K.-H. Ehlers: Der Wille zur Relevanz

Cover
Titel
Der Wille zur Relevanz. Die Sprachforschung und ihre Förderung durch die DFG 1920-1970


Autor(en)
Ehlers, Klaas-Hinrich
Reihe
Studien Zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 6
Erschienen
Stuttgart 2010: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
365 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Fahlbusch, Basel

Die Berliner und Freiburger Forschungsgruppe des vor zehn Jahren in Berlin initiierten Projekts über die Geschichte der DFG präsentiert mit dem nun vorliegenden sechsten Band eine umfangreiche Dokumentation der nicht publizierten Antrags- und Gutachterakten zur Sprachforschung aus den überlieferten Vorkriegsbeständen des DFG-Archivs. Anhand dieser Dokumente will der Autor die Entwicklung der unter fachlichem wie politischem Legitimationsdruck stehenden Sprachforschung nachzeichnen. Dieses erst 1978 von den USA an Deutschland restituierte Archiv mit rund 7.000 Einzelfallakten stellt eine Fundgrube für Wissenschaftshistoriker dar und ist ein Muss, wenn es darum geht, Fachdiskurse zu verfolgen.

Die Intention Klaas-Hinrich Ehlers ist „eine Typologie der Argumente“ (S. 16) in den Antrags- und Gutachterakten der DFG zur Sprachforschung und volkstumszentrierten Sprachwissenschaften in der Vorkriegszeit sowie deren Fort- und Nachwirken in der Bundesrepublik bis in die 1960er Jahre herauszuarbeiten. Gab es Transformationen im Duktus der Förderungsanträge der DFG respektive Reichsforschungsrats? Allein die Auswahl der rund 513 geförderten Projekte für die Weimarer Zeit bis Ende der NS-Zeit (S. 16, 50f. 59); und rund 1.500 Anträge, also das Dreifache, für die ersten 20 Jahre der Bundesrepublik Deutschland (S. 231f.) scheint eine genügend grosse Basis zu sein.

Dies ist in der Tat eine beachtliche Fülle von Material, die unter dem Gesichtspunkt der Förderintentionen und Forschungsschwerpunkte der Fachgutachter eine enorme Darstellungsbreite und -tiefe zuließe. Jedoch wird sie operationell eher aneinander gereiht ohne strukturierte Analyse. Ehlers Einschätzung der Quellen irritiert: Auf Seite 41 erwähnt er, die gedruckten Berichte und Verlautbarungen der DFG böten keine „tragfähige Informationsbasis“. Sowohl auf Seite 16 als auch auf Seite 49 heißt es die „fragmentarische Quellenüberlieferung“ der staatlich geförderten Sprachforschung gäbe keinen direkten „geschlossenen Überblick“, obwohl diese im Absatz zuvor als glücklicherweise „vielfach besonders dicht“ für gewisse Bereiche bezeichnet wird. Auf Seite 225 wird die Quellenlage der Vorkriegsakten wiederum als äußerst lückenhaft und teilweise ausgesprochen dünn bezeichnet. Für die Nachkriegszeit stelle die Quellenbasis hingegen eine durchgängig nachvollziehbare Situation dar. Im Resümee bietet schliesslich die Aktenlage ein „weites und fruchtbares Beobachtungsfeld“ (S. 334).

Doch dies scheint nicht die einzige inkonsistente Führung durch den Autor. Sie zieht sich auch bei der Auswahl der Anträge der DFG durch. In dem mit 75 Seiten umfangreichsten Kapitel über „Antragsrhetorik“ der 1920 und 30er Jahre unterscheidet Ehlers zwischen „innerfachlicher“, „interdisziplinärer“ und „ausserwissenschaftlicher Relevanz“. Es werden keine Cluster gebildet oder regionale Strukturen in der Forschungsförderung aufgezeigt, wie sie in der Wissenschaftsgeschichte mittlerweile Standard geworden sind, sondern Saarforschung neben vor- und frühgeschichtlicher Erforschung des Ostens bis hin zur Zipser Volkskunde neben Sprachatlanten fortlaufend aufgeführt und nur nach ihrer jeweiligen „Relevanz“ gebündelt. Für meinen Geschmack fehlt es hier an einer Begründung für die Kategorisierung. Denn die regionale Sprachforschung war ein zentrales politisches Forschungsprogramm der ‚Volksforschung‘ im Zuge der weiteren territorialen Ansprüche des NS-Regimes, da die vermeintlichen Sprachgrenzen mehr den Gegebenheiten des NS-Volksgruppenrechts angepasst werden mussten.1 Die Forschungen über das „Grenz- und Auslandsdeutschtum“ erhielten seit Mitte der 1920er Jahre einen nationalpolitischen Stellenwert, dem sich auch die DFG nicht entziehen konnte oder wollte (vgl. etwa 94ff. und 128f.). Die Projekte des russlanddeutschen Georg Leibbrandt wie auch des Spezialisten für das Volksgruppenrecht in den USA Heinz Kloss, Deutsches Ausland-Institut und Leiter der Publikationsstelle Übersee in Stuttgart, stellen wohl eher das Förderungsspektrum der DFG dar, als explizite Sprachforschung. Während alle anderen Forschungsfelder in irgendeiner Form von Ehlers angeschnitten werden, berücksichtigt er indes nicht das junge Fach Zeitungswissenschaften in der Sprachforschung, was nicht wirklich einsichtig ist.2

Die forschungspolitische Steuerung durch die Fachgutachter der DFG stellt einen weiteren Aspekt dar, welcher meines Erachtens unterrepräsentiert ist. Gerade in den 1990er Jahren vertraten verschiedene Arbeiten über die NS-Wissenschaft die These, dass zentrale Akteursnetzwerke die Forschungsförderung nicht nur gesteuert hätten sondern dezidiert auch deren politische Verwertung. So bleibt die Rolle der Fachgutachter bei Ehlers nicht weiter hinterfragt, obwohl nicht nur die Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft und die anderen fünf volksdeutschen Forschungsgemeinschaften durch ihre Vorsitzenden und Leiter einen direkten Zugriff auf die deutsche Forschungsfinanzierung in Ministerien und der DFG verfügten, sondern auch einen Grossteil der kulturwissenschaftlichen DFG-Fachgutachter stellten. Diese Grundlagenforschungen von Michael Burleigh, Gabriele Camphausen, Karen Schönwälder, Michael Wedekind, Peter Schöttler, Carsten Klingemann und Ingo Haar und andere wiesen nach, dass die regional organisierten Forschungsnetzwerke für die weitreichenden Entwicklungen der West-, Ost, Südost- und alpenländischen Forschung und der NS-Besatzungspolitik mitverantwortlich zeichneten. Die Reichweite ihrer Netzwerke sollte auch in der Nachkriegszeit für die ersten zwei bis drei Jahrzehnte des Kalten Kriegs noch nachwirken. Wer nun erwartet, Ehlers würde nahe liegender Weise die These empirisch überprüfen, ob diese Netzwerke tatsächlich Forschungsfelder und DFG-Förderungsgebaren in den Kulturwissenschaften dominierten, wird enttäuscht. Auf keines der genannten Grundlagenwerke geht der Autor ein.

Ehlers hebt dagegen hervor, dass von der DFG lexikalische Werke, dialektgraphische, und volkskundliche Mundartforschungen bis hin zu Forschungen in sogenannten Sprachinseln in der „Operationszone Alpenvorland“ gefördert wurden (S. 60–74). Ob das Ziel der „politischen Verwertung“ dieser Forschungen nun annexionistisch war, oder ob sie auslandsdeutsche Dialekte in den Nachbarstaaten betrafen, oder im europäischen Kontext zur Dekomposition im Sinne einer Neuordnung Europas dienen sollte, indem die „regionalen Varietäten“ der Sprachformen untersucht wurden, ist in der Tat eine interessante Frage, die Ehlers aufwirft. Leider unterlässt er es, genau dieser Frage weiter nachzugehen. Es gab 1939 zweifelsohne auch kriegswichtigere Themen, als weiterhin die Dialektologie zu fördern. Warum gerade in den besetzten Gebieten sogenannte Volkstumsforscher aus dem SS-Ahnenerbe, dem Volksbund für das Deutschtum im Ausland oder dem Deutschen Ausland-Institut in diesem Gebiet Forschungen intensiv ohne die DFG weiterführten, bleibt indes offen.

Ein eigenes Kapitel erhält die Förderung von Fachzeitschriften, die exemplarisch am Indogermanischen Jahrbuch, der Zeitschrift für slawische Philologie und der Zeitschrift für Ortsnamenforschung dargestellt wird. Hier ist bedeutsam, dass die DFG, die 1932/33 noch 21 sprachwissenschaftliche Zeitschriften förderte, 1936 im Zuge der Restrukturierung der Forschungsförderung eine Kurskorrektur vornahm. Nunmehr fand eine einschneidende Vereinheitlichung und Gleichschaltung der Zeitschriften statt (S. 154ff.). Mit Kriegsbeginn wurde die Zahlung an Zeitschriften zwar nicht sistiert, jedoch mussten die Redaktionen erhebliche finanzielle Einbussen in Kauf nehmen, bis gegen Kriegsende die Einstellung der meisten Zeitschriften wegen der Papierknappheit erfolgte. Ehlers resümiert, dass die DFG an der „zweiten Entlassungswelle“ der entrechteten Wissenschaftler insofern beteiligt waren, als ihnen auch als Privatgelehrte die Möglichkeit Artikel zu publizieren systematisch entzogen wurde (S. 195).

Die Mundartenwörterbücher stellten ein – so Ehlers – sprachwissenschaftliches Kartell im Rahmen der DFG mit einer Förderung von der Hälfte aller sprachwissenschaftlichen Projekte dar. Deren Anteil sollte in der Nachkriegszeit gegen 40% sinken. Das von der „Reichsgemeinschaft der deutschen Volksforschung“ geleitete Großprojekt war allerdings nicht nur ein innerdeutsches kulturräumlich orientiertes Projekt, sondern auch ein im Sinne der Neuordnung Europas wirkendes Ordnungsinstrument. Denn mittels der Erfassung der Dialekte wurde die Wende in der reichsdeutschen Ethnokartographie erreicht, um weitergehende Annexionspläne nach der Rückgewinnung des Saarlands auszuarbeiten. Seit März 1935 wurde eine neue Sprachenkarte als Volkstumskarte in Zusammenarbeit mit der Zentralkommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland im Aufgabenbereich der VFG gefördert und durch die DFG finanziell abgesichert. Sie sollte den Schulen, dem VDA und den Behörden zur Veranschaulichung des ‚deutschen Volksgebiets‘ bis Ende 1937 zur Verfügung gestellt werden.3

Der Abschnitt über die Nachkriegszeit wird von einem kurzen Abriss über den Zustand der deutschen Sprachwissenschaften eingeleitet, die offenbar von einem „Bürgerkrieg“ wie etwa in der Soziologie (Gunther Ipsen versus Réne König) verschont geblieben ist und dadurch ihre Forschungen bis in die 1960er Jahre unbehindert weiterverfolgen konnte. Hinsichtlich der personellen Kontinuitäten ist es bemerkenswert, wie lange sich die DFG-Fachgutachter halten konnten. So wurde der Ostforscher Max Vasmer etwa erst 1959 durch seine Schülerin Margarethe Woltner abgelöst, die ebenfalls in der Publikationsstelle Ost und der Ostforschung Karriere gemacht hatte4 (S. 235). Damit werden anhand personeller Kontinuitäten und innerfachlicher Persistenz deutlich, warum sich die Sprachforschung in der Nachkriegszeit Neuerungen gegenüber wenig aufgeschlossen verhielt. Dies ist ein Problemkreis, dem die neuere Wissenschaftsgeschichte seit etwa zehn Jahren verstärkt nachgeht. Doch ohne diese Zusammenhänge im Detail aufzuzeigen, was die Lektüre interessanter gemacht hätte, verbleibt Ehlers auch hier im Deskriptiven. So entgeht Ehlers, dass praktisch die gesamte Gutachterriege der DFG in den Sprachwissenschaften in der Nachkriegszeit (einschliesslich des völkischen Soziologen Gunther Ipsen!) den völkischen Wissenschaften vor 1945 entstammte (S. 241, 254 und 258). Auch die Mundartenforschung wurde ein Projekt des Vertriebenenministers Hans Lukascheck und des Ministers für Gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser nach 1945 (S. 274). Neben der Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Ostmitteleuropa wurde sie zu einem der fragwürdigsten Forschungsprojekte. Dass die Forschung über deutsche Vertriebene noch heute umfangreiche Forschungsgelder bindet, bleibt angesichts der historischen Fakten dabei eher als ernüchternde Erkenntnis zurück denn als Novum.

Ein interessanter Aspekt wird von Ehlers über den Nationalsozialisten Walter Porzig angeführt, der mit ausgezeichneten Kontakten zur Schweizer Frontistenszene im Zuge der Reinigung der Berner Universität von Nazis 1935 entlassen wurde. Dem Schweizer Albert Debrunner erging es übrigens wegen seiner kritischen politischen Äusserungen nicht anders, auch er wurde von der Universität Jena entlassen (S. 121, 159f., 237–246). Dass Porzig zu einem vielseitig gefragten Gutachter und Projektinitiant der DFG werden konnte, weist auf die damals schon existierende Versorgung von Kostgängern hin, als noch nicht wiederverwendungsfähige Hochschullehrer durch die DFG-Gutachter als förderungswürdig eingestuft wurden. Die Gruppe um Leo Weisgerber und Walter Porzig konnte trotz des geringeren Anteils an Förderungen von 3.2% sehr langfristige Versorgungseinrichtungen bedienen (S. 297–298). Dass dies Auswirkungen selbst auf die Sprachvereine in der Bundesrepublik hatte, denen die alte Garde, neben Weisgerber unter anderem auch Otto Brunner, für die „Sprachpflege“ zur Verfügung stand5, findet man bei Ehlers allerdings nicht mehr.

Wissenschaftliche Sprachforschung ist ein Beispiel, wie weit die DFG Residuum von politischen Altlasten war. Die Sprachforschung, die beim Militär als kriegswichtig eingestuft wurde und in der Nachkriegszeit in der Vertriebenenforschung einen beachtlichen Resonanzboden fand, blieb davon nicht verschont. Offenbar bis in die Gegenwart: In der Dialektforschung an russlanddeutschen ‚Spätheimkehrern‘ werden noch heute, wenn nicht neue Erkenntnisse produziert, so doch Steuergelder gebunden.6

Anmerkungen:
1 Vgl. Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienste der NS- Politik? Die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften von 1931 bis 1945, Baden-Baden 1999.
2 Vgl. etwa dagegen Wolfgang Duschkowitsch, Fritz Hausbjell, Bernd Semrad (Hrsg.), Die Spirale des Schweigens. Zum Umgang mit der nationalsozialistischen Zeitungswissenschaft, Wien 2004.
3 Bundesarchiv, R153/1559, Protokoll der Sitzung vom 26.2. 1936, Bl. 46f. Der Maßstab der Volkstumskarten wurde auf 1:3 Mio. festgelegt. Vgl. Aktennotiz der Besprechung vom 12.6. 1936. Vgl. auch Bundesarchiv R73/323, Friedrich Metz an Eduard Wildhagen vom 5.10. 1935.
4 Vgl. dagegen zum Schicksal der Ostforscherin Hildegard Schaeder, die keine Karriere mehr in der BRD machen konnte die vorzügliche Arbeit von Heike Anke Berger, Deutsche Historikerinnen 1920–1970. Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik, Frankfurt am Main 2007.
5 Vgl. Karoline Wirth, Der Verein Deutsche Sprache. Hintergrund, Entstehung, Arbeit und Organisation eines deutschen Sprachvereins, Bamberg 2011, S. 101–115, 111.
6 Vgl. Thomas Gross, Vorher das Hirn eikljutschae, dann erst zammeschreiwe in FAZ vom 28.09.2011, Nr. 226: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/2.1718/vorher-das-hirn-eikljutschae-dann-erst-zammeschreiwe-11374480.html

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