Titel
Vernakulare Moderne. Grenzüberschreitungen in der Architektur um 1900. Das Bauernhaus und seine Aneignung


Herausgeber
Aigner, Anita
Anzahl Seiten
326 S.; zahlr. Abb.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Sabine Imeri, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin

Dass sich gesellschaftliche Verhältnisse in Architektur nicht nur abbilden, sondern Architektur soziale Beziehungen, Differenzen, Hierarchien auch herstellt und aktualisiert, dass Architektur somit als gesellschaftliche Praxis verstanden werden kann, ist eine der analytischen Grundlagen der ethnologisch-kulturwissenschaftlichen Stadtforschung wie der neueren Architektursoziologie. Solche Überlegungen auch für die historische Architekturforschung fruchtbar zu machen und damit zugleich die gesamte Bauproduktion – und nicht nur die Planungen von Architekt/innen – konsequent als Architektur zu verstehen, ist das zentrale Anliegen des vorliegenden Bands, in dem Moderne, Architektur und Bauernhaus im Zusammenhang gedacht werden. Der Band thematisiert nicht nur „Grenzüberschreitungen in der Architektur“, er überschreitet mit der Perspektiverweiterung von der architektonischen Moderne zur „Architektur in der Moderne“ (S. 9) gewissermaßen selbst eine Grenze. Zwölf Beiträge diskutieren aus verschiedenen disziplinären Perspektiven, wie regionale Architektur zu überzeitlicher und unveränderlicher Bautradition wurde und wie gleichzeitig das Wissen über diese Bautradition Eingang in die Architekturdiskurse der Zeit – „um 1900“ reicht hier von der Wiener Weltausstellung 1873 bis zur Weimarer Republik – in Österreich und Deutschland fand. Die nationale Vergleichsebene zeigt gewinnbringend Unterschiede und Ähnlichkeiten der Bezüge auf das Bauernhaus: als „ethnischer Artefakt“1 in den ethnisierend aufgeladenen Konflikten der späten österreichisch-ungarischen Monarchie und als heimatliches Relikt in den nationalen Selbstvergewisserungsdiskursen der bürgerlichen Eliten im Deutschen Reich und der Weimarer Republik.

Die instruktive Einleitung der Herausgeberin, in der dieses Konzept von Architekturgeschichtsschreibung erhellend begründet wird, bleibt jedoch nicht frei von Widersprüchen, etwa wenn zunächst überzeugend gegen die Vorstellung von „reinen“ Architekturen und von getrennten ländlich-bäuerlichen und städtisch-bürgerlichen Baukulturen argumentiert wird, dann aber von „verunreinigenden Einschlüssen […] in der architektonischen Kultur der Moderne“ (S. 25) die Rede ist. Hier wie auch in anderen Beiträgen des Bandes wird zudem die Schwierigkeit sichtbar, sich von Zuschreibungen an „Tradition“ und „Moderne“ zu lösen, etwa wenn von der „Unschuld regionalen Bauens in traditionalen Gesellschaften“ (S. 16) die Rede ist.

Mehrere Aufsätze thematisieren allgemeiner „Volkskunst“ als Ressource im Konfliktfeld ethnisierender Minderheitenpolitik im „Vielvölkerstaat“ Österreich-Ungarn. Elke Krasny zeigt, wie der „Binnenexotismus“, der die Präsentation der „kleinen Völker“ Österreich-Ungarns auf der Pariser Weltausstellung 1867 prägte, in der Ausstellung von Bauernhäusern auf der Wiener Weltausstellung 1873 mit einem „Binnenkolonialismus“ korrelierte: In der publikumsorientierten Absicht, „konsumierbare Echtheit“ (S. 51) zu erzeugen und die symbolische Ordnung der Monarchie abzubilden, wurde zwar die kulturelle Eigenständigkeit ethnischer Minderheiten genutzt, gleichzeitig aber auf die Volkskunst beschränkt und nicht als politischer Anspruch anerkannt. Erhellend ist David Crowleys Beitrag über von der Arts-and-Crafts-Bewegung beeinflusste gewerbliche Fachschulen, mit deren Einrichtung die Regierung in Wien regionale Hausindustrien (Möbelherstellung, Weberei etc.) in der Hoffnung förderte, ländlichen Bevölkerungsgruppen neue Einnahmequellen zu erschließen und soziale Spannungen zu mildern. Die Schulen wurden – unter anderem weil sie kaum lokales Material- und Gestaltungswissen, sondern Vorlagen Wiener Künstler nutzten – von bürgerlich-intellektuellen Unabhängigkeitsbewegungen als Instrument imperialer Nivellierung ethnisch-national gedachter Identität kritisiert. Gleichzeitig nutzten patriotisch gesonnene Aktivisten ihrerseits regionale Bauelemente, um zum Beispiel einen „tschechischen Nationalstil“ zu entwickeln, wie Vera Kapeller mit Blick auf Böhmen und Mähren zeigt. Vielfältige Formen von „Volkskultur“ ästhetisch harmonisierend als österreichisch zu kennzeichnen, war auch deshalb eine politische Aufgabe der Gewerbeschulen, weil sie in einen ausgedehnten exhibitionary complex (Bennett) eingebunden waren, wie Diana Reynolds zeigt. Dessen wichtigster Akteur, das Österreichische Museum für Kunst und Industrie in Wien, versuchte zudem, kunstgewerbliche Produkte im Sinne einer „Kommerzialisierung regionaler Stile“ (S. 108) auf dem internationalen Markt zu platzieren. Reynolds’ Schlussfolgerung, im Sinne postkolonialer Forschung vermehrt den Beitrag dieser Stile zu einer Ästhetik der Moderne in der Metropole Wien zu thematisieren und nicht nur deren imperiale Vereinnahmung, ist unbedingt zuzustimmen.

Einen wichtigen Beitrag liefert dann Astrid Mahler, die sich der Fotografie als zentralem Verbreitungsmedium der Vorstellungen von regional typischen Bauweisen zuwendet. Wissenshistorisch interessant sind hier vor allem ihre Überlegungen zu den Effekten verlegerischer Praxis im Feld von Bildproduktion, Architektur und Heimatpflege, die sie am Beispiel von Bildmappen und -bänden herausarbeitet.

Dass die „Entdeckung“ ländlicher Baukultur neben nationalistischen Tendenzen oder nostalgischer Rückwärtsgewandtheit auch andere Facetten aufweist, zeigen mehrere Beiträge. Georg Wilbertz arbeitet mit Blick auf eine Synthese von „Moderne“ und „Tradition“ für Wien zwei unterschiedliche Positionen heraus: Während es dem Kulturpublizisten Joseph August Lux in geschmackserzieherischer Absicht um eine Ästhetisierung des Bauernhauses und die Reform bürgerlicher Bauweisen zu tun war, ging es Carl A. Romstorfer, als Leiter einer staatlichen Gewerbeschule mit den Bauaufgaben einer sich massiv wandelnden Landwirtschaft konfrontiert, um die Entwicklung einer zeitgemäßen Agrararchitektur. Die Verwendung volkskünstlerischer Ornamente als folkloristisches Zitat in (groß)bürgerlichen Milieus zeigt Rainald Franz am Beispiel der Villa Primavesi, ein Landhaus im Altvatergebirge, für das der Architekt und Mitbegründer der Wiener Werkstätten Josef Hoffmann nicht nur die Baupläne, sondern auch Entwürfe für den gesamten Hausrat lieferte: eine umfassende Gestaltung als Versuch einer „Synthese zwischen Folkloremotiv und urbanem Dekor“ (S. 169). Auch Hans Poelzig ging es in seinen an einen „schlesischen Heimatstil“ angelehnten Arbeiten um 1900 weniger um Konservierung von Bautradition, als vielmehr um individuelle Lösungen für aktuelle Bauaufgaben. Beate Störtkuhl thematisiert hier die letztlich unerfüllt gebliebenen Hoffnungen, die Architekten wie Poelzig in das Reformpotenzial ländlicher Bauvorbilder für städtische Wohnbauten setzten. In das Feld kulturpolitisch motivierter Beschäftigung mit Volkskunst führt Christian Welzbacher mit seinem Beitrag über die Tätigkeit Edwin Redslobs, Reichskunstwart in der Weimarer Republik. Redslob strebte die Zusammenarbeit einschlägiger Verbände an, um dem kulturpolitischen Ziel näherzukommen, eine „organisch gefügte Gesamtkultur“ zu schaffen, die die „vermeintlichen Widersprüche von Tradition und Moderne, Volks- und Hochkultur, Handwerk und Industrie zu überwinden“ (S. 217) imstande sei. In den Kontext des Globalisierungsschubs um 1900 stellt Maiken Umbach die Begeisterung für regionale und lokale Ästhetiken im Deutschen Kaiserreich und anderen europäischen Staaten und plädiert mit Blick auf die Deutung des architektonischen Traditionalismus als reaktionär und antiurban für eine differenzierende „Neueinschätzung der Rolle, welche das Vernakulare bei der Entstehung der Moderne spielte“ (S. 236). Sie zeigt am Beispiel des Werkbund-Mitglieds Hermann Muthesius, dass der Versuch, städtische Lebensformen zu reformieren, nicht auf Reproduktion und Verklärung ländlichen Bauens setzte, sondern auf die Adaption von Gestaltungsprinzipien wie Einfachheit, Funktionalität und ähnlichem. Die Aneignung traditioneller Bauformen als Rhetorik zeigt schließlich Anita Aigner am Beispiel Le Corbusiers. Der radikale Propagandist modernen Bauens lehnte zwar vernakulare Bauformen als stilistisches Reservoir ab, verband aber seine Forderungen nach Standardisierung im avantgardistischen Wohnungsbau argumentativ mit einem Rückgriff auf „Urformen“ traditionellen Bauens. Dass es Le Corbusier mit der Analogie zur „primitiven“ Architektur in erster Linie um ein „moralisches Ideal-Vorbild“ (S. 314) zur Legitimierung seiner eignen, im akademischen Architekturdiskurs (noch) nicht anerkannten Arbeiten und Ideen ging, zeigt die Komplexität wie die Ambivalenzen dieser Bezugnahmen im Architekturdiskurs um 1900.

Auch wenn die Bezüge der Texte untereinander – und sei es in verbindenden Fußnoten – noch deutlicher hätten ausfallen können: Als wichtiges Resultat zeichnen sich soziale Netzwerke und Milieus ab, in denen Wissen über regionale Bauformen produziert, formatiert und in breite Diskussionen transferiert wurde. Die Beiträge zeigen eindrücklich, dass neben Architekten zahlreiche andere Akteure und Institutionen an diesen Netzwerken teilhatten: Museen, Schüler/innen und Personal von Gewerbeschulen, Verleger, Fotografen, Kulturpolitiker etc. Damit eröffnen sich weitere nicht nur bauhistorisch, sondern auch wissenshistorisch interessante Forschungsfelder, etwa die Verbindungen zu volkskundlichen Wissensmilieus, die – ähnlich wie die Archäologie – aus der frühen Hausforschung wichtige Impulse für die Disziplinentwicklung bezogen, oder die urbanen Vergnügungskulturen, die bis weit ins 20. Jahrhundert vielfach ländliche Ästhetiken und Szenarien aufweisen, etwa in Zoos oder als temporäre Ausstattung von Trachtenfesten, bei Umzügen oder im Theater.2 Wichtig ist dabei der Hinweis von Georg Wilbertz (S. 134), dass die ästhetisierenden Aneignungsformen den Blick auf die vielfach problematischen zeitgenössischen Lebens- und Wohnverhältnisse in ländlichen Gebieten weitgehend verstellten. Hier könnte eine kontrastierende Betrachtung der Landarbeiterenqueten sowie ländlicher Bauplanung und -produktion den Vermischungen von Baukulturen im „größeren Gefüge des Gebauten“ (S. 8) weitere Facetten hinzufügen.

Zum Schluss sei noch bedauernd darauf hingewiesen, dass der Band in handwerklicher Hinsicht leider Mängel aufweist: Der Lesefluss wird durch die Anordnung der Bilder hinter dem Text behindert und deren Druckqualität – wohl eher Angelegenheit des Verlages – ist ärgerlich. In einigen Texten wäre zudem eine stärkere Distanzierung von Quellenaussagen wünschenswert, wenngleich sprachliche Unschärfen auch den Übersetzungen (und/oder einem fehlenden Lektorat) geschuldet sein können.

Anmerkungen:
1 Johannes Fabian, Ethnische Artefakte und ethnographische Objekte: Über das Erkennen von Dingen, in: Ákos Moravánsky (Hrsg.), Das entfernte Dorf. Moderne Kunst und ethnischer Artefakt, Wien 2002, S. 21–39.
2 Vgl. etwa Franka Schneider, Die temporäre Verdorfung Berlins. Der Alpenball als urbane Vergnügungspraxis um 1900, in: Tobias Becker u.a. (Hrsg.), Die tausend Freuden der Metropole. Vergnügungskultur um 1900, Bielefeld 2011, S. 196–228.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/