M. Hurd (Hrsg.): Bordering the Baltic

Titel
Bordering the Baltic. Scandinavian Boundary-Drawing Processes, 1900-2000


Herausgeber
Hurd, Madeleine
Reihe
Nordische Geschichte Bd. 10
Erschienen
Berlin 2011: LIT Verlag
Anzahl Seiten
281 S., 27 Abb.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Krieger, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Der Fall des Eisernen Vorhangs führte im Ostseeraum nicht nur zur Veränderung bestehender und zur Schaffung neuer Staatsgrenzen, sondern damit verbunden auch zu sich wandelnden kollektiven Identitäten und Prozessen der individuellen Selbstverortung. Während die neuen politischen Grenzen auf jeder aktuellen Landkarte ablesbar sind, vollzogen sich Transformationsprozesse im Bereich der Identitätsbildung meist im Verborgenen und sind darüber hinaus längst noch nicht abgeschlossen. Dabei ist heute gerade ein Verständnis dieser „weichen“ Faktoren unerlässlich, helfen sie doch, politische, nationale oder konfessionelle Konfliktpotentiale sichtbar zu machen und im Idealfalle zu beheben.

Seit mehreren Jahren verzeichnet die Grenzforschung an den Hochschulen im Ostseeraum verdientermaßen Konjunktur. Auch der von Madeleine Hurd (Södertörns högskola, Stockholm) herausgegebene Sammelband „Bordering the Baltic. Scandinavian Boundary-Drawing Processes 1900-2000“ zählt zu den Erträgen dieser Bemühungen. Hervorgegangen aus einem internationalen wie interdisziplinären Forschungsvorhaben zum Thema „Enchanted Identities: Rituals, Symbols and Feelings around the Baltic Sea“ umfasst der Band Beiträge, die sich mit der Schnittstelle zwischen Grenzbildung und (Re-)Konstruktion kollektiver Identitäten beschäftigen. Insbesondere geht es um die Wechselwirkung zwischen physischer Grenzziehung und Mentalitäten, sozialen Praktiken sowie kultureller Repräsentation.

„Bordering the Baltic“ ist konzise aufgebaut und gliedert sich in zwei Teile. Während sich der erste Teil mit der mentalen Konstruktion, aber auch der Infragestellung von Grenzen im Norden beschäftigt, untersucht der zweite Teil die Rolle von Minderheiten im Kontext von Grenzbildungsprozessen. Beiden Teilen sind ausführliche Einleitungen der Herausgeberin vorangestellt, die dem Band Struktur verleihen. Teil 1 beginnt mit einer theoretisch-konzeptionellen Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Nation, Grenzen und Grenzräumen (Peter Thaler). Hierzu wählt der Autor den deutsch-dänischen Grenzraum als Beispiel, ohne dabei allerdings stärker in die Tiefe zu gehen. Es folgen Fallbeispiele zu Finnland (Pertti Joenniemi), Nordschleswig (Steffen Werther) und raumübergreifende Beiträge zur Zeit seit dem Fall des Eisernern Vorhangs. So untersuchen Kazimierz Musial die Neukonzeptionalisierung von Grenzen im Ostseeraum seit 1989, Carsten Yndigegn die Grenzfrage vor dem Hintergrund der europäischen Integration und transnationaler Kooperation sowie Mats Lindqvist die sich wandelnde Wirtschafts- und Arbeiterkultur bei modifizierten Grenzregimes. Im zweiten Teil geht es vor dem Hintergrund nationaler Minderheiten um die schwedisch-finnische kulturelle Interaktion (Git Claesson-Pipping und Tom Olsson), um die Bedeutung unterschiedlicher Konfessionen für Identitätsbildungsprozesse (David Thurfjell), um Kirche, Nation und Ethnizität im Norwegen der Zwischenkriegszeit (Rolf Inge Larsen) und um den „Grenzkampf“ in Flensburg von 1919/20 (Madeleine Hurd).

Allein die Themenauswahl macht deutlich, dass es in diesem Band keineswegs in traditioneller Perspektive um rein staatliche Grenzen geht, sondern dass Grenzen hier multiperspektivisch sowohl in politischer als auch in kultureller, konfessioneller und ökonomischer Perspektive betrachtet werden. Dabei kann der Band natürlich keinen ganzheitlichen Überblick liefern, der etwa auch die historische Dimension rechtlicher, polizeilicher oder wissenschaftlicher Kooperation in Grenzregionen mit einschließt.

Die Zusammensetzung der Autorenschaft selbst ist im wahrsten Sinne des Wortes grenzüberschreitend. Das betrifft einerseits die Herkunft der einzelnen Autorinnen und Autoren und andererseits auch die Tatsache, dass sich hier etablierte Forscher mit Nachwuchswissenschaftlern zusammenfinden. Der Band ist in der von Jens E. Olesen im LIT-Verlag herausgegebenen Reihe „Nordische Geschichte“ sehr gut aufgehoben, beteiligt sich doch der Reihenherausgeber maßgeblich am Greifswalder Internationalen Graduiertenkolleg „Baltic Borderlands. Shifting Boundaries of Mind and Culture in the Borderlands of the Baltic Sea Region“ mit einer vergleichbaren inhaltlichen und methodischen Herangehensweise.

Trotz der großen und repräsentativen Breite bildet doch die deutsch-dänische Grenze einen gewissen Schwerpunkt des Bandes. Diese Wahl ist zweifellos nicht unbegründet, rückte doch gerade diese Grenze in jüngster Zeit in den Blick der Öffentlichkeit. Das betrifft nicht allein die unglückliche Debatte um die Wiedereinführung der Grenzkontrollen, sondern auch die historisch belastete Frage um die „Heimführung“ des Idstedter Löwen. Das deutsch-dänische Grenzland macht die Tatsache deutlich, dass Grenzregionen eigenständige Identitäten mit einer dem Zentrum bisweilen entgegengesetzten politischen Selbstverortung hervorbringen, wie das Beispiel der deutschen Minderheit in Nordschleswig in der Zeit des Nationalsozialismus zeigt. In diese Diskussion fügt sich wunderbar auch die jüngst erschienene, gelungene Studie „Denkmal und Dynamit. Denkmälerstreit im deutsch-dänischen Grenzland“ von Inge Adriansen (Neumünster 2011) hervorragend ein.

Auch wenn sich das Buch berechtigterweise auf das ereignisreiche 20. Jahrhundert beschränkt, wäre eine stärkere historische Tiefenschärfe wohltuend gewesen, da viele Probleme gegenwärtiger Grenzziehungen im Ostseeraum schon im Mittelalter oder in der Frühen Neuzeit angelegt wurden. Wie eine solche Brücke gelingen kann, zeigt der Beitrag von Pertti Joenniemi, der mit dem Vertrag von Nöteborg bereits im 14. Jahrhundert ansetzt.

Insgesamt handelt es sich um einen gelungenen und lesenswerten, auch sprachlich gut gestalteten Band.