Titel
Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Nebelin, Manfred
Erschienen
Berlin 2011: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
900 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olav Zachau, Bonn

Die 3. Oberste Heeresleitung (OHL) im Ersten Weltkrieg hatte das Gesicht Hindenburgs und das Gehirn Ludendorffs. Die Biografie Hindenburgs hat Wolfram Pyta vorgelegt1, für Erich Ludendorff, einen der wichtigsten Militärs des Kaiserreichs und frühen Mitstreiter Adolf Hitlers, mithin eine Person von größtem historischen Interesse, fehlt eine solche, auch wenn Manfred Nebelin nun einen Anfang dazu liefert.

Dieses Desiderat erklärt Nebelin mit der Quellenlage: der dienstliche Nachlass Ludendorffs ist im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört worden, der private ab 1927 nicht zugänglich (S. 19f.). Nebelin erschließt daher erstmals die seit 1894 entstandenen Schriften Ludendorffs, die den Weltkrieg sehr umfangreich behandeln. Nebelin konzentriert sich folglich auf die Weltkriegsjahre und bezieht im Sinne einer „neuen Politikgeschichte“ Jugend und Aufstieg Ludendorffs mit ein.

Zweierlei interessiert den Dresdner Historiker besonders: Worin Ludendorffs Macht bestand und warum er sie anstrebte sowie die Frage, wie Ludendorff zwischen Bismarck und Hitler einzuordnen ist - also nach seiner historischen Verortung.

Nebelin behandelt einzelne Zeitabschnitte aus politischer wie militärischer Sicht. Er zeigt, wie Ludendorff als Anhänger Schlieffens schon 1913 dabei behilflich war, die Vorherrschaft des Militärs über die Politik vorzubereiten, indem er die bis dahin größte Heeresvermehrung organisierte. Kurz darauf bewährte er sich bei Planung und Durchführung des deutschen Angriffs auf die belgische Festung Lüttich, wodurch er zum „ersten Kriegsheld des Kaiserreiches“ (S. 116) wurde. Gemeinsam mit dem reaktivierten General Hindenburg bildete Ludendorff anschließend die Doppelspitze der deutschen Kriegsführung im Osten, wobei Ludendorff – im Einverständnis mit Hindenburg – jene Entscheidungen fällte, die Hindenburg zu einer Popularität verhalfen, die den Krieg überdauern sollte.

Hindenburg und Ludendorff kritisierten scharf die Oberste Heeresleitung unter Falkenhayn, weil sie dessen Ermattungsstrategie eine Vernichtungsstrategie im Osten entgegensetzen wollten. Daher entspann sich ein ständiges Ringen zwischen „Ober-Ost“ und 2. OHL, das mit der Entlassung Falkenhayns endete, nachdem er im August 1916 durch die Kriegserklärung Rumäniens an Österreich überrascht wurde und das Vertrauen Wilhelms II. verlor.

In der 3. OHL wurde Ludendorff „Deutschlands Nummer eins“, auch wenn ihm Hindenburg de iure vorgesetzt war. Hier setzt sich Nebelin in direkten Widerspruch zu Wolfram Pyta, der es als „grotesk“ bezeichnet, in Hindenburg „das vorgeschobene Organ Ludendorffs“ zu sehen.2 Doch Nebelin bezeichnet den Ersten Quartiermeister, einen Titel, den Ludendorff bedeutungsschwanger bei Scharnhorst und Gneisenau entlieh (S. 214), als „Diktator im Ersten Weltkrieg“ – so der Untertitel des Werks –, da er entscheidenden Einfluss auch auf die Ernennung der Reichskanzler ausübte, der Primat des Politischen mithin verloren ging; freilich nicht ein Diktator nach Zuschnitt des 20. Jahrhunderts, sondern im Sinne der römischen Antike: ein Feldherr, dem in Notzeiten die „suprema potestas“ übertragen wurde (S. 340). Diese Macht übte Ludendorff durch die potentielle Androhung seines Rücktritts aus, selbst überzeugt von der eigenen Unentbehrlichkeit für den „Endsieg“, was ihm das Volk und Wilhelm II. lange glaubten. Da die Verfassung formal nicht angetastet wurde, spricht Nebelin mit der Forschung von „silent dictatorship“ bzw. „heimliche[r] Diktatur“ (S. 339).

Militärisch änderte all das wenig. Eine Schwerpunktverlagerung nach Osten, wie zuvor gefordert, war nicht möglich, auch nicht eine Rückkehr zum Bewegungskrieg durch eine entscheidende Offensive. Zugleich traten bei Ludendorff zunehmend irrationale Züge zutage, die sich bis Kriegsende zur Realitätsverleugnung steigern sollten.

Dies gilt nicht zuletzt für seinen wiederholten Appell, für den Sieg alle dem Volke innewohnenden Kräfte anzuspannen. Er glaubte, die Leistung der Heimatfront könne in einem Maße gesteigert werden, dass der zunehmenden materiellen Überlegenheit der Entente begegnet werden könne. Ludendorff griff dazu in den Arbeitsmarkt ein und erwartete, wenn man der Bevölkerung den Ernst der Lage deutlich mache, würde sie freiwillig in der Rüstungsindustrie arbeiten. Er forderte nichts weniger als eine „totale Mobilmachung“ (E. Jünger; S. 245). Aus Enttäuschung über die mangelnden Ergebnisse erzwangen Hindenburg und Ludendorff die Entlassung des Kriegsministers Wild von Hohenborn und schließlich auch die des von ihnen als „Flaumacher“ (S. 323, 335) denunzierten Reichskanzlers, weil der unbeschränkte U-Boot-Krieg nicht die gewünschten Resultate zeigte. In beiden Fällen waren die Nachfolger Kandidaten Ludendorffs, worin Nebelin zu Recht einen Sieg der „Diktatur“ erblickt, da der Generalquartiermeister das zentrale Element der kaiserlichen Macht – die Stellenvergabe – dirigierte und einen beispiellosen Einfluss auf die Politik gewann (S. 339).

Ludendorffs zweite Illusion war, die Bedrohung durch die USA ignorieren zu können. Er unterschätzte die wirtschaftlichen Möglichkeiten ebenso wie die Bereitschaft Amerikas, in den Krieg einzugreifen. „Ich pfeife auf Amerika“ (S. 300). Erst 1918 gab er zu, dass dessen Kriegseintritt die Lage an der Westfront wesentlich verändert hatte.

Den Misserfolg erklärte sich Ludendorff durch die Agitation zerstörerischer Elemente, wobei sich im Umriss die „Dolchstoßlegende“ abzeichnete (S. 278). Der zunehmenden Unzufriedenheit an der Heimatfront begegnete er mit Härte und lehnte insbesondere eine Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts ab. Als dies im Herbst 1918 dennoch geschah, erklärte er offen, diejenigen, die sich nun in die Regierung drängten und denen man die schlechte Lage verdanke, die „Suppe essen“ (S. 466) lassen zu wollen.

Da der Krieg immer mehr Opfer forderte, initiierten alle Staaten große Rüstungsprogramme und vollzogen die Wende zum „Maschinenkrieg“. Doch Ludendorff unterschätzte dabei die Panzerwaffe völlig und vernachlässigte sowohl deren Entwicklung als auch die der Abwehrwaffen (S. 229ff.). Stattdessen setzte die 3. OHL auf den unbeschränkten U-Boot-Krieg, das „letzte Mittel“ den „Krieg in absehbarer Zeit“ (S. 231) zu gewinnen – eine Bankrotterklärung.

Immer wieder stellt Nebelin die Kontinuitätsfrage. Als Verwalter der neuen Gebiete im Osten unterschied sich der „Eroberer“ Ludendorff deutlich von den Besatzern im Zweiten Weltkrieg. Selbst wenn er an eine Germanisierung dachte, wobei der nichtdeutschen Bevölkerung die Rolle von Arbeitssklaven zugedacht war, mithin rassische Gedanken eine Rolle spielten, so blieb Ludendorffs Besatzungspolitik doch an der Haager Landkriegsordnung orientiert (S. 193ff.). Auch als er beim Rückzug in die Siegfried-Stellung 1916 die Zerstörung des preisgegebenen Territoriums befahl, war das nicht mit Hitlers Nero-Befehl zu vergleichen, da Zivilisten evakuiert wurden und das Vergiften der Brunnen verboten war (S. 237). Auch hatte Ludendorff bis 1914 kein außenpolitisches Programm (S. 343), erst im Verlauf des Krieges entwickelte er Vorstellungen, die für Nebelin im Rückgriff auf Fritz Fischer auf ein „Imperium Germaniae“ (S. 356) hinausliefen. Die völkischen Ideen des Generals rücken ihn jedoch in die Nähe Hitlers. Und so sieht Nebelin in Ludendorff – nicht in Wilhelm II. – das „Scharnier“ (S. 520) zwischen Bismarck und Hitler – doch näher dem „Führer“ als dem „eisernen Kanzler“.

Beeindruckend ist, dass sich Manfred Nebelin einer moralischen Verurteilung Ludendorffs enthält, obwohl der „Diktator“ mit seiner Unduldsamkeit und seinen zahlreichen Fehleinschätzungen dafür reichlich Anlass gäbe. Nebelin ist ein Beobachter, der die Geschehnisse detailliert nachzeichnet und dessen Missbilligung an jenen Stellen am deutlichsten hervortritt, an denen Ludendorff sich wider besseres Wissen und zum eigenen Vorteil an der historischen Wahrheit verging. Eleganterweise erlaubt Nebelin dem General, sich selbst zu demontieren. Die letzten Kapitel zeigen in zahlreichen Äußerungen den so selbstsicheren Feldherrn, der Volk und Kaiser lange vorspielte, er allein könne siegen, als einen von Illusion zu Illusion Stolpernden. Noch im Juli 1918 bestand er in einer Pervertierung der Ereignisse darauf, Belgien müsse unter deutschem Einfluss bleiben, damit es nie wieder Aufmarschgebiet gegen Deutschland werden könne (S. 389). Er stellte seinen Ruf als Feldherr so lange über die Notwendigkeiten, dass er jegliche Unterstützung verlor und schließlich nur die unrühmliche Flucht ins Ausland blieb.

Manfred Nebelin gelingt eine detaillierte und lesenswerte Studie, die mit vielen neuen Interpretationen im Einzelnen aufwartet und Ludendorff als Menschen und Feldherrn in den historischen Kontext und die forschungspolitische Perspektive des letzten Jahrhunderts stellt.

Anmerkungen:
1 Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2009.
2 Ebd., S. 250.

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