangreich, dass es geradezu zum Blättern einlädt. In dieser Hinsicht ist die Aufnahme der außerhalb des lateinischen Kulturkreises entstandenen Werke vielleicht besonders lehrreich. al-Tanūkhī, der im 10. Jahrhundert im Zweistromland lebte, hat zwar nicht allzu viel mit Widukind von Corvey zu tun, aber dafür wissen wir jetzt wenigstens, dass es diesen in arabischer Sprache tätigen Autor gab. Und die Arabisten erfahren etwas über Widukind.

Am Rande sei noch vermerkt, dass die ‚Encyclopedia’ in der Wikipedia vorgestellt wird, wo ebenso wie in der Einleitung des Buches der enge Zusammenhang mit den Bemühungen der ‚Medieval Chronicle Society‘ hervorgehoben wird. Zudem wird dort auf eine erweiterte Internet-Version hingewiesen, die freilich kostenpflichtig ist.1

Anmerkung:
1 Artikel: Encyclopedia of the Medieval Chronicle, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, <http://de.wikipedia.org/wiki/Encyclopedia_of_the_Medieval_Chronicle> (28.08.2012); The Medieval Chronicle Society, The Medieval Chronicle, <http://medievalchronicle.org> (28.08.2012).

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