Automobilisierung nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland

Automobilisierung nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland

Veranstalter
Museum Industriekultur Osnabrück (10454)
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10454
Ort
Osnabrück
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.05.2012 - 30.09.2012

Publikation(en)

Cover
Spilker, Rolf (Hrsg.): Richtig in Fahrt kommen. Automobilisierung nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland. Bramsche 2012 : Rasch Verlag, ISBN 978-3-89946-212-8 330 S., zahlr. Abb. € 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Grieger, Historische Kommunikation, Volkswagen AG

Automobilität und Automobilindustrie prägen die gesellschaftliche und wirtschaftliche Realität Deutschlands. Ein erneutes jährliches Wachstum um 1,5 Prozent auf einen Rekordbestand von 51,7 Millionen Kraftfahrzeugen (davon 42,9 Millionen Personenkraftwagen, Stand Anfang 2012) unterstreicht, dass das automobile Zeitalter auch in Deutschland weiterhin dem nach 1945 betretenen Entwicklungspfad folgt. Als Kernbestand der „mentalen Infrastrukturen“ (Harald Welzer) bildet die individuelle Automobilität bis heute ein konstitutives Element der deutschen Gesellschaft.1 Die emotionale Aufladung des Autos spiegelt sich darin wider, dass es den Euphorisierten als Objekt der Begierde und den Ängstlichen als ein Auslöser des Untergangs erscheint.

Was manche Ausstellungsmacher zu einer Gefühlsgeschichte des Automobils und einer aufwendigen Inszenierung drängen würde, wird in der Sonderausstellung des Museums Industriekultur Osnabrück erfreulich nüchtern vorgeführt, indem die Etablierungsphase der Automobilisierung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland als gesellschaftliche Klammer dargestellt wird. Unter dem Titel „Richtig in Fahrt kommen“ zeigt sich die Ausstellung in erfrischend altmodischer Weise einerseits vom Faszinosum Automobil wenig beeindruckt und stellt andererseits die Nachkriegsentwicklung nicht nur als Vorgeschichte der heutigen Situation dar.

Der fast schon analytische Blick auf eine keineswegs selbstverständliche Entwicklung wird durch den Ausstellungsort unterstützt, das 1893 errichtete Magazingebäude der Steinkohlenzeche Piesberg. Das Gebäude der Hochindustrialisierung widersetzt sich gewissermaßen dem bewegenden Kern der bundesdeutschen Konsum- und Industriegeschichte. Zudem lässt die Gestaltung ungelenkte Blicke zu: Die Besucher können über die Entwicklungsetappen und Ausstellungsmodule hinwegschauen, um eigene, schon durch die etablierte Automobilität präformierte Sichtweisen mit den Objekten zu konfrontieren. Beim Betreten der Ausstellungshalle kommen drei Vertreter des „Wirtschaftswunders“ in den Blick – der Dreirad-Lieferwagen Tempo Hanseat, die Volkswagen Limousine und der Borgward Hansa 1500. Konterkariert wird der erste Eindruck aber durch den Ausgangspunkt der Ausstellung, das Jahr 1945. Der Besucher muss die zentrale Halle verlassen und geht zunächst in den vorgelagerten Ausstellungsbereich, wird also von der ursprünglichen Blickrichtung weggeführt und erhält einen neuen Ausgangspunkt der Betrachtung zugewiesen.

Denn 1945 war Deutschland im Ergebnis des Krieges ein demotorisiertes Land. Aufräumarbeiten, Ersatzprodukte wie Kanonenöfen oder Taschenschirme und die drohende Demontage prägten die Zeit des Neuanfangs. Als erstes Automobilunternehmen startete im Dezember 1945 das als ehemaliges Unternehmen der Deutschen Arbeitsfront von den Alliierten beschlagnahmte Volkswagenwerk unter Regie der britischen Militärregierung die Limousinenproduktion. Prägend waren Fahrräder mit Hilfsmotor, dann die vielen Mopeds, Roller und Motorräder, die die bundesdeutsche Motorisierung bis 1953 dominierten.

Die breit dokumentierte Exportmesse 1947 in Hannover markiert in der Ausstellung den Übergang in das automobile Zeitalter. Hersteller wie Büssing, Daimler-Benz, Ford, Klöckner-Humboldt-Deutz, Volkswagen und Zulieferer wie Continental zeigten dort vor allem ausländischen Besuchern ihre Produkte. Erste Exportverträge führten auf einen Pfad, der die Bundesrepublik Deutschland auch wegen der internationalen Absatzerfolge der hiesigen Automobilindustrie zum Exportweltmeister machte.

Die Automobilität der 1950er-Jahre besaß mit Nutzfahrzeugen und Personenkraftwagen zwei Säulen, die es auch zu Filmehren schafften. MAN, dessen Lastkraftwagen F8 Hans Albert, Hildegard Knef und Marius Gloring in dem 1952 gedrehten Film „Nachts auf den Straßen“ sogar die Bühne bot, um die für die Aufbauzeit typische Kultur der Anstrengung ins Bild zu setzen, aber auch Borgward, Ford, Mercedes-Benz, Gutbrod, DKW Schnelllieferwagen, Vidal und der 1950 gestartete Volkswagen Transporter stellten die Lastesel des „Wirtschaftswunders“. Die verstärkte Güterproduktion setzte ein Wachstum in Gang, das den Absatz dynamisch steigen ließ und die Unternehmen zur fordistischen Großserienfertigung führte.

Die 1951 erstmals in Frankfurt am Main durchgeführte Internationale Automobil-Ausstellung (IAA) zog 570.000 Besucher an, darunter 40.000 Ausländer, und dient seither als „Leistungsschau“ der deutschen und internationalen Hersteller. Modellneuheiten und die effektive Herstellung waren das eine, der Konsum war das andere („Autos kaufen – Autos fahren“). Automobilwerbung, die bunte Vielfalt der Prospekte und Motorsportplakate sowie die Ausbreitung der Autohäuser waren Voraussetzungen für den Traum von eigenen Wagen, der in wachsender Zahl auch Realität wurde, wie die gezeigten Fotos von Familienausflügen, Verwandtenbesuchen etc. unterstreichen. Die vier zentralen Ausstellungsfahrzeuge – die Mittelklasselimousine Borgward Hansa 1500, die Volkswagen Limousine, das als zarter Vorbote des Wohlstands fungierende DKW F91 Meisterklasse Cabriolet und das beim Osnabrücker Lohnfertiger Wilhelm Karmann hergestellte Vorserienfahrzeug Hanomag Partner, das auf der IAA 1951 beim Publikum durchfiel und nicht in die Serienproduktion ging, stehen für die Entwicklungstendenzen bundesdeutscher Automobilität in den 1950er-Jahren.

In weiteren Räumen präsentiert die Ausstellung die Themen Treibstoffversorgung und Tankstellen, die Entwicklung des Straßennetzes einschließlich Raststättenwesen und Straßenverkehrsordnung sowie den „autogerechten“ Umbau der Städte. In den Ausstellungsteilen, die rund um ein Goggomobil das Erlernen von Urlaub und Tourismus oder die mentale Prägung insbesondere der Heranwachsenden durch Motorsportereignisse, Blechspielzeug und Modellautos mit schönen Exponaten und teilweise detailliert aufzeigen, nimmt der Neuigkeitswert etwas ab, der zuvor durch den Nachweis der anfänglichen Unbestimmtheit und Ambivalenz der Entwicklung gebildet wurde.

Die Ausstellung zeigt sehr viele Fotos und Filmeinspielungen. Sie wirkt durch die Präsentation zahlloser Druckwerke vielleicht etwas flachwarenlastig und wegen der traditionellen Vitrinen auf manchen Museologen womöglich „old-fashioned“. Aber die These der allmählichen Durchdringung einer ganzen Gesellschaft durch das Automobil ist nachvollziehbar aufbereitet und sachlich zutreffend. Die Unbewegtheit und analytische Klarheit, die über der Darstellung der beschleunigten und beschleunigenden Automobilität zu liegen scheint, erlaubt es Besuchern, in aller Ruhe den stillen Ausgangspunkt und den dynamischen Rausch zu betrachten und eigene Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Deshalb kommen in der Ausstellung sowohl Enthusiasten als auch historisch Interessierte auf ihre Kosten.

Der Katalog mit seinen 17 Aufsätzen und der Zusammenstellung der Exponate wird dagegen wohl vor allem ein Fachpublikum finden. Der Band bietet konzise Überblicke zur Bedeutung des Automobils für die bundesdeutsche Wirtschaftsgeschichte bis 1960, die Entwicklung des Verkehrsstraßennetzes, den Automobil-Konsum in den 1950er-Jahren, das „Automobil als touristisches Vehikel“ sowie die Treibstoffversorgung und das Tankstellenwesen. Die Autoren sind die einschlägig ausgewiesenen Ingo Köhler, Hans-Liudger Dienel, Reiner Flik sowie Barbara Kahlert und Lukas Bartholomei. In zwei Beiträgen gibt der Kurator Rolf Spilker einen Überblick über Lkw und beschreibt die Anfänge der Lemförder Metallwarengesellschaft, die als spezialisierter Zulieferer für Lenk- und Spurstangen sowie Lagerbuchsen in den Nachkriegsjahren die Produktion aufnahm, in den Wirtschaftswunderjahren stark expandierte und 1984 unter das Dach der ZF Friedrichshafen AG kam. Die Pkw-Unternehmen Volkswagen und Auto-Union behandeln die Historiker Markus Lupa und Thomas Schlemmer, wobei sie die Ergebnisse ihrer zuvor erschienenen Monographien zuverlässig zusammenfassen, aber zu keinen neuen Ergebnissen gelangen.

Beiträge zu Borgward und DKW steuern die Autoexperten Peter Kurze und Jörg Sprengelmeyer bei. Kurze erläutert am Beispiel Borgward in dankenswerter Systematik die Stationen der Entwicklung und der Serienfertigung von Pkw, die die einzelnen Produktionsschritte nachvollziehbar machen. Allerdings zeigt sich mitunter eine fehlende Distanz – bei Kurze wartete „der Kunde bereits sehnsüchtig auf seinen Borgward Hansa 1500“ (S. 151). Zudem gibt der Katalog die idealisierenden Fotos von Walter Richleske als Wirklichkeitsabbilder aus, und die 1959 veraltete Schalenbauweise der Lloyd Arabella befindet Kurze für gut – trotz der selbst vermerkten höheren Systemkosten wegen des Wegfalls des Rohkarosseriebaus und des Vorteils, „dass jedes bei einem Unfall in Mitleidenschaft gezogene Karosserieteil schnell und kostengünstig ausgetauscht werden“ könnte. Die Zwischenüberschrift „Die Kosten im Griff“ (S. 139) gibt angesichts des 1961 eröffneten Konkursverfahrens und der Unternehmensliquidierung von Borgward nicht die richtige Bewertung vor. Da schimmert die Faszination für die Lieblingsmarke ebenso im Text durch wie die Liebe zum Motorsport im Beitrag von Gregor Schulz über Autorennen nach 1945.

Demgegenüber durchzieht den Beitrag „Traum-Fabriken“ von Harald Keller zur „Fahrzeugindustrie der Jahre 1945 bis 1955 in Werbung, Wochenschau und Auftragsfilm“ eine dezidiert industriekritische Haltung, die den Autor aber mitunter dazu verleitet, unzutreffende Begrifflichkeiten zu wählen – etwa wenn er den 74-minütigen, von Volkswagen bei Franz Schroedter in Auftrag gegebenen Unternehmensfilm „Aus eigener Kraft“ sowohl als „Werbefilm“ einordnet (S. 202) wie auch als „ Dokumentarfilm“ (S. 200). Kellers Behauptung, dass wegen der fortschreitenden Rationalisierung die Zahl der Beschäftigten in der Automobilproduktion nach den Aufbaujahren „zusehends sank“ (S. 203), ist vollkommen aus der Luft gegriffen.

Jürgen Steen zeigt die 1951 erfolgreich an ihrem neuen Ort Frankfurt etablierte IAA mit ihren publikumswirksamen „Volkstagen“ auch als Kundengewinnungsinstrument, selbst wenn sich die meisten Besucher angesichts der geringen Einkommen vorerst nur „sattsehen“ konnten (S. 180). Zugleich gab die IAA der Stadt Frankfurt am Main zusätzliche Impulse, sich als „autogerecht“ zu beweisen (ebd.). Das Ideal der „autogerechten Stadt“ umschrieb eine dominante Verkehrsplanungsvision, die Ralf Dorn am Beispiel der Stadt Hannover aufzeigt.2 Weil das Auto im Durchschnitt 23 von 24 Stunden steht, steuert Joachim Kleinmanns, 2011 mit der Monographie „Parkhäuser“ hervorgetreten, einen Aufsatz zur Problematik des Parkens im innerstädtischen Raum bei. Die Architekturhistorikerin Sylvia Necker nimmt die Tankstellen- und Raststättenbauten der 1950er-Jahre in den Blick, die an den neuen Autobahnstrecken geplant und errichtet wurden, die architektonisch im zeitlichen Verlauf zunehmend der gemäßigten Moderne zuzuordnen waren und, wie am Beispiel Hamburg-Stillhorn gezeigt, zwischen Funktionalität und Regionalität schwankten. Die Beiträge weisen also fast durchgängig ein hohes Niveau auf, so dass der sehr ansprechend gestaltete Ausstellungskatalog über die Automobilisierung der bundesdeutschen Gesellschaft bis Ende der 1950er-Jahre weithin zuverlässig Auskunft gibt. Wer Gelegenheit hat, die Ausstellung selbst bis Ende September noch zu besuchen, dem sei aber auch die Fahrt nach Osnabrück empfohlen – nicht zwingend mit dem Auto.

Anmerkungen:
1 Harald Welzer, Mentale Infrastrukturen. Wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam, Berlin 2011.
2 Als weitere Fallstudie dieser Art siehe jetzt auch Sven Bardua / Gert Kähler, Die Stadt und das Auto. Wie der Verkehr Hamburg veränderte, München 2012 (Begleitband zur Ausstellung mit demselben Titel im Museum der Arbeit, Hamburg, 1. Juni bis 23. September 2012).