M. Reichert: Kernenergiewirtschaft in der DDR

Titel
Kernenergiewirtschaft in der DDR. Entwicklungsbedingungen, konzeptioneller Anspruch und Realisierungsgrad (1955-1990)


Autor(en)
Reichert, Mike
Erschienen
St. Katharinen 1999: Scripta Mercaturae Verlag
Anzahl Seiten
544 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Abele, Institut für Technikgeschichte, TU Dresden

Reichert beweist mit seiner Geschichte der Atomwirtschaft in der DDR erneut, mit welchem Gewinn die Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts von den Perspektiven der Wirtschafts- und Technikgeschichte profitiert. Am Umgang mit großtechnischen Industrievorhaben zeigen sich charakteristische Merkmale des politischen Systems. In angenehm sachlichem Stil fragt Reichert nach den Gründen, warum die Entwicklung der Kernenergienutzung in der DDR weit hinter den Konzeptionen und Planungen zurückblieb. Er identifiziert hemmende und begünstigende Faktoren der Kernenergieentwicklung in der DDR. Reichert sieht in der Entscheidung von 1965 für einen Import von Hauptausrüstungen für Kernkraftwerke aus der Sowjetunion und dem damit verbundenen Verzicht auf eine eigene Entwicklung den Hauptgrund für das Scheitern der ehrgeizigen Kernkraftwerksvorhaben (S. 24).

Die Darstellung gibt einen umfassenden Überblick über die Geschichte der Kernkraft der DDR und öffnet zugleich Fragen für die weitere Diskussion in den Geschichtswissenschaften. Dies wird deutlich bei der Lektüre des Vorworts von Joachim Radkau, der zentrale Thesen herausgreift, bestätigt, diskutiert, aber auch kritisch würdigt. Damit veranschaulicht die Arbeit, in welch angenehmer Form die historische Forschungsdiskussion weitergeführt werden kann. Mit seiner Leitfrage folgt Reichert einem wirtschaftshistorischen Forschungsansatz, der nach Ursachen für die relativ schwache wirtschaftliche Entwicklung der DDR fragt 1.

In seiner Argumentation folgt Reichert im Wesentlichen chronologisch den Hauptphasen der Kernenergieentwicklung in der DDR. Nach Freigabe der Kernforschung im Jahr 1955 durch die Sowjetunion hatte die DDR den Aufbau des zugehörigen Wissenschaftszweiges mit großer Entschiedenheit vorangetrieben. Auf Partei- und Staatsebene erfolgte die Gründung eigener Gremien für die Organisation der Kernenergiewirtschaft in der DDR. Parallel dazu erfolgte der Ausbau zugehöriger Forschungseinrichtungen. 1956 beschloss der Ministerrat schließlich den Bau des ersten Atomkraftwerks der DDR, dessen erste Baustufe mit Hauptkomponenten aus der Sowjetunion errichtet werden sollte.

Die Darstellung gewinnt hier besonders dadurch an Überzeugungskraft, dass nicht nur die institutionelle Entwicklung nachgezeichnet, sondern durch die besonderen Rahmenbedingungen in der DDR motiviert wird. Dazu gehört nicht nur die internationale Atomeuphorie, in deren Kontext der Aufbau der kerntechnischen Einrichtungen in der DDR erfolgte, sondern auch die Rückkehr der Spezialisten aus der Sowjetunion, für die die politische Führung adäquate Arbeitsplätze schaffen musste. Vor allem verweist Reichert jedoch auf die Rohstofflage in der DDR. Die Braunkohle als dominierende Energiequelle und die eigenen Uranvorkommen als Hoffnungsträger für die künftige Energieversorgung der DDR bestimmten maßgeblich die Kernenergiepolitik der Anfangsjahre. Dies wird gerade auch bei den Diskussionen um geeignete Reaktortypen deutlich.

Ein tiefer Einschnitt prägte die Kernenergiepolitik der DDR zu Beginn der 60er Jahre. Der Ministerrat beschloss, das ehrgeizige Atomprogramm, mit dem 1955 die Kernenergieentwicklung in der DDR begonnen hatte, drastisch zu reduzieren. Bereits 1963 folgte dann ein erneuter Richtungswechsel. Kernkraft erschien nun wieder unverzichtbar, um die Energieversorgung nach 1970 sicherzustellen. Begleitet von heftigen Auseinandersetzungen über die weitere Richtung der Kernenergieentwicklung in der DDR fasste die Staatliche Plankommission 1965 den Beschluss, die Hauptkomponenten von Kernkraftwerken komplett aus der Sowjetunion zu importieren. Mit der Errichtung der Kernkraftwerke Greifswald und Stendal wurde der Beschluss umgesetzt.

Den gebührenden Raum erhalten in Reicherts Darstellung Planung, Errichtung und Betrieb der kerntechnischen Großanlagen, also der Kernkraftwerke Rheinsberg, Greifswald und Stendal, der Anlagen zur Refabrikation und Fabrikation von Brennelementen (Komplex 04 und 05) und des Endlagers Morsleben. Nach der weitgehend fristgerechten Inbetriebnahme der ersten vier Reaktorblöcke in Greifswald, kam der weitere Ausbau der Kernkraftwerke nach 1979 vollständig ins Stocken. Qualitätsmängel der deutschen und sowjetischen Ausrüstungsteile, Lieferschwierigkeiten der Sowjetunion, ständige Projektänderungen und Organisationsmängel auf den Kernkraftwerksbaustellen behinderten den Baufortschritt. In krassem Gegensatz zur Stagnation im Kraftwerksbau standen die ehrgeizigen und unrealistischen Planungen zur weiteren Nutzung der Kernenergie in der DDR. Die Diskrepanz zwischen industrieller Leistungsfähigkeit und Energieplanung konnte in den 80er Jahren kaum größer sein.

Diese Probleme im Kraftwerksbau wurden überlagert durch Betriebsstörungen und unerwartet frühe Verschleißerscheinungen zentraler Ausrüstungsteile. Sie erforderten einen erheblichen Aufwand an eigener Forschung und Entwicklung von den Betreibern. Aufschlussreich sind dabei Reicherts Ausführungen über die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Hier unterfüttert er seine Ausgangsthese, in der er Probleme der Kernenergieentwicklung in der DDR auf die Abhängigkeit von sowjetischen Importen zurückführte, mit überzeugenden Argumenten. Langwierige Verhandlungen, Lieferschwierigkeiten, Projektänderungen, Kostensteigerungen machten einen reibungslosen Bau und Betrieb der Kernkraftwerke unmöglich. Reichert kommt zu dem Schluss: "Ohne eigene Kapazitäten im Reaktor- und Turbinenbau wurde die DDR zum Spielball sowjetischer Interessen" (S. 355). Wenn Reichert der schwierigen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion so viel Gewicht einräumt, so folgt er der Selbsteinschätzung der historischen Akteure, lag doch aus ihrer Sicht die Verantwortung vieler Probleme beim Kraftwerksbetrieb auf Seiten des sowjetischen Partners 2.

Durch einen Exkurs über die Kernenergieentwicklung in der CSSR gewinnt die Untersuchung weiter an analytischer Tiefe. Denn hier werden die Handlungsspielräume in den Ländern des sowjetischen Einflussbereichs deutlich: Die tschechoslowakische Kernenergiewirtschaft stand in den achtziger Jahren durch großes eigenes Engagement bei der Eigenentwicklung von Reaktoren weit besser da als die ostdeutsche. Allerdings bleibt die Frage offen, ob damit nicht noch erheblich größere volkswirtschaftliche Belastungen verbunden waren als in der DDR. Reichert bleibt damit in dem Dilemma der Kernenergiewirtschaft der DDR stecken: Auf der einen Seite belegt er überzeugend die begrenzten Möglichkeiten der DDR-Industrie, eine eigenständige Fertigung von Hauptausrüstungen für Kernkraftwerke voranzutreiben. Andererseits sieht er in dem wirtschaftlich gut begründeten Rückzug der DDR-Industrie den Hauptgrund für die weiteren Schwierigkeiten beim Aufbau und Betrieb der Kernkraftwerke. So bedauerlich auch die Zurückhaltung der DDR-Industrie in der Kernenergiewirtschaft aus Sicht der Kernenergetiker gewesen sein mag, so gut ließ sie sich volkswirtschaftlich begründen.

Die Katastrophe von Tschernobyl bildete einen tiefen Einschnitt für die Kernenergiewirtschaft im RGW. Die Sicherheitsproblematik erhielt einen ganz neuen Stellenwert. Die Sowjetunion übergab Empfehlungen zur Verbesserung des Betriebes von Atomkraftwerken. Darin waren eine erweiterte Anlagenüberwachung, die Durchführung von Rekonstruktionsmaßnahmen, eine Verbesserung der Betriebsführung und der Handlungssicherheit der Mitarbeiter vorgesehen. Ein neuer Reaktortyp sollte dann das Sicherheitsniveau neuer Kernkraftwerke sowjetischer Entwicklung insgesamt heben.

So intensiv auch sowjetische und deutsche Fachleute intern Strategien zur Erhöhung der Sicherheit der Kernkraftwerke in der DDR entwickelten, so zurückhaltend blieb dagegen die Informationspolitik gegenüber der Bevölkerung. Verspätete und verharmlosende Berichterstattung verstärkten Argwohn und Misstrauen gegenüber öffiziösen Verlautbarungen. Tschernobyl bildete dadurch einen Katalysator für die Entstehung einer Antikernkraftbewegung. Reichert skizziert deren Entwicklung im Kontext der Umweltbewegung der DDR. Zurecht weist er darauf hin, dass angesichts ernster Bedrohungen durch die Staatsmacht Forderungen nach Demokratisierung und Partizipation die Umweltbewegung prägten - im Unterschied zur Bundesrepublik, wo die Anti-AKW-Bewegung immer wieder auch der Faszination intellektueller Abenteuer beim Entdecken unerkannter Gefahren erlag.

Die Umweltbewegung der DDR gelangte im Zuge der politischen Umwälzungen 1989/1990 am Runden Tisch in Positionen politischer Verantwortung. Hier formulierten sie in Gutachten erhebliche Sicherheitsbedenken gegen die Kernkraftwerke der DDR und forderten deren Abschaltung. Überzeugend legt Reichert dar, wie sich dabei die Interessen der Anti-AKW-Bewegung mit den Interessen der westlichen Energieversorgungsunternehmen zu Lasten der Atomwirtschaft trafen. Bei der Neuordnung der Energieversorgung in den neuen Bundesländern waren letztere nicht bereit, die Kernkraftwerke zu übernehmen und weiter zu betreiben. 1991 folgte endgültig die Abschaltung. Bedenkenswert, möglicherweise aber auch der Korrektur bedürftig ist allerdings seine These, die westdeutsche Anti-AKW-Bewegung habe mit der Abschaltung in Greifswald einen gesamtdeutschen Ausstieg aus der Kernenergie einleiten wollen. Es stellt sich die Frage, ob dabei nicht die Rolle der Umweltbewegung insgesamt überschätzt wird.

Reichert wirft mit seiner Fallstudie zur Geschichte der Kernenergiewirtschaft in der DDR wirtschaftshistorische Fragen auf, die auch weiter die historische Forschungsdebatte bestimmen werden: Er zeichnet die Verengung politischer Handlungsspielräume nach. Dies führte dazu, dass Defizite beim Bau und Betrieb der Kraftwerke der politischen Führung bekannt waren, allerdings keine wirkungsvollen Instrumente im Rahmen des planwirtschaftlichen Systems dagegen entwickelt werden konnten. Daraus folgte eine zunehmende Diskrepanz zwischen energiepolitischer Planung und dem Zustand der Energiewirtschaft.

Reichert differenziert klar zwischen technischer und ökonomischer Leistungsfähigkeit und setzt dadurch einen willkommenen Akzent gegenüber dem Stereotyp der "Innovationsschwäche" der DDR-Wirtschaft. Natürlich gab es bemerkenswerte technologische Einzelleistungen, wodurch allerdings Fehlentwicklungen in ökonomischer Hinsicht nicht notwendig ausgeschlossen sind.

Reichert sieht in der Abhängigkeit von sowjetischen Entwicklungsleistungen und Importen den eigentlichen Grund für Schwierigkeiten der Kernenergiewirtschaft in der DDR. Daneben verweist er auf Kapazitätsengpässe und Qualitätsmängel in den Zulieferbetrieben der DDR. In beiden Punkten folgt er zeitgenössischen Einschätzungen durch die wissenschaftlich-technischen Fachleute. In weiteren Studien wird zu klären sein, wie weit die nicht nur die politische, sondern auch die wirtschaftliche Abhängigkeit von der Sowjetunion die Entwicklung der DDR bestimmte. Begrüßenswert wären hierzu auch ergänzende Studien, die die sowjetische Sicht der Dinge darlegte.

Die letzten Bemerkungen machen bereits deutlich: Reicherts umfassende Darstellung der Geschichte der Kernenergiewirtschaft der DDR leistet weit mehr als man von einer engen branchenspezifischen Geschichte erwarten würde - sie enthält zahlreiche Anregungen für weitere historisch fundierte Untersuchungen der Wirtschafts- und Technikentwicklung.

Anmerkungen:
1 Bähr, Johannes / Petzina, Dietmar (Hgg.): Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen. Vergleichende Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 48), Berlin 1996; Baar, Lothar / Petzina, Dietmar (Hgg.): Deutsch-Deutsche Wirtschaft 1945 bis 1990. Strukturveränderungen, Innovationen und regionaler Wandel. Ein Vergleich, St. Katharinen 2000.
2 Vgl. dazu die Darstellungen von Fachleuten der Kernenergiewirtschaft der DDR: Beiträge zur Geschichte der Kernenergie in der DDR, hrsg. vom VKTA Rossendorf e.V. unter redaktioneller Leitung von Peter Liewers u.a., Berlin: Peter Lang (im Erscheinen).

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