S. Ulbrecht u.a. (Hrsg.): Die Ost-West-Problematik

Titel
Die Ost-West-Problematik in den europäischen Kulturen und Literaturen. Ausgewählte Asekte / Problematika Východ – Západ v evropských kulturách a literaturách. Výbrané aspetky


Herausgeber
Ulbrecht, Siegfried; Ulbrechtova, Helena
Erschienen
Prag 2009: Neisse Verlag
Anzahl Seiten
793 S.
Preis
€ 48,00-
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gertraud Marinelli-König, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akdemie der Wissenschaften

Das als „kollektive Monographie“ bezeichnete Werk bildet den Band 25 der Reihe Arbeiten des Slavischen Institutes der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag und umfasst 30 Beiträge, die, wie das Herausgeberpaar in der Einleitung (S. 11) hervorhebt, die Bereiche Kulturtransfer, europäisches Zwischenfeld, historische Komparatistik, Eurasiertum und Neoeurasiertum, Russland vs. Europa und deutsch-russische Beziehungen behandeln, wobei eine Zusammenarbeit zwischen Literatur- und Kulturwissenschaft angestrebt wurde.

Helena Ulbrechtová (Prag) eröffnet den Band: On the History of the „East-West“ Concept and on the Possibilities of the Further Use in the Slavonic Literary and Cultural Studies. Es folgt der Beitrag von Moritz Csáky (Wien), Zentraleuropa im Spannungsfeld kultureller Kommunikationsräume, der das historische Gedächtnis auf die Kultur der Metropolen der Habsburgermonarchie zu Beginn des 20. Jahrhunderts evoziert, welche durch Verflechtung und Überlappungen, Mehrfachidentitäten und Mehrsprachigkeit gekennzeichnet war. Aus dieser Sicht stellt sich die West-Ost-Problematik in einer anderen Optik dar, die Kategorie, welche Moritz Csáky für diesen historischen kulturellen Kommunikationsraum einführt, ist der Begriff ‚Zentraleuropa’. Auf den Mitteleuropa-Diskurs der letzten Jahrzehnte geht sodann Ulrike Goldschweer (Bochum) ein, indem sie Mitteleuropa als imaginärer Raum und Grenzphänomen betrachtet.

Vladimír Vavříneks (Prag) Beitrag, The Encounter of the West and the East in die Formation of Early Slavonic Literary Culture, ist der großen Erzählung über die Anfänge des Schrifttums der Slaven gewidmet, und zwar nicht im Hinblick auf die damit verbundene Mythologisierung und Politisierung, sondern im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden Quellen und die Erkenntnisse der Forschung der letzten zweihundert Jahre. Um Wissenschaftsgeschichte zum Fach Komparatistik geht es auch im Beitrag von Anna Zelenková (Prag), Štúdium vzťahu Východ – Západ v kontexte porovnávacej literárnej vedy. Príspevok F. Wollmana do diskusie.

Susanne Dieterichs (Stuttgart) analysiert in ihrem Beitrag Aspekte kultureller Beziehungen zwischen Rußland und Württemberg im 18. und 19. Jahrhundert. So gab es an der 1770 gegründeten Hohen Carlsschule, die als eine der fortschrittlichsten Universitäten Europas gegolten habe, einen erheblichen Anteil russischer Studenten, was u. a. den Weg Schillers nach Russland schon in den 1780er Jahren ebnete, denn ein Kommilitone Friedrich Schillers war Nikolaj Šeremetev, der als Direktor sämtlicher kaiserlichen Theater Karriere machen sollte.

Der historische Faden wird von Vladimir Kantor (Moskau) weitergesponnen, der sich der Rolle Dresdens im Leben Nikolaj Bakunins zuwendet; dieser stand 1849 an der Spitze des Dresdener Maiaufstandes und brachte, nach einem Bericht von Aleksandr Gercen, den Vorschlag ein, die Meisterwerke der Dresdner Galerie auf Mauern und Barrikaden aufzustellen. Verwoben wird Bakunins Tun, Handeln und Denken mit E. T. A. Hoffmann, dem Nihilisten Nečaev und Dostoevskij, der in Dresden begann, seinen epochalen Roman Die Dämonen zu Papier zu bringen. Vom Protagonisten Petr Verchovenskij, dessen Vorbild Nečaev war, wird der Satz getan: „Das Rattern der Bauernwagen, die der Menschheit Brot bringen, ist nützlicher als die Sixtinische Madonna“ (S. 182).

Mit dem Autor Marquis de Custine als Verfasser von La Russie en 1839 (4 Bände. Paris: Amyot 1843), einem Bestseller, der wesentlich zum Bild beitrug, welches „der Westen“ sich von der despotischen Gesellschaft des „Ostens“, sprich des Zarenreiches, machte, setzt sich der Beitrag von Michail Ryklin (Moskau), Вечная Россия’ маркиза де Кюстиа. Автобиографический аспект, auseinander. Die Beurteilung der imperialen Vergangenheit unterliegt ja seit dem Zerfall der Sowjetunion einer Revision.

Helena Ulbrechtová bringt in ihrem Beitrag Pojem Východu a Západu v historických i současných aplikacích. Třy příklady u. a. einen umfassenden Überblick in tschechischer Sprache über die Reihe West-östliche Spiegelungen (=Wuppertaler Projektes zur Erforschung der Geschichte deutsch-russischer Fremdenbilder). Es ist dies ein Beispiel dafür, wie zwischen kulturellen Räumen sprachliche und mentale Barrieren auf dem Weg sprachlicher und kultureller Übersetzung überbrückt werden können.

Dem Literaturtransfer im Wege von Übersetzungen geht Peter Drews (Freiburg i. Br.) Beitrag Grundzüge der Rezeption deutscher Belletristik in Rußland 1800-1850 nach. Seine Schlussfolgerungen basieren auf einer Studie über Übersetzungen deutscher Belletristik ins Russische (München 2008), welche seine Reihe über deutsch / slavische bzw. slavisch / deutsche Übersetzungen vor 1850 um einen weiteren Band bereichert, wofür ihm nicht genug gedankt werden kann.

Die Abhandlung von Michel Espagne (Paris) ist dem Kulturtransfer in den slavischen Sprachraum gewidmet. Darunter sei „die Aufnahme eines Kulturguts aus einem Ausgangskontext in einen neuen Zusammenhang“ zu verstehen. Die Kontextänderung impliziere eine semantische Umdeutung, „wobei der neue Sinn weder als Substanzverlust noch als Missverständnis verstanden werden darf, sondern als ebenbürtiger Gegenstand“ (S. 77). Der Blick sei auf die deutsch-tschechische und bis zu einem gewissen Grad auch auf die deutsch-russische Osmose, die im 19. Jahrhundert stattfand, zu richten, was, im Hinblick auf die heutige Neugestaltung Europas an Interesse gewinne.

Eine Reihe von Beiträgen befassen sich mit vergleichender Analyse literarischer Werke und Strömungen: Rolf Fieguth (Fribourg), A. S. Puškins ‚Podražanija Koranu’ (1826) und das ‚Buch Hafis’ in Goethes ‚West-östlichem Divan’ (1819); Mária Gyöngyösi (Budapest), Schiller und der russische Symbolismus. Die kritische Prosa von V. Ivanov und A. Blok; Josef Dohnal (Brünn), Model /modely světa a literatura přelomu 19. a 20. století. Andrejev a Kafka; Petro Rycho (Černivci), Paul Celan und Osip Mandel’štam. Eine mystische Begegnung auf Distanz; Miroslav Olšovský (Prag), ‚Vyprávění vnějšku’. Ke srovnání ruské a francouzské prózy modernismu.

Zwei Beiträge befassen sich mit dem Phänomen Rilke: Als Ergänzung zur Darstellung von Uwe Hentschel (Chemnitz), ‚Denn Armut ist ein großer Glanz…’ Über die Anziehungskraft Rußlands in der Moderne, welcher Aspekten der „Ostalgie“ bei Rilke aufzeigt, sei auf die Studie von Leonid Čertkov, Rilke in Russland auf Grund neuer Materialien (Wien 1975) verwiesen, wo die Kontakte Rilkes während seiner zweiten Russland-Reise und, unabhängig davon, die Verbreitung seiner Werke in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts skizziert werden. Adam Bžoch (Bratislava) kann in seinem Beitrag Rainer Maria Rilke zwischen der katholischen Moderne und dem slowakischen Surrealismus keine „östliche“ Konnotation in der Rezeption Rilkes in den 1930er- und 1940er-Jahren erkennen.

Flucht aus dem Paradies. Kitsch als Schlüsselthema in Milan Kunderas Roman ‚Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins’ betitelt Andreas Guski (Basel / Berlin) seine Untersuchung über den Erfolgsroman Nesnesitlná lehkost býtí (1984), verfasst im Exil, ein Werk, das durch Übersetzungen den Weg zu seinem Publikum fand. Der Autor war aus politischen Gründen aus dem „Osten“ in den „Westen“ (Frankreich) übersiedelt.

Das in der Kunstgeschichte wohlbekannte Phänomen migrierender Künstler analysiert Isabel Wünsche (Bremen) anhand des Vergleiches von Wassily Kandinsky und František Kupka. Dass auch migrierende Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der Sprache des Gastlandes schreiben und dabei ihre „Zwischenraum“-Situation thematisieren, stellt hauptsächlich ein Phänomen der jüngsten politischen und sozioökonomischen Entwicklung dar und findet derzeit in der Forschung zunehmend Beachtung. Dirk Uffelmanns (Passau) Beitrag, Paradoxe der jüngsten nichtslavischen Literatur slavischer Migranten unterzieht das Begriffspaar ‚Attizismus / Asianismus’ einer Analyse, um zu ermessen, ob das Phänomen der transnationalen Literatur in diesen Diskurs einbezogen werden könnte.

Im Ersten Weltkrieg waren Nikolaj Gumilev (1886-1921) und Ernst Jünger (1895-1998) für ihr jeweiliges Vaterland mit Enthusiasmus an die Front gegangen. Siegfried Ulbrecht (Prag) unternimmt den Versuch, ihre Kriegsliteratur zu analysieren und ihre Positionen hinsichtlich Gesellschaft, Geschichte, Zivilisation, Ethik und Ästhetik zu vergleichen. Auch sieht er in beiden, nach Armin Mohler, der 1950 diesen Begriff eingeführt hatte, „konservative Revolutionäre“.

Ernst Lüdemann (Nussloch) schreibt über Stalins Vernichtungsfeldzug gegen die Bauern und die Darstellung in deutschen Schulbüchern und legt seine Erkenntnisse über den ‚Holodomor’, den Hungermassenmord zu Beginn der 1930er Jahre in der Ukrainischen Sowjetrepublik, aber auch in anderen Gebieten der UdSSR, dar. Als einen gravierenden Fehler bei Darstellungen in Geschichtsbüchern für den Schulgebrauch in der BRD bezeichnet er die mangelnde Beachtung der Nationalen Frage der UdSSR (S. 284). Dabei sollte nicht vergessen werden, dass Darstellungen der Sowjetunion im „Westen“ prinzipiell Feindbildcharakter hatten.

Der gut gegliederte Beitrag von Anne Hartmann (Bochum), Literarische Staatsbesuche. Prominente Autoren des Westens zu Gast in Stalins Sowjetunion (1931-1937) widmet sich dem Phänomen eines in der Geschichte wohl singulären „Kulturtourismus“, wobei damals die „Veranstalter“ und „Gäste“ nicht die Überreste historischer Denkmäler zu vermitteln bestrebt waren bzw. vermittelt bekamen, sondern herausragende Leistungen einer Gesellschaft im Umbruch, welcher als erfolgreich verlaufend präsentiert und rezipiert werden sollte.

Thematisch ergänzende Aspekte der Beurteilung der Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit von Seiten der Nationalsozialisten, aber auch der russischen Emigration, insbesondere der Entstehung der „eurasischen Bewegung“, bringt Helena Ulbrechtová als zweites Beispiel eines historischen Ost/West-Antagonismus in ihrem bereits erwähnten Beitrag. Auf diese Bewegung in ihrer heutigen Gestalt geht Alexander Höllwerths (Poznań) Analyse, Die Welt- und Wirklichkeitssicht des „Neueurasiers“ Aleksandr Dugin. Versuch einer dialogischen Dekonstruktion ein. Elke Mehnert (Aue) hebt in ihrem Bericht, Die Mühen der russischen Ebenen. Nachrichten aus dem postsowjetischen Alltag, den Debut-Roman von Ingo Schulze, 33 Augenblicke des Glücks (4. Auflage, 1998) hervor, in welchem ein Blick von außen auf die nur schwer verständlichen Vorgänge, welche der „Systemwechsel“ im Osten provozierte, gestaltet werde.

Der letzte Abschnitt der „kollektiven Monographie“, in welchem das Problem Ost-West als ein Problem philosophisch-literarischer Konzepte behandelt wird, umfasst Aufsätze von Miroslav Mikulášek (Ostrova), ‚Ars interpretationis hermeneutica’ jako ‚duchovní poznání’. Přínos slovanských myslitelů k vědnímu paradigmatu literární hermeneutiky, Hanuš Nykl (Prag), ‚Nový středověk’ v ruské filozofii. Leonťjev – Florenskij – Berďajev und Jan Vorel (Ostrava), Koncepce ‚Východ – Západ’ v genezi románové tvorby Andreje Bělého.

Mit Leonhard Kossuths (Berlin) Text, Mein Weg zu Abay und Probleme der Nachdichtung wird der „Osten“ um den kazakhische Kulturraum erweitert, und man kann nur erahnen, welche Kulturtransferleistungen von Kulturschaffenden der ehemaligen DDR erbracht wurden.

Mit einem Register ausgestattet hat die hier vorgestellte kollektive Monographie eine „Zufuhr“ an symbolischem Kapital für die kulturwissenschaftlich-translatorische Forschung erbracht. Denn wenn auch der politische West/Ost-Antagonismus gegenwärtig in den Hintergrund getreten zu sein scheint, so bedeutet dies nicht, dass Einrichtungen, welche die „Ost-West-Problematik“ in ihrem wissenschaftlichen Programm haben an Bedeutung eingebüßt hätten: Im Gegenteil – sie sind wichtiger denn je.

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