H. Ahlheim: »Deutsche, kauft nicht bei Juden!«

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Titel
»Deutsche, kauft nicht bei Juden!«. Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935


Autor(en)
Ahlheim, Hannah
Erschienen
Göttingen 2011: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Heusler, Stadtarchiv München

Fast ist man versucht, die Studie von Hanna Ahlheim als historiographischen Ladenhüter zurück ins Regal zu stellen, als wissenschaftliches Auslaufmodell, das eine vermeintlich überholte Fragestellung in den Blickpunkt rückt und hinlänglich bekannte Antworten liefert. Folgt man dem Klappentext, geht es in der 2008 an der Ruhr-Universität Bochum als geschichtswissenschaftliche Dissertation vorgelegten Arbeit um den Antisemitismus der NSDAP, seine regionalen Ausprägungen und deren Indienstnahme für die propagandistische und politische Praxis der Partei. Überwindet man die anfängliche Skepsis und bequemt sich zur Lektüre, wird schon nach wenigen Seiten klar, dass man es hier mit einer durchaus anregenden, analytisch weiterführenden und – über weite Strecken – sprachlich eleganten Publikation zu tun hat, die man nur ungern wieder aus der Hand legt.

Ziel der Arbeit ist es, "die spezifischen Bedingungen, Veränderungen und Entwicklungen antisemitischen Denkens und Handelns in der Weimarer Republik und in den ersten Jahren des Nationalsozialismus am Beispiel des 'politischen Boykotts'" (S. 42) darzustellen und zu analysieren. Die zentrale Forschungsperspektive des ambitionierten Unternehmens richtet sich auf die Alltagsphänomene und Erscheinungsformen des Antisemitismus auf der lokalen und regionalen Ebene. Mit einer Fülle detailreich und anschaulich präsentierter Einzelfälle (die freilich mitunter den Eindruck vermeidbarer Redundanz hervorrufen) wird eine aggressive judenfeindliche Agitation örtlicher Parteieliten in den Jahren nach 1924 dokumentiert. Der Befund einer lokalen, oftmals ungeregelten und anarchischen Dynamik des Antisemitismus begreift sich als komplementäre These zu der in der Forschung weithin akzeptierten Annahme eines gebremsten und vordergründig "legalistisch" ausgerichteten Antisemitismus, wie er von der Parteiführung der NSDAP und vor allem auch seitens des Reichswirtschaftsministeriums propagiert und praktiziert wurde.

Bei ihrer Betrachtung geht es Ahlheim ausdrücklich auch um die Erfahrungsebene der von antisemitischer Agitation Betroffenen und um die Interaktion zwischen den Akteuren, sprich: um das Verhältnis zwischen den Urhebern judenfeindlicher Aktionen und deren diskreditierten Zielpersonen. Vor allem im Hinblick auf die Weimarer Jahre erweist sich diese Doppelperspektive als fruchtbar. Die Betrachtung der Wechselwirkung und Aufeinanderbezogenheit von Propagandisten und Opfern des Antisemitismus, vor allem aber die Frage nach der Konsequenz antisemitischer Agitation für die Selbstwahrnehmung, für das Selbstbild der Betroffenen, zeigt eine Tiefenwirkung antisemitischer Praxis, wie sie in dieser Eindringlichkeit bislang noch nicht dargestellt worden ist. Ahlheim begrenzt ihre Analyse dabei nicht auf stereotype Pauschalurteile, sondern ist sich der Unterschiedlichkeit und mitunter auch Widersprüchlichkeit jüdischer Standpunkte hinsichtlich Ausgrenzung und Diskreditierung durchaus bewusst. Dank der Auswertung bislang noch unberücksichtigt gebliebener Quellen – dazu zählen insbesondere Periodika, Memoirenliteratur, zeitgenössische Denkschriften sowie über das "Sonderarchiv Moskau" und das "Central Archive for the History of the Jewish People" (Jerusalem) neu erschlossene Akten des "Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" – gelingt es Ahlheim, die multiplen Einstellungen innerhalb der jüdischen Minderheit und deren Wechselwirkung mit antisemitischen Phänomenen herauszuarbeiten.

Im Vergleich zu diesen ertragreichen Einblicken verliert die im Klappentext annoncierte Leitfrage nach dem antisemitischen Profil der NSDAP vor und nach der "Machtergreifung" deutlich an Schwung. Gerade hier hätte man sich jedoch neue Akzentuierungen gewünscht, zumal die Frage nach der Bedeutung des nationalsozialistischen Judenhasses in der "Kampfzeit" und nach seiner wähler- und mitgliederstimulierenden Wirkung in der Forschung durchaus widersprüchlich gesehen wird. Bereits 1990 versuchte der israelische Historiker Oded Heilbronner mittels einer regionalgeschichtlich angelegten Untersuchung nachzuweisen, dass nicht der Antisemitismus das propagandistische und aktivistische Leitmotiv der NSDAP-Gliederung vor Ort war, sondern vielmehr eine signifikant antimarxistische und antikommunistische Zielsetzung.1 Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch jüngere Darstellungen. Nach Michael Mayer hatte der Antisemitismus in den Jahren nach 1925 "nunmehr eine additive Funktion in der Weltanschauung der Partei".2 Der Aufstieg des Nationalsozialismus vollzog sich nach dieser Lesart nur zu einem geringen Teil auf dem Pfad des Antisemitismus. Diese eher spekulativ denn empirisch unterlegte Auffassung wird nach den Ergebnissen von Ahlheims Arbeit jedenfalls zu überprüfen sein. Vermag sie doch zu zeigen, dass judenfeindliche Stereotypen und mit einem latenten Gewaltpotential durchsetzte antisemitische Haltungen in der deutschen Gesellschaft schon in den ausgehenden 1920er-Jahren nicht nur vorhanden, sondern in erheblichem Umfang von regionalen und lokalen NSDAP-Aktivisten weiter stimuliert werden konnten.

Dennoch und trotz der Erschließung neuer Quellen ist es Ahlheim nicht gelungen, die bislang nebulöse soziale Wirkungsmacht antisemitischer Agitation vor und nach 1933 präziser zu beschreiben. Wie und in welchem Umfang hat diese Agitation Haltung und Verhalten der Mehrheitsgesellschaft beeinflusst und verändert? Ahlheim findet keine überzeugende Antwort auf die Frage nach Erfolg oder Scheitern der lokalen antisemitischen Aktivisten bei der Infiltration bzw. Manipulation einer politisch indifferenten Zivilgesellschaft. Zwar kann sie punktuell wirkungsvolle Ergebnisse nationalsozialistischer Boykottaktionen nachweisen. Ob die Abwendung der Konsumenten von jüdischen Geschäften jedoch ein Impuls innerer Überzeugung oder eine Folge externer Nötigung war, bleibt letztlich offen. Dass bei diesen Vorgängen gerade in den überschaubaren Milieus von Dörfern und Kleinstädten der Faktor der sozialen Kontrolle eine maßgebliche Rolle gespielt haben muss und die Breitenwirkung nationalsozialistischer Agitation eher dem öffentlichen Druck geschuldet war, deutet Ahlheim zwar an. Konkreten Festlegungen zu diesem Phänomen weicht sie jedoch aus.

Kritisch zu sehen ist auch eine problematische Verkürzung des Antisemitismus auf eine – sicherlich nicht unbedeutende – ökonomische Ursprungsformel. Ahlheim interpretiert Antisemitismus als originäres Phänomen des Wirtschaftslebens und koppelt ihn von seinen kulturgeschichtlichen Wurzeln weitgehend ab. Wirkungsstarke xenophobe, judenfeindliche Traditionslinien, wie etwa der christliche Antijudaismus, werden – wenn überhaupt – nur als Marginalie gestreift. Zwar illustriert sie lokale antisemitische Aktivitäten der NSDAP mit zahlreichen interessanten Beispielen. Eine Kontextualisierung dieser Ereignisse im Sinne einer Einordnung in das sozialmoralische, ökonomische und insbesondere auch konfessionelle Umfeld vor Ort unterbleibt indessen.

Trotz dieser Einwände hat Hannah Ahlheim eine inspirierende Studie vorgelegt, die sich in den Kanon der bisherigen Antisemitismusforschung einfügt und unser Verständnis von Ideologie und Praxis aggressiver Judenfeindschaft insbesondere auf der lokalen Ebene durch neue und aufschlussreiche Akzente erweitert.

Anmerkungen:
1 Oded Heilbronner, The Role of Nazi Antisemitism in the Nazi Party's Activity and Propaganda: A Regional Historiographical Study, in: Leo Baeck Institute Yearbook 35 (1990), S. 397-439.
2 Michael Mayer, NSDAP und Antisemitismus 1919-1933. Münchener Wirtschaftswissenschaftliche Beiträge (VWL) 2002-5 (März 2002), http://epub.ub.uni-muenchen.de/9/1/0205_mayer.pdf [05.01.2012], hier S. 19.

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