S.-M. Weitzel: Die Ausstattung von St. Nikolai in Stralsund

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Titel
Die Ausstattung von St. Nikolai in Stralsund. Funktion, Bedeutung und Nutzung einer hansestädtischen Pfarrkirche


Autor(en)
Weitzel, Sabine-Maria
Reihe
Bau + Kunst. Schleswig-Holsteinische Schriften zur Kunstgeschichte 18
Erschienen
Kiel 2011: Verlag Ludwig
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Doris Bulach, Regesta Imperii (Ludwig der Bayer), München

In den letzten Jahren ist der Ostseeraum auch von kunstgeschichtlicher Seite wieder in den Fokus der Forschung gerückt. Dabei entstanden verschiedene Studien, die sich der Baugeschichte einzelner städtischer Kirchen1 und ihren Kapellen2 annäherten, aber zunehmend auch den kirchlichen Innenraum und seine Ausstattung in den Blick nehmen.3 Dies gilt auch für die Arbeit von Sabine-Maria Weitzel, deren Anliegen es ist, anhand der Stralsunder Nikolaikirche „den historisch-gewachsenen Kirchenraum mit seiner liturgischen Ausstattung zu untersuchen“ (S. 17). In der Nikolaikirche, in der sich zahlreiche auch mittelalterliche Ausstattungsstücke erhalten haben, sind bis heute, so Weitzel, „unterschiedliche Raumkonzepte und Liturgieauffassungen simultan präsent“ (S. 21). Bei der Analyse des Kirchenraumes will Weitzel daher auch Fragen nach dem Verhältnis von Raum und Ritual stellen, wofür ihr der relationale Raumbegriff von Martina Löw geeignet erscheint. Außer in ihrer Einleitung greift sie diese Ansätze und Fragen aber kaum wieder auf, auch in den Schlussbetrachtungen findet man hier keine Antworten.

Für ihre Untersuchung der Nikolaikirche bezieht Weitzel außer den noch erhaltenen und überlieferten Ausstattungsstücken auch zahlreiche nicht edierte schriftliche Quellen bis weit in die Neuzeit mit ein, was für eine kunsthistorische Arbeit nicht selbstverständlich ist und deshalb hier als gelungen hervorgehoben werden soll. Insgesamt neun ihrer Archivfunde werden im Anhang transkribiert wiedergegeben, darunter die Visitationsprotokolle für die Nikolaikirche von 1612/13 und 1617 und verschiedene, mittelalterliche Altäre und Zustiftungen betreffende Urkunden. Insgesamt drei beigefügte Pläne von St. Nikolai veranschaulichen anhand von Eintragungen die Binnentopographie der Kirche bis zur Reformation, nach der Reformation bis um 1840 und heute. Abgerundet wird der Band durch ein Personen- und Ortsregister und zahlreiche Abbildungen in sehr guter Qualität.

Im Hauptteil ihrer Studie, dem die Einleitung vor- und eine knappe, kaum vierseitige „Schlussbetrachtung“ nachgestellt sind, steht die Binnentopographie der Nikolaikirche im Mittelpunkt. Angefangen mit dem Hochchor werden in weiteren einzelnen Kapiteln die Sakristeiräume, das Mittelschiff, private und öffentliche Kapellen sowie Nebenräume, das Ratsgestühl und die Portale mit ihren Ausstattungsstücken beschrieben und kunstgeschichtlich eingeordnet. Soweit es Quellen und Literatur erlauben, sind dabei sowohl Baudaten und -details als auch die verschiedenen Nutzungshorizonte bis ins 20. Jahrhundert hinein erfasst und beschrieben. Dazu gehört beispielsweise beim Hochchor auch die Frage nach der Zugänglichkeit für Laien, die, wie Weitzel überzeugend zeigt, zumindest an Festtagen positiv beantwortet werden kann.

Soweit möglich, erfasst Sabine Weitzel innerhalb der verschiedenen Kapitel alle überlieferten und zum Teil heute noch vorhandenen mittelalterlichen Altarretabel und verfolgt dabei auch ihre nachreformatorischen „Wanderungen“ durch den Kirchenraum. So fand beispielsweise ein Retabel aus einer Familienkapelle wohl 1548 auf dem nachreformatorischen Hauptaltar Aufstellung, bevor man es 1708 durch einen barocken Aufsatz ersetzte und das nun nicht mehr benötigte Retabel auf unbekanntem Weg in eine rügische Dorfkirche gelangte (S. 120).

Eine ausgiebige Darstellung finden die 56 Nebenaltäre und Privatkapellen der Kirche, wobei hier auf die umfangreichen Vorarbeiten von Antje Grewolls4 zurückgegriffen werden konnte. Weitzels Studie erfasst dabei sowohl Lage, Inhaber sowie Ausstattung der Altäre mit Bildwerken, liturgischem Gerät oder Gewändern. Unter den bis heute noch erhaltenen und bei ihr ausführlich mit Bildprogramm beschriebenen Retabel finden sich dabei neben demjenigen der Bürgermeister vor allem solche von Kaufleute- und Handwerkerkorporationen.

Die liturgischen Handlungen innerhalb der Kirche lässt Weitzel anhand der Quellen zum Hochchor und den dort stattfindenden mittelalterlichen Stundengebeten und Feiern zum Totengedächtnis sichtbar werden.

Die Stralsunder Nikolaikirche lag in unmittelbarer Nachbarschaft zum zentralen Markt der Altstadt und dem Rathaus und wurde daher bevorzugt vom Rat und Ratsmitgliedern, aber auch von den Fernhandels- und Kaufleutekorporationen sowie von zahlreichen Handwerksämtern als Pfarrkirche genutzt, bewusst gestaltet und umgestaltet. Die religiöse Praxis sowie das Repräsentationsbedürfnis der Stadtbürger und -bürgerinnen prägten und prägen den Innenraum der Kirche bis heute. Dies konnte Sabine-Maria Weitzel anhand der Zusammenschau von schriftlichen, baugeschichtlichen, bildlichen und gegenständlichen Quellen über mehr als sieben Jahrhunderte hinweg sehr anschaulich zeigen und damit gleichzeitig die Grundlage für Vergleiche mit anderen Pfarrkirchen der Ostseestädte schaffen.

Anmerkungen:
1 Unter anderem Silke Kossmann, Die Marienkirche in Stralsund und ihre Nachfolge in Mecklenburg und Pommern (Beiträge zur Architekturgeschichte und Denkmalpflege in Mecklenburg und Vorpommern 4), Schwerin 2005; Michael Huyer, Die Stralsunder Nikolaikirche. Die mittelalterliche Baugeschichte und kunstgeschichtliche Stellung. Mit formalanalytischen Betrachtungen zu den Architekturgliedern der Domchöre in Lübeck und Schwerin, der Klosterkirche Doberan und der Pfarrkirchen St. Marien in Lübeck und Rostock (Beiträge zur Architekturgeschichte und Denkmalpflege in Mecklenburg und Vorpommern 5), Schwerin 2005.
2 Antje Grewolls, Die Kapellen der norddeutschen Kirchen im Mittelalter. Architektur und Funktion, Kiel 1999.
3 Juliane von Fircks / Birgit Krentz / Volkmar Herre, Liturgische Gewänder des Mittelalters aus St. Nikolai in Stralsund, Riggisberg 2008.
4 Grewolls, Kapellen der norddeutschen Kirchen, wie Anm. 2.