A. Mbembe: Sortir de la grande nuit

Titel
Sortir de la grande nuit. Essai sur l'Afrique décolonisée


Autor(en)
Mbembe, Achille
Erschienen
Anzahl Seiten
252 S.
Preis
€ 17,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lotte Arndt, Institut für Afrikawissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin / Institut für Soziologie, Université Paris VII, Denis Diderot

Ein halbes Jahrhundert nach der formalen Unabhängigkeit der meisten von Frankreich kolonisierten Länder Afrikas legt der derzeit in Südafrika lehrende Historiker Achille Mbembe, Autor der vieldiskutierten Schrift De la postcolonie: essai sur l'imagination politique dans l'Afrique (2000),1 eine neue Standortbestimmung vor. In diesem Text knüpft er in vielfacher Hinsicht an den berühmt gewordenen Vorgängertext an. Mbembe, der in seinem Essay eher Denklinien andeutet, als dass er seine einzelnen Thesen kleinschrittig entfaltet, legt Grundlagen für eine Auseinandersetzung mit den politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen Afrikas.

Schon im Titel macht Mbembe deutlich, in welche Genealogie er sich einschreibt: Der Ausgang aus der großen Nacht, von der er schreibt, ist Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde entlehnt.2 Wie diesem geht es Mbembe – wenngleich unter veränderten historischen Bedingungen – um die radikale Erneuerung des gesellschaftlichen Entwurfs. Ein solches Unterfangen, so Mbembe, setze in der Gegenwart zunächst voraus, Europa den Rücken zu kehren und stattdessen den Blick in die Richtung zu wenden, aus der die neue Zeit herannahe.

Mbembe wählt einen autobiographischen Einstieg. Es schreibt ein Autor, der seine Kindheit und Jugend in Kamerun zur Zeit des afrikanischen Nationalismus erlebte, der in Paris studierte und in den USA lehrte, bevor er vor über einem Jahrzehnt seine Forschungs- und Lehrtätigkeit in Südafrika aufnahm. Sowohl seine eigene transnationale Biographie, als auch die Aufmerksamkeit, die er Migrationsbewegungen zukommen lässt, durchziehen den Essay wie ein roter Faden.

In einem umfangreichen Theoriekapitel entwickelt Mbembe ausgehend von Haiti und Liberia die im Buch zentrale Idee der „Deklosion“ und des Aufscheinens einer Menschheit: Nicht allein die Abschaffung der Unterdrücker sei nötig, sondern die Anerkennung seiner selbst als „singuläre Figur des Universellen“ (S. 62). Liberia und Haiti, so Mbembe, sind an dieser Herausforderung gescheitert, da sie weiterhin von der Erfahrung der Plantagen-Gesellschaften und der für diese konstitutiven verdinglichten Beziehungen geprägt geblieben seien. Das Projekt der Zugehörigkeit der Ausgeschlossenen zur Welt sei jedoch durch die Geschichte der Unabhängigkeiten hindurch verfolgt worden. Mbembe entwickelt dieses Projekt ausgehend von Jean-Luc Nancys Konzept der „Deklosion“, über Frantz Fanon und Léopold Sédar Senghor, Paul Gilroy und die Klassiker der postkolonialen Theorie, bis hin zur Entstehung eines „Welt-Denkens“ (pensée monde), für das er sich auf Édouard Glissant stützt. Der Spannungsbogen des Essays ist hier entworfen: Mbembe betrachtet Plantage, Fabrik und Kolonie als die historischen Laboratorien für die autoritäre Welt der Gegenwart. Demgegenüber bergen sie aber auch die Begegnung, die Öffnung und den Austausch, die er als grundlegende Züge der Globalisierung ansieht.

Als einer der hellsichtigsten Autoren, die derzeit über die vielschichtigen Beziehungen zwischen Afrika und Frankreich schreiben, stellt der Autor in seinen Kapiteln über das Hexagon die Frage, warum sich das Land inmitten der sich in vielfacher Hinsicht in Bewegung befindlichen globalisierten Welt weigert, seine „Präsenz in der Welt und die Präsenz der Welt im Land“ (S. 93) zu denken. Er konstatiert einen Bedeutungsverlust Frankreichs, der aus dem „Begehren nach Provinzialismus“ (S. 114) hervorgehe, sich jeglicher Art von Öffnung verwehre und die Exklusionsmechanismen der eigenen Gesellschaft verschärfe und verleugne: Dem in Frankreich gängigen Gegensatz von republikanischem Universalismus und identitärem Kommunitarismus setzt Mbembe die Spannung zwischen Kosmopolitismus und Universalismus entgegen, deren Wurzeln er in der französischen Revolution verortet. Anstatt also angelsächsische Vergesellschaftung gegen französischen Universalismus in Anschlag zu bringen, thematisiert er den Provinzialismus, der der Idee des Universalismus in Frankreich selbst innewohnt: In letzter Konsequenz handele es sich um einen „Parisianismus“ (S. 106), den Allgemeingeltungsanspruch einer höchst partikularen Erfahrung.

Die These dieser gesellschaftlichen Schließung untermauert Mbembe im folgenden Kapitel anhand verschiedener Beispiele, in denen er den Fortbestand von Ausschlüssen, die auf koloniales Wissen zurückgehen, in der Gegenwart zeigt. Auch im Vergleich zur US-amerikanischen Gesellschaft, in der es eine Kultur der Gastfreundlichkeit gebe, zeichne sich Frankreich zunächst dadurch aus, die eigene Lebensweise zur Norm zu erheben, alle davon abweichenden Praxen in ihrer Differenz zu essentialisieren und ihnen nur die Option der Assimilation einzuräumen. Ausdruck dieser Melancholie des Empires sei auch die narzisstische Abwehr der französischen Wissenschaftsinstitutionen gegen poststrukturalistisches und postkoloniales Denken, letztlich aber allgemein gegen eine Öffnung für heterogene Denktraditionen. Die (erinnerungspolitische) Interpretationshoheit über die Vergangenheit werde zum Feld der Auseinandersetzung um die Zukunft der französischen Gesellschaft.

Wenngleich viele von Mbembes Beobachtungen der Entwicklungen in Frankreich bereits andernorts und von anderen AutorInnen ausführlich und oft detaillierter entwickelt wurden, lesen sich die locker miteinander verklammerten Kapitel mit Gewinn: Die große Qualität des Essays liegt in den politischen Einwürfen, die eher Denkanstöße für künftige Forschungen geben, als diese selbst anzustrengen. Weiterführend ist dabei vor allem der synthetisierende Blick eines Wissenschaftlers, dessen eigener Bildungsweg durch Frankreich führte, der dem Land den Rücken kehrte und ihm rückblickend mit leicht abfälligem Gestus seine nationale Schließung vorhält. Mbembe deutet darin eine Analyse der ehemaligen Kolonialmacht, ihrer Beziehung zu Afrika und ihrer Verortung in der globalisierten Welt an, in der diese sich zwar selbst noch im Zentrum wähnt, in vielfacher Hinsicht jedoch längst zu einem – sich oft selbst blockierenden – Land unter vielen geworden ist.

In diesem Sinne öffnet der Essay abschließend die Perspektive mit zwei heuristisch gehaltenen, sehr anregenden Kapiteln zu Afrika: „Das Haus ohne Schlüssel“ (Kap. 5) und „Die Zirkulation der Welten. Eine afrikanische Erfahrung“ (Kap. 6). Mbembe zieht hier eine Bilanz der postkolonialen Herrschaft, die er als Geschichte des „für sich Existierens“ beschreibt (S. 203). Dabei ist er fern davon, diese Geschichte zu idealisieren. Vielmehr geht er hart mit den postkolonialen Regierungen ins Gericht, denen er Phallokratie, eine mimetische Ausübung der rassistischen, kolonialen Gewalt sowie die Verbreitung einer allgemeinen Militarisierung der Gesellschaften attestiert. Demgegenüber fragt er nach den Bedingungen, um die alten Referenzpunkte hinter sich lassen zu können. Er unterstreicht vor allem die Herausbildung einer neuen Kartographie, die afrikanische Gesellschaften in die globalisierte Welt einschreibt: Diese Kartographie zeichne sich durch hohe Mobilität und die Bedeutungszunahme der Entfernung aus, wobei Entfernung sowohl als Aspekt des gesellschaftlichen Imaginären als auch als diasporische Realität gelesen werden könne. Alte Gegensätze wie der zwischen Stadt und Land oder zwischen informeller und formeller Sphäre verwischten zugunsten patchworkartiger Konstellationen. Jeglichem Indigenismus und der Orientierung an vermeintlich authentischen Lebensformen erteilt Mbembe eine klare Absage. Er interessiert sich vielmehr für die Entstehung neuer Zugehörigkeiten, transnationaler Netzwerke und für die alltägliche Kreativität in der „afropolitanen“ Realität (S. 229). Der „Ausgang aus der großen Nacht“, den Mbembe ebenso als Herausforderung fasst, wie er seine Richtung andeutet, finde sich in der Orientierung in die Weite einer Welt, in der der Gegensatz von „eigen“ und „fremd“ in immer neuen Kämpfen überwunden wird.

Im Sinne Johannes Agnolis als „Steinwurfdenker“ schreibend, reißt Mbembe in seinem ebenso nüchtern wie keck geschriebenen Essay gesellschaftliche Entwicklungsperspektiven für das postkoloniale Afrika, seine Beziehungen zu Frankreich und seine Verortung in der Welt an, die die Gegenwart sowohl kritisch analysieren als auch optimistische Aussichten eröffnen. Mbembes Optimismus ist freilich gedämpft. Denn dass die tiefgreifenden sozialen Wandlungsprozesse, die das „dekolonisierte Afrika“ im Rahmen der Globalisierung durchläuft und in deren Rahmen es die kolonialen Konfigurationen hinter sich lässt, auch neue wirtschaftliche und soziale Abhängigkeiten, die Omnipräsenz von Kriegen, in denen auch das nicht mehr unumstrittene Nationalstaatsmodell in Frage gestellt wird, sowie identitäre und religiöse Schließungen mit sich bringen, ist in Mbembes Reflexionen präsent. Der Band macht eher große Linien und Zusammenhänge auf, als dass er die vertretenen Thesen im Einzelnen belegt. Auf diese Weise lässt er viel Raum für nachfolgende Forschung, die sich detailliert mit den angeschnittenen Fragen befassen kann.

Anmerkungen:
1 Achille Mbembe, De la postcolonie: essai sur l'imagination politique dans l'Afrique, Paris 2000.
2 Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt am Main 1981. [Original: Les Damnés de la Terre, Paris 1961.]

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