J. Haslam: Russia's Cold War

Cover
Titel
Russia's Cold War. From the October Revolution to the Fall of the Wall


Autor(en)
Haslam, Jonathan
Erschienen
Anzahl Seiten
523 S.
Preis
£ 25.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Deuerlein, Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Eberhard-Karls Universität Tübingen

Neuere Arbeiten zur Geschichte der sowjetischen Außenpolitik sind selten. Die vorhandenen Werke konzentrieren sich meist auf die Epoche des Kalten Krieges oder ihre Teilabschnitte.1 Jonathan Haslams Vorhaben, eine Gesamtschau der sowjetischen Außenpolitik „von der Oktoberrevolution bis zum Fall der Mauer“ zu unternehmen, lässt deshalb viel erwarten. Umso bedauerlicher ist es, dass letztlich nur 28 von 400 Textseiten der Zeit von 1917 bis 1945 gewidmet sind. Nach Aussage des Autors sind 80.000 Wörter dem Lektorat zum Opfer gefallen2, was darauf hoffen lässt, dass die Ergebnisse dieser Forschungen doch noch in der einen oder anderen Form publiziert werden können.

Dennoch hat Haslam eine beeindruckende Arbeit vorgelegt. Der stark eingeschränkte Zugang zu sowjetischen Dokumenten in russischen Archiven erfordert kreative Umwege um an Material zu gelangen. In einer meisterhaften Syntheseleistung verarbeitet der Autor Quellen aus 22 Archiven in sechs Ländern und acht verschiedenen Sprachen. Ergänzt werden diese Bestände durch Gespräche mit Zeitzeugen wie Egon Bahr, Anatolij Tschernjajew und Paul Nitze, die Haslam zum Teil schon in den 1980er-Jahren führen konnte. Die umfassende Verwendung russischsprachiger Memoiren und Forschungsliteratur sowie ehemals streng geheimer Quellen aus der Welt der Geheimdienste und des Militärs zeichnet „Russia’s Cold War“ besonders aus.

Haslam gelingt es, das ganz große Bild zu zeichnen: Fast alle Themen, die man von einer derartigen Überblicksdarstellung erwartet, werden abgedeckt, komplexe Zusammenhänge werden auf knappem Raum verständlich dargestellt (ein Beispiel ist die bundesdeutsche Ostpolitik und der Aufstieg der Détente, S. 238-254). Daneben erfährt man auch Neues und Unerwartetes, beispielsweise bei Haslams detaillierter Behandlung der portugiesischen Revolution und ihrer weltpolitischen Bedeutung (S. 279-290). Haslam nimmt dabei nicht nur die Sowjetunion selbst in den Blick, sondern setzt die dortigen Vorgänge in Bezug zu externen Einflüssen. Dabei kann er zeigen, wie west- aber auch osteuropäische Verbündete die Politik ihrer jeweiligen Führungsmacht oft stark beeinflussten. Diese Perspektive geht jedoch leider zu Lasten der „Dritten Welt“, die im Buch nur am Rande auftaucht. Nur selten scheint bei Haslam jene „Macht der Schwachen“3 auf, die gerade außereuropäische „Stellvertreter“ nutzen konnten, um die Supermächte in ihrem Sinne zu beeinflussen. Vielmehr scheinen die sowjetischen Führer die Situation völlig zu kontrollieren, etwa wenn Stalin nach einigen Enttäuschungen mit der Revolution in China ein neues Betätigungsfeld sucht (S. 112), in Korea einen Stellvertreterkrieg gegen den Westen führt (S. 132) oder wenn Moskau Mitte der 1970er-Jahre nach einem Feld Ausschau hält, auf dem es die NATO unterminieren könnte und es schließlich in den ehemaligen portugiesischen Kolonien findet (S. 290).

Für eine Überblicksdarstellung ist Jonathan Haslams Zielsetzung, sein Buch fast ausschließlich auf Quellen aufzubauen (S. xii) sehr anerkennenswert, trägt sie doch dazu bei, die von Haslam als „historiographical Cold War“ (S. x) bezeichnete ideologische Polarisierung des Faches aufzulösen. Manchmal vermisst man aber doch eine Einordnung in die Forschungslandschaft. Gerade bei umstrittenen Themen bezieht der Autor eindeutig Position, ohne dass immer klar wird, welche Quellen oder Literatur diese Meinung geprägt haben: Der Überfall durch das Dritte Reich „took Stalin entirely by surprise“ (S. 9) und „the decision to build the Berlin wall was Khrushchev’s alone“ (S. 189).

Noch problematischer sind die teils zu unkritische Verwendung von Memoiren. Im Falle Afghanistans vertritt Haslam die These, die Regierung Carter habe die Sowjetunion 1979 zur Invasion provoziert. Grundlage dafür seien Fortschritte in der Computertechnologie gewesen, die es ermöglicht hätten, sowjetische Codes zu knacken und Moskau damit eine Falle zu stellen (S.318). Neben einem häufig zitierten Interview Zbigniew Brzezinskis 4 kann Haslam jedoch nur ein „off the record briefing from a source privy to the operation“ (S. 471, Anm. 206) sowie private Gespräche mit Harold Brown und William Odom anführen (S. 472). Die These muss damit natürlich nicht falsch sein; so lange die Belege aber nicht allgemein nachvollziehbar sind, können Zweifel und Ungereimtheiten nicht ausgeräumt werden.

Bei der Frage nach den Gründen für den Ausbruch des Kalten Krieges listet Haslam vom sowjetischen Expansionismus über das amerikanische Streben nach Absatzmärkten bis zu Missverständnissen zahlreiche Motive auf (S. 36-49), ohne die über Jahrzehnte geführten heftigen Debatten in der Forschung zu erwähnen. Er selbst sieht die Ursache vor allem in der ideologischen Überzeugung Moskaus, dass ein Konflikt zwischen dem Kommunismus und dem Kapitalismus unvermeidlich sei; der Kalte Krieg wurde damit von einem Streit um das Mächtegleichgewicht in Europa zu einem „clash of values“ (S. 76).

Ideologie ist für den Autor auch allgemein das Hauptmoment des Kalten Krieges. Sie konnte jedoch nur in dem Maße bedeutsam werden, wie einzelne Machthaber für sie empfänglich waren (S. 365). Das Ende des Kalten Krieges sei damit auf eine Mischung aus „circumstance […] and personality“ (S. 398) zurückzuführen – Gorbatschow habe die Wahl zwischen verschiedenen Alternativen gehabt, sei jedoch auch von strukturellen Entwicklungen getrieben worden.

Viel Raum widmet Haslam deshalb der Charakterbeschreibung einzelner Führungspersönlichkeiten; doch auch das komplexe System von Beratern, Forschungsinstituten und Interessengruppen, das sich spätestens in der Breschnew-Zeit entwickelte, wird gut dargestellt (S. 214-220). Strukturelle Faktoren wie ökonomische Zwänge oder auch gesellschaftliche Wechselwirkungen mit der Außenpolitik kommen jedoch kaum vor. Die „öffentliche Meinung“ spielte in der Sowjetunion selbstverständlich keine mit dem Westen vergleichbare Rolle und die Erforschung der Interaktion zwischen Bevölkerung und Entscheidungsträgern bleibt gerade für die Außenpolitik ein Desiderat.5 Doch verwirft Haslam hier wohl zu schnell die Rolle der sowjetischen Öffentlichkeit und überzeichnet den Grad ihrer Isolation (S. x).

Trotz mehrerer Kritikpunkte bleibt festzuhalten, dass Jonathan Haslam ein beeindruckendes Werk vorgelegt hat. „Russia’s Cold War“ bietet dem Einsteiger einen umfassenden inhaltlichen Überblick, dem Experten eine Fundgrube an Quellenhinweisen. Der hier demonstrierte Grad an multiarchivalischer und multilingualer Forschung wird erst dann zu übertreffen sein, wenn in großem Stil neue Archivbestände zugänglich werden.

Anmerkungen:
1 Eine Gesamtschau aus jüngerer Zeit bietet Caroline Kennedy-Pipe, Russia and the world, 1917-1991, London 1998; zur Zeit des Kalten Krieges Vladislav M. Zubok, A failed empire. The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev, Chapel Hill 2007.
2 H-Diplo Roundtable Review, Vol. XIII, No. 12 (2011), S. 33. <http://www.h-net.org/~diplo/roundtables/PDF/Roundtable-XIII-12.pdf> (2.10.2012).
3 Bernd Greiner / Christian Müller / Dierk Walter (Hrsg.), Heiße Kriege im Kalten Krieg, Hamburg 2006.
4 Nouvel Observateur, No. 1732, 15. Januar 1998.
5 Zu öffentlicher Meinung und sowjetischer Außenpolitik Sarah Davies, Popular opinion in Stalin's Russia. Terror, propaganda, and dissent, 1934-1941, Cambridge / New York 1997; Rósa Magnúsdóttir, „Be Careful in America, Premier Khrushchev!“. Soviet perceptions of peaceful coexistence with the United States in 1959, in: Cahiers du Monde Russe 47:1-2 (2006), S. 109-130. Ein Fallbeispiel zur Verflechtung von Innen- und Außenpolitik am Beispiel der Dissidenten bietet Stephen V. Bittner, Die sowjetische Dissidenz und Intelligencija, in: Bernd Greiner / Tim B. Müller / Claudia Weber (Hrsg.): Macht und Geist im Kalten Krieg, Hamburg 2011, S. 517-536.

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