Die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1920–1970

Orth, Karin; Oberkrome, Willi (Hrsg.): Die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1920–1970. Forschungsförderung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Stuttgart 2010 : Franz Steiner Verlag, ISBN 978-3-515-09652-2 549 S. € 65,00

Trischler, Helmuth; Walker, Mark (Hrsg.): Physics and Politics. Research and Research Support in Twentieth Century Germany in International Perspective. Stuttgart 2010 : Franz Steiner Verlag, ISBN 978-3-515-09601-0 285 S. € 44,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Fahlbusch, Basel

Gut ein Jahrzehnt nach dem Projektstart1 liegen zwei wichtige Übersichtsbände zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) seit 1920 vor. Es handelt sich um die Veröffentlichungen zu den beiden Tagungen einerseits der Vorstellung aller Ergebnisse aus den 20 Teilprojekten, die die DFG in Auftrag gegeben hatte, andererseits zur Analyse der politischen Handlungsfelder der Physikforschung in unterschiedlichen Regimen. Beide Bände befassen sich sowohl mit der Organisations- und Institutionsgeschichte als auch mit den Forschungskontexten. Beide werden von fundierten epochenübergreifenden Übersichtsartikeln eingeleitet. Der von Orth und Oberkrome herausgegebene Band 4 (hier I) stellt die Projektergebnisse der mittlerweile in der DFG-Geschichtsreihe publizierten Arbeiten zusammen. Es handelt sich um teilweise überarbeitete Schlusskapitel der Projektstudien. In fünf Teilgebieten wurden diese Studien realisiert: In der Institutionsgeschichte der DFG und ihrer Konkurrenzeinrichtungen, in der Natur- und Technikgeschichte, in der Medizin- und den Biowissenschaften, in den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie in der Einbettung der DFG in die deutsche Wissenschaftspolitik.

Ins Gedächtnis zu rufen ist, dass nach den Studien über die DFG von Kurt Zierold Ende der 1960er-Jahre und von Notker Hammerstein der Bedarf an solider Wissenschaftshistorie neu wuchs, besonders nach dem spektakulären Frankfurter Historikertag. In der Paulskirche hatte die aus Wien stammende und in den USA lehrende Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger zu Historikern gesprochen. Frau Klüger machte die Historiker, die sich soeben mit ihrer eigenen – bisher verdrängten – Disziplingeschichte auseinanderzusetzen begannen, eindringlich auf die Ambivalenzen im Umgang mit Fakten und Fiktionen aufmerksam. Sie überlebte als Kind das Konzentrationslager und erinnerte die Anwesenden ohne moralische Vorbelastung an ihr gemeinsames Erbe. Martin Walsers Rede einen Monat später am gleichen Rednerpult hingegen widmete sich dem Gewissen, dem Verdrängen und dem Aussöhnen mit der Vergangenheit. Sie mündete in der Feststellung, dass die Ritualisierung der jüdischen Geschichte den Opfern wieder zum eigenen Nachteil gereicht sein könne, Auschwitz verkäme als Drohroutine und „Moralkeule“. Die Rede wurde von Ignatz Bubis in der Neuen Zürcher Zeitung als Beitrag zur „geistige[n] Brandstiftung“ bezeichnet, worauf Walser konterte, es hätten immerhin „1200 ziemlich qualifizierte Zeitgenossen einer Rede Standing ovations“ bereitet, und Bubis solle sich gefälligst an die Menschen richten, die „einer geistigen Brandstiftung Beifall gespendet“ hätten. Diese hätten ihm für seine Ausführungen gegen eine übersteigerte Schuldzuweisung, der „Instrumentalisierung unserer Schande“, gedankt. Unbeeindruckt von solchen Ambivalenzen setzte der DFG-Präsident in ethischer Hinsicht wenig später neue Akzente, indem er sich für die Menschenversuche und Euthanasieverbrechen der durch die DFG geförderten Wissenschaftler öffentlich entschuldigte. Kurz danach nahm auch die Max-Planck-Gesellschaft diese Gelegenheit wahr. Dies sind zwei in der Geschichte der deutschen Gesellschaft in der Form wohl einmalig gebliebene und bewegende wie auch konträr verlaufende Ereignisse gewesen.

Eingebettet in diese übergeordnete Diskussion erscheint mir denn auch die gesellschaftliche Verantwortung von Wissenschaften und Wissenschaftlern als der eigentliche Schwerpunkt zu sein, unter dem diese Bände gelesen werden sollten. Wissenschaftspolitik bietet nur allzu häufig nationalen und hegemonialen Leitbildern eine Projektionsfläche und setzt je nach gesellschaftlicher Konstellation zu nationalen Aufholjagden an. Dies ist der eine Befund, den anderen – und darunter litt insbesondere das deutsche Wissenschaftssystem – hebt Patrick Wagner hervor: Unter dem Banner des „‚Tribalismus‘ der Ordinarienuniversität“ entwickelten sich allzu häufig keine offenen Wissenschaftsnetzwerke, von denen gerade der Forschungsfortschritt hätte profitieren sollen. Dieser Aspekt wird genauso thematisiert wie das Changieren des Forschers zwischen Grundlagen- und Zweckforschung (Wagner, I, S. 26). Denn nur allzu gerne entzog sich der Forscher als Subjekt nach dem Kriege seiner Verantwortung, indem er die Legitimation der Grundlagenforschung zu seiner Entschuldung heranzog.

Dass Wissenschaftler auch außerhalb der Medizin und Biowissenschaft mit Menschenrechtsverbrechen verflochten waren, betont Sören Flachowsky: „Indem aber Ernährungswissenschaft und Raumordnung direkt mit der Vertreibung, Unterdrückung oder wie im Falle der Juden mit der Ermordung der in Osteuropa lebenden Menschen verknüpft wurden, standen die vom RfR und DFG finanzierten Forschungsvorhaben in unmittelbaren Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik.“ (Flachowsky, I, S. 65) Angesichts der engen Verflechtungen ihrer akademischen Väter mit der NS-Bevölkerungs- und Raumpolitik und der ethnopolitischen Experten des NS-Regimes ist es eine schwerwiegende Hypothek, dass sich deren akademischen Söhne in der deutschen Geschichtswissenschaft als einer der letzten Disziplinen nur ungern und erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts einer Aufarbeitung annäherten. Indessen beleuchtet der Band I auch die DFG-Geschichte einiger Forschungsschwerpunkte nach 1945. Allerdings ist die Frage des Kommentators Reinhard Rürup gerechtfertigt, warum ausgerechnet auf diese vom Steeringcommittee ausgewählten Projekte Wert gelegt wurde. Es ist zu hoffen, dass die noch fehlenden Forschungsgebiete in naher Zukunft ebenfalls mit Studien abgedeckt werden.

Der von Walker und Trischler herausgegebene Band 5 (hier II) behandelt die physikalischen Forschungen im internationalen Kontext. Demnach waren nicht nur die Technikwissenschaften mit ihren breiten Anwendungsfeldern durch den Vierjahresplan und die Ersatzstoffindustrie gefordert, Höchstleistungen zu erbringen. Der Band versammelt Ergebnisse über Forschungen von radiologischen Reihenuntersuchungen, die bereits im Ersten Weltkrieg stattfanden, danach durch Eigeninitiative und durch eine Industriestiftung weit über das ursprüngliche Anwendungsgebiet hinaus stark gefördert wurde, noch bevor die staatliche Forschungsförderung griff. Darüber hinaus gehörten auch die Laserforschung sowie Atom- und Biophysik in enger Zusammenarbeit mit Medizin zu den geförderten Bereichen. Dies sind die zentralen Schwerpunkte, denen sich die Autoren widmen.

Wesentlich erscheint mir das Ergebnis dieses Bandes zu sein, dass Physiker nicht nur Atombomben bauten und in atomwirtschaftlich militärisch-industriellen Komplexen tätig waren, sondern sich auch als Intellektuelle in auf politische Grenzen des Kalten Kriegs überschreitenden Antiatomkonferenzen engagierten. Die Göttinger 18 und der Appell von Stockholm seien hier nur unter vielen Initiativen genannt, die nur allzu häufig in der Legendenbildung der Disziplinen unbelichtet blieben. Dieses Muster der Vergangenheitsbewältigung scheint somit nicht viel anders zu sein als in den Kulturwissenschaften. Dies aufzuzeigen ist ein großes Verdienst des Bandes. Nämlich, dass Wissenschaftler eine gesellschaftliche Verantwortung tragen und trugen, und zu ihr zu stehen, nicht immer der Karriere förderlich gewesen war. Das ist eine Erkenntnis, die etwa Nicolas Berg bereits 2003 am Beispiel einiger weniger Historiker unter den westdeutschen Historikern bei der Thematisierung des Holocausts in der Bundesrepublik beispielgebend herausgearbeitet hatte. Er wies gerade auf die Historiker hin, die zuerst den kritischen Umgang mit ihrer eigenen Vergangenheit wagten, aber am Mainstream scheiterten.

Bemerkenswert ist der von Richard Beyler dargelegte Sachverhalt über die SDS-Hochschuldenkschrift von 1965, den ich eher in dem Tagungsband von Orth und Oberkrome (I) erwartet hätte, da er bereits auf den Kontext der Wissenschaftspolitik in der Nachkriegszeit abzielt (Beyler, II, S. 87–100). Bereits vor 50 Jahren wurden die ersten Stimmen junger Akademiker laut, die die Glaubwürdigkeit ihrer Hochschullehrer in Frage stellten. Der SDS kritisierte die gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsbedingungen der Wissenschaft angesichts der technologischen Großforschungen aufs Schärfste und forderte infolge der Ostermarschbewegung mehr Öffentlichkeit in Wissenschaft und Universität. Beyler zufolge führte dieser Legitimationsverlust der Wissenschaftspolitik in der Post-Adenauer-Ära überhaupt erst zur Studie Kurt Zierolds über die DFG im Jahr 1968. Somit setzte die Dekonstruktion der Legendenbildung einer über die zeithistorischen Zäsuren hinaus ‚bewährten‘ und ethisch-moralisch ‚unbedenklichen‘ Wissenschaftslandschaft erst spät ein.

Der nationale Kampf um die Deutungshoheit im Wissenschaftssektor war im internationalen Kontext auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht erledigt, sondern führte gerade nach dem Koreakrieg, der Entwicklung der Wasserstoffbombe und dem Sputnik-Schock wiederum zu einer weiteren Instrumentalisierung der praktischen Vernunft. Dies zeigen abschließend mehrere verdienstvolle Artikel, die wissenschaftshistorisch bisher kaum erschlossenen Forschungsfeldern in der technisch-naturwissenschaftlichen Förderung in anderen autoritären Staaten als dem „Dritten Reich“ nachgehen. Untersucht werden unter anderem die Ukraine, Japan und China. In China scheint die enge Anlehnung an den Staat und die freiwillige Selbstunterwerfung der Forschung gegenüber der Politik bis heute anzudauern.

Ob die Internationalisierung von Forschungszusammenhängen ein Garant dafür ist, die Wissenschaften vor einer Vereinnahmung zu schützen, wird wohl erst in der Zukunft zu klären sein. Diese im Band vorab hoch gehaltene Internationalisierung, das sei abschliessend angemerkt, scheint sich inzwischen im wissenschaftshistorischen Diskurs der natur- und technikwissenschaftlichen Forschung durchgesetzt zu haben, in den deutschen Gesellschaftswissenschaften aber noch immer nicht vollständig. Ferner wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Verlag durchgängig die DFG-Bände mit einem Indexverzeichnis versehen hätte. Hier ist am falschen Platz gespart worden, was den Gebrauchswert der Bände teilweise deutlich schmälert.

Anmerkungen:
1 Webseite des Forschungsprojekts verfügbar unter: <http://projekte.geschichte.uni-freiburg.de/DFG-Geschichte/> (10.01.2013).

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