Cover
Titel
Geschichte und Psychoanalyse.


Autor(en)
Rattner, Josef; Danzer, Gerhard
Reihe
Enzyklopädie der Psychoanalyse 7
Erschienen
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gudrun Brockhaus, München

Wie stehen Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse zueinander? Der Titel des von Josef Rattner und Gerhard Danzer gemeinsam verfassten Bandes „Geschichte und Psychoanalyse“ stellt eine Klärung des Verhältnisses dieser Disziplinen in Aussicht. Die Autoren beabsichtigen, „Parallelen zwischen Tiefenpsychologie und Geschichtsschreibung zu ziehen sowie die Methoden und Praktiken beider Forschungsweisen zu vergleichen“ (so die Angabe auf der hinteren Umschlagseite des Buchs).

Rattner und Danzer beginnen mit einer überaus skeptischen Beurteilung der Chancen einer Zusammenarbeit: „Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass Historiographie und Psychoanalyse zwei disparate Wissenschaften sind, die man kaum zusammenbringen kann.“ (S. 7) Dies führen sie auf das naturwissenschaftliche Selbstverständnis Freuds zurück und sehen deshalb ihren Nachweis von Parallelen zwischen Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft als erstaunliche Entdeckung an. Die entgegengesetzte Einschätzung erscheint einleuchtender: Zunächst imponiert die Ähnlichkeit des historischen Vorgehens in Psychoanalyse und Historiographie; dann jedoch erstaunt die wechselseitige Ignoranz der beiden Disziplinen, die die heutige Forschungsrealität prägt. So sehen es zum Beispiel Jörn Rüsen und Jürgen Straub: „Psychoanalyse und historisches Denken stehen in einem engen Zusammenhang. Dieser Zusammenhang müßte eigentlich eine intensive Zusammenarbeit der fachlich zuständigen Disziplinen selbstverständlich machen. Das Gegenteil ist der Fall.“1 Historiker beklagen das Desinteresse der Psychoanalyse für den über die individuelle und die Familien-Geschichte hinausweisenden historischen Kontext, Psychoanalytiker die Ignoranz der Geschichtswissenschaft gegenüber psychischen Motiven und unbewussten Konfliktlagen.

Dabei hatte die Geschichte einer möglichen Zusammenarbeit verheißungsvoll begonnen. 1932 veröffentlichte Max Horkheimer im ersten Band der „Zeitschrift für Sozialforschung“ einen programmatischen Text „Geschichte und Psychologie“. Darin bezeichnete er das Verhältnis beider Disziplinen als „viel erörtert“ und sprach von „berühmten Diskussionen“. Er schrieb der modernen Psychologie – so nannte er die Psychoanalyse – den Status einer unentbehrlichen Hilfswissenschaft der Geschichte zu.2 Rund 40 Jahre später kam Hans-Ulrich Wehler in dem von ihm herausgegebenen Band „Geschichte und Psychoanalyse“ dagegen zu einer negativeren Einschätzung der Bedeutung der Psychoanalyse für die Geschichtswissenschaft, jedenfalls soweit sie Individualpsychologie bleibe.3

Nach wiederum 40 Jahren weckt das Buch von Rattner und Danzer mit demselben Titel nun die Erwartung, der Leser finde die Entwicklungen der letzten Dekaden beschrieben. Das Ziel des Buches ist jedoch ein anderes: Wie in seinen früheren Arbeiten will Rattner hier ein humanistisches Credo unter die Menschen bringen. Er vertritt einen religionskritischen, das Wort Sozialismus nicht scheuenden, auf philosophische und geistige Persönlichkeitsbildung setzenden pädagogischen Impetus, in dessen Mittelpunkt das „Miteinander leben Lernen“ steht (so der Titel der von ihm herausgegebenen Zeitschrift). Im Unterschied zur klassischen Analyse in der Nachfolge Freuds ist ihm die positive Botschaft wichtig. Vielleicht kann man das Festhalten an diesen Idealen mit seiner Lebensgeschichte als Kind einer nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 in die Schweiz emigrierten jüdischen Familie zusammenbringen. Rattner möchte sich bei allen katastrophischen Erfahrungen der jüngeren Geschichte – so wird es auch aus dem von ihm allein verfassten Schlusskapitel deutlich – die Hoffnung nicht nehmen lassen, und dieses Beharren auf dem Optimismus beeindruckt.

Wer das Buch an dem durch Titel und Einleitung formulierten Anspruch liest, kann jedoch nur enttäuscht werden. Es enthält keine argumentative Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Positionen, die die Zusammenarbeit der Disziplinen reflektieren – Horkheimer, Wehler oder die profunden Diskussionen des Verhältnisses von Psychoanalyse und Geschichtswissenschaften etwa durch Alexander von Plato4 werden gar nicht erwähnt. Ebenso fehlen Bezüge auf aktuelle psychoanalytische oder geschichtswissenschaftliche Arbeiten – solche werden höchstens genannt, um ihre Umfänglichkeit zu kritisieren. Die kurze Literaturauswahl legt das Hauptgewicht auf Autoren des 19. Jahrhunderts sowie auf Texte aus den frühen 1960er-Jahren. Dieser Zeit sind Rattner und Danzer auch im ganzen argumentativen Duktus verhaftet (zum Beispiel in der Einteilung der Wissenschaften in Geistes- und Naturwissenschaften oder in dem mandarinhaften Gestus, mit dem die Menschheitsgeschichte ohne Selbstzweifel überblickt und eingeordnet wird).

Von der Psychoanalyse bzw. Tiefenpsychologie – diese Begriffe verwenden Rattner und Danzer synonym – sind ihnen nur der „Meister“ Sigmund Freud, Erich Fromm und insbesondere Alfred Adler ausführliche Würdigungen wert. Die moderne Psychoanalyse zeihen sie der „geistige[n] Stagnation und Sterilität“ (S. 53). Sie habe Verrat an den „großen Ambitionen der Pioniere der Tiefenpsychologie“ begangen. Freud, Adler, Jung und Fromm „wollten Kultur und Gesellschaft im Sinne der Humanität umwandeln“ (ebd.). Damit ist das zentrale Ziel des Buches beschrieben: Es ist ein durchaus mit Sendungsbewusstsein verfasstes Plädoyer für eine humanistische Wandlung der Menschheitsgeschichte.

Mit großen Schritten durchschreiten die Autoren in der ersten Hälfte des Buches die Jahrhunderte. Historiographische und psychoanalytische Positionen werden skizziert, in das eigene Programm eingeordnet und bewertet. Das erste Kapitel befasst sich mit Geschichtsphilosophie und trägt schon im Titel das Anliegen vor: „Plädoyer für eine radikalhumanistische Geschichtsphilosophie“ (S. 9-26). Die Entwicklung der Geschichtsphilosophie wird mit den Namen Voltaire, Hegel, Burckhardt, Spengler, Toynbee und Jaspers verbunden sowie als „Verlust der radikal-humanistischen Anfänge in Richtung auf eine resignative Geschichtsdeutung“ bewertet (S. 26). Diesem Muster, die eigenen Wertvorstellungen ziemlich umstandslos als Beurteilungsgrundlage zu nehmen, folgen auch die Kapitel über Freud, Adler und Fromm. Die Lebensberatung übertönt das Interesse an Argumentation und Analyse. Es mag auch das Bemühen um Allgemeinverständlichkeit sein, welches zusätzlich die Gefahr von Banalität und schlichtem Predigerton erhöht: „Man sollte verstehen lernen, dass Mitmenschlichkeit das A und O des Menschenlebens ist.“ (S. 63)

Dabei begreifen sich die Autoren selbst als Kritiker jedweder ideologischer Systeme und kommen deshalb zu einem kritischen Resümee der Arbeiten Erich Fromms: „Die Vermischung von Wissenschaft und Erbauung macht mitunter einen kläglichen Eindruck.“ (S. 86) So erfrischend und direkt dieses Urteil anmutet – es trifft auf Rattner und Danzer ebenso zu.

Wehler hatte 1971 darauf verwiesen, welch wesentliche Analogie der Disziplinen in der unhintergehbaren Subjektivität des historischen Verstehensprozesses liegt: „Historikern und Psychoanalytikern ist gemeinsam, daß sie selber gewissermaßen das Instrument des Verstehens – sei es eines historischen Individuums oder eines Patienten – darstellen.“5 Die Reflexion der Motive, Mentalitäten, Emotionen, die Verstehensprozesse beeinflussen, macht die besondere Qualität des psychoanalytischen Vorgehens aus – formuliert in den Begriffen von Widerstands-, Übertragungs-Gegenübertragungs-Analyse und szenischem Verstehen. Deshalb wartet man nach den generalisierenden Betrachtungen der ersten Kapitel darauf, wie sich die konkreten Vorschläge für eine fruchtbare Zusammenarbeit von Geschichte und Psychoanalyse ausnehmen, handelt es sich bei Rattner doch um einen Psychotherapeuten mit jahrzehntelanger Erfahrung. Er formte die Psychoanalyse Adlerscher Prägung zu einer eigenständigen Lehre um und erhielt in Berlin das Modell der therapeutischen Großgruppe lebendig, das vor allem im Nachhall der Studentenbewegung in den 1970er-Jahren viele Menschen anzog.

Und wirklich enthalten die „Anregungen zu einer psychoanalytisch inspirierten Historiographie und Geschichtsphilosophie“ (S. 123-146) die interessantesten Seiten des Buches. Von der Psychoanalyse könnte die Geschichtswissenschaft nach Rattner und Danzer etwas über die Bedeutung der Leiblichkeit und der Sexualität lernen, über die Rolle der Aggression und der Lebensangst. Die Geschichte ließe sich als Geschichte der jeweils dominierenden Abwehrmechanismen schreiben; die Erkenntnisse der Neurosenlehre könnten – mit Vorsicht – auf die Frage charakteristischer Gefühlslagen unterschiedlicher historischer Epochen bezogen werden, wie es zum Beispiel Johan Huizinga schon 1919 in „Herbst des Mittelalters“ getan habe. Ökonomische und historische Phänomene in der Aufstiegsphase des Nationalsozialismus ließen sich „ebenso gut in den Begriffen des nationalen Minderwertigkeitsgefühls beschreiben, für das Hitler und seine Partei wahnhafte Kompensations- und Überkompensationsmöglichkeiten anboten“ (S. 131). Das sind anregende, jedoch sehr kursorisch bleibende Bemerkungen.

„Geschichte und Psychoanalyse“ lässt die an einer fundierten interdisziplinären Diskussion Interessierten weiter warten. Vorerst müssen wir uns mit der Analyse von Jürgen Straub behelfen, der die Potenziale einer Zusammenarbeit luzide und programmatisch charakterisiert hat.6

Anmerkungen:
1 Jörn Rüsen / Jürgen Straub, Vorwort der Herausgeber, in: dies. (Hrsg.), Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein, Frankfurt am Main 1998, S. 9ff., hier S. 9.
2 Max Horkheimer, Geschichte und Psychologie, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1 (1932), S. 125-144.
3 Hans-Ulrich Wehler, Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse, in: ders. (Hrsg.), Geschichte und Psychoanalyse, Köln 1971, S. 9-30.
4 Alexander von Plato, Geschichte und Psychologie – Oral History und Psychoanalyse. Problemaufriss und Literaturüberblick, in: Forum Qualitative Sozialforschung 5 (2004) H. 1, online unter <http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/656/1421> (23.4.2011).
5 Wehler, Verhältnis, S. 16.
6 Jürgen Straub, Psychoanalyse, Geschichte und Geschichtswissenschaft. Eine Einführung in systematischer Absicht, in: Rüsen / Straub, Die dunkle Spur, S. 12-32.

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