Douglas E. Mitchell u.a. (Hrsg.): Shaping Education Policy

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Titel
Shaping Education Policy. Power and Process


Herausgeber
Mitchell, Douglas E.; Crowson, Robert L.; Shipps, Dorothy
Erschienen
London 2011: Routledge
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 47,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Anne Bosche, Institut für Erziehunsgwissenschaft, Universität Zürich Email:

In der zeitgeschichtlichen Forschung herrscht mehr oder weniger Einigkeit darüber, dass die 1950er- bis 1980er-Jahre international von einer gesellschaftlichen Aufbruchstimmung gekennzeichnet waren, in der die Gestaltung der Zukunft an Bedeutung gewann.1 Im deutschsprachigen Raum existiert für den bildungshistorischen Bereich mit „Bildungsexpansion“ sogar ein eigener Epochenbegriff, um die Sonderstellung dieser Phase herauszustreichen. Trotzdem lassen sich eher Forschungsdesiderate als Forschungsergebnisse für diese Jahrzehnte ausmachen. Zwar wird ein bildungspolitischer Wandel im Rekurs auf internationale Ereignisse und demographische Veränderungen („Sputnik-Schock“, „Babyboom“), die aufkommende politische Bildungsplanung sowie die zahlreichen Bildungsreformen („Gesamtschule“, „Bildungsplan“) häufig postuliert. Eine Überprüfung der tatsächlichen Wirkung solcher Ereignisse und Entwicklungen auf bildungspolitische Prozesse hingegen bleibt ebenso aus wie die Untersuchung von Ablauf und Wirkung einzelner Bildungsreformen im Sinne einer Feinanalyse.2

So ist es grundsätzlich zu begrüßen, wenn sich ein Autorenteam, wie in dem hier rezensierten Sammelband, explizit dem bildungspolitischen Wandel im US-amerikanischen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg widmet. Allerdings vermag keiner der sehr heterogenen Beiträge mehr Erkenntnisse über bildungspolitische Prozesse im Zusammenhang etwa der aufkommenden Politikberatung, der Bildungsplanung oder anderer gesellschaftlicher Entwicklungen zu generieren. Dies ist im Wesentlichen durch zwei korrespondierende Gründe zu erklären:
Zum einen sind die Herausgeber und Autoren des Sammelbands keine Historiker. Stattdessen werden namhafte Forscher aus dem Bereich der zeitgenössischen bildungspolitischen Forschung versammelt. Allesamt sind über die „politics of education association“ (PEA) – einer Sektion der amerikanischen Gesellschaft für Bildungsforschung – miteinander verbunden. Gerade die Tatsache, dass die PEA Ende der 1960er-Jahre gegründet wurde, also ein Kind des Forschungszeitraums des Sammelbandes ist, lässt eine Erforschung der Tätigkeit und der bildungspolitischen Rolle dieser association erhoffen. Keiner der Beiträge thematisiert aber die PEA, obwohl ein Fokus auf ihre Forschungsarbeiten und Beziehungen zur Bildungspolitik naheliegend wäre.

Zum anderen sind die Autoren mehr an der aktuellen Bildungspolitik interessiert als an ihrer bildungshistorischen Aufarbeitung. Nur so ist der Aufbau des Buches zu verstehen. Den historischen Grundlagen im engeren Sinne wird nur das erste Kapitel gewidmet; danach stehen Fallanalysen im Zentrum, die sich inhaltlich an aktuellen bildungspolitischen Themen orientieren: Es gibt vor allem Beiträge zu den Themengebieten Globalisierung, Leistungsmessung, Effektivität und Marktsteuerung.

Das selbstgesetzte Ziel des Sammelbands ist es, den politischen Wandel hin zu aktuellen Zentralisierungsbestrebungen und zu Leistungsmessungen zu erklären. Dieser Wandel, der sich in den letzten gut sechzig Jahren vollzog, sei gekennzeichnet durch überraschende Wendungen und „tumultuous waves“, so Douglas Mitchell in dem ersten Kapitel (S. 3). Dass dieser Wandel durch die tatsächliche Analyse der bildungspolitischen Prozesse und Wirkungsmechanismen weniger überraschend erscheinen könnte, wird übersehen.

Trotz der fehlenden historischen Analysen liefern einige Beiträge des Sammelbands interessante – wenn auch keine neuen – Perspektiven auf das bildungspolitische Forschungsfeld. So erklärt Douglas Mitchell etwa den politischen Wandel mit der Beteiligung verschiedener Akteure, die sich an je unterschiedlichen Paradigmen und Wertsystemen orientieren. Angelehnt an Modelle aus der politologischen Forschung werden variierende Problemidentifikationen und Lösungsoptionen mit verschiedenen Wertorientierungen beteiligter Akteure in Verbindung gebracht. Betty Malen stellt in ihrem Beitrag den Wirkungszusammenhang der Zentralisierung der politischen Steuerung und der Leistungssteigerung des Bildungssystems in Frage. Nach der Rezeption zahlreicher Studien kommt sie zu folgendem nüchternen Ergebnis: „While education policies have had various effects, governance shifts, in and of themselves do not appear to have had a major impact on school operations and outcomes.“ (S. 28)3

Cohen und Moffit orientieren sich in ihrem Beitrag zwar an der klassischen Steuerungstheorie, drehen die Perspektive aber um, indem sie fragen, welche Auswirkungen zum einen die Schul- und zum anderen die Implementationspraxis auf die Politik haben. So werden etwa die eher „weiche“ Steuerungsstruktur und die dadurch fehlende Möglichkeit der direkten politischen Einflussnahme auf die pädagogische Praxis als Ursachen für die Einführung von Leistungsmessungen vorgebracht. Durch das Testen versuche die Politik, der Praxis grundlegende Systeminformationen zu liefern, damit diese sich im Anschluss selbst entsprechend verändert. Sowohl die fehlenden strukturellen Bedingungen in der Praxis als auch die unterschiedlichen Zielvorgaben der Politik werden als Ursachen der nicht-funktionierenden Steuerung angeführt.

Nicht-intendierte Folgen von politischer Steuerung werden in verschiedenen Beiträgen durch die fehlende Passung von politischer Zielsetzung und dem gewählten Steuerungsinstrument erklärt. Als Beispiel einer solchen nicht-intendierten Folge dienen Leistungsmessungen, deren Ergebnisse ein Thema erst zu einem Thema machen können und somit wiederum die Politik und deren Zielsetzungen beeinflussen.

Heinz-Dieter Meyer zieht sowohl den Neoinstitutionalismus als auch den Ansatz der Pfadabhängigkeit bei, um die Grenzen einer globalen Angleichung der Bildungssysteme zu zeigen. Entgegen der häufig mit neoinstitutionalistischen Ansätzen in Verbindung gebrachten Isomorphie-These argumentiert Meyer, dass es historisch bedingt länderspezifische Vorstellungen darüber gebe, was Schule in erster Linie zu leisten hat und wie Schule organisiert sein soll. So ebnen politische Entscheidungen einen bestimmten Pfad: Man könne den Pfad zwar mit jeder neuen Entscheidung in eine andere Richtung lenken. Der Ausgangspunkt sei aber unwiderruflich festgelegt.

Mit einem ähnlichen theoretischen Ansatz fokussieren Hannaway und Mittleman das Thema der Lehrer- und Schülerleistung. In der US-amerikanischen Bildungspolitik wird aktuell die Forderung nach der Kopplung der Lehrerlöhne an die Schülerleistung virulent. Obwohl zahlreiche Studien die Annahme bestreiten, dass sich auf diese Weise der Unterricht verbessern ließe, wird sie bildungspolitisch weiterhin prominent vertreten.

Ausgehend von gesellschaftspolitischen und technologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte stellen Plank und Johnson deren Auswirkungen auf die Curricula dar. Neben der Entstehung eines nationalen Curriculums wird der Wandel der Relevanz einiger Fächer thematisiert – Mathematik sei, so die Autoren, in den letzten Jahrzehnten zum neuen Latein geworden.

Dem Sammelband geht es also weniger um detaillierte historische Analysen bildungspolitischer Prozesse. Vielmehr zielt er auf eine historisch informierte politische Positionierung zu aktuellen Fragen und Themen der US-amerikanischen Bildungspolitik. Da aber einige Autoren Forschungsergebnisse zu verschiedenen bildungspolitischen Reformen sammeln und gegeneinander abwägen, bietet der Sammelband einen reichhaltigen Fundus an Studien, die sich wiederum auch historisch fruchtbar machen lassen. Zudem liefert er einen aktuellen Kenntnisstand zur Entwicklung des amerikanischen Bildungswesens mit dem Schwerpunkt auf den letzten fünfzehn Jahren.

Eine theoretisch anspruchsvolle und empirisch genaue Analyse der bildungshistorischen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg vermag der Band nicht zu liefern. Der Zeitraum bietet eine Fülle an Anknüpfungspunkten für interdisziplinär ausgerichtete Forschungsprojekte, die historische, politologische und soziologische Ansätze kombinieren. So ließen sich mit einer interdisziplinären Perspektive auch Untersuchungen zu Themenfeldern wie der Politikberatung oder der Implementationsstudien für den Bildungsbereich nutzbar machen. Für die Bildungsgeschichte ergäben sich spannende Untersuchungen im Hinblick auf die Arbeiten der Bildungsplanungsstellen oder auch im Hinblick auf mikrogeschichtlich angelegte Untersuchungen der Reformprozesse, die unter einer steuerungstheoretischen Perspektive bildungspolitische Zusammenhänge fokussieren. Auf diese Weise könnte zum einen der bildungspolitische Wandel in einen Zusammenhang mit internationalen Ereignissen und demographischen Veränderungen gebracht werden. Zum anderen könnte die Bedeutung verschiedener bildungspolitischer Akteure für Reformprozesse beurteilt sowie die Wirkung der Reformen auf die Schulpraxis überprüft werden.

Anmerkungen:
1 Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft. Paderborn 2005, hier S. 130ff.; Dirk van Laak, Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 305-326, hier S. 321ff.
2 Für die Schweiz liegen erste Ergebnisse vor. Vgl. Lucien Criblez, Die Expansion der Bildungsverwaltung in den 1960er und 1970er Jahren – am Beispiel der Kantone Zürich und Bern, in: Andrea de Vincenti / Michael Geiss (Hrsg.), Verwaltete Schule, VS-Verlag 2012, Im Druck; Karin Manz, Schulkoordination ja – aber nicht so! Die Anfänge der schweizerischen Schulkoordination (1960-1985), Bern 2011.
3 Robert Croninger / Betty Malen, The role of school governance in the creation of school community, in: Kenneth Leithwood / Philip Hallinger (Hrsg.), Second international handbook of educational leadership and administration, Dordrecht 2002, S. 281-320.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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