T. Ditt: "Stoßtruppfakultät Breslau"

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Titel
"Stoßtruppfakultät Breslau". Rechtswissenschaft im "Grenzland Schlesien" 1933-1945


Autor(en)
Ditt, Thomas
Reihe
Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts
Erschienen
Tübingen 2011: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XIV, 318 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Felz, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

1935 veröffentlichte Ludwik Fleck seine grundlegende, aber lange unbeachtet gebliebene Epistemologie der Wissenschaftsgeschichte „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“.1 Fleck arbeitete die Bedeutung von wissenschaftlichen Vergemeinschaftungen im Sinne eines „Denkkollektivs“ heraus, welches durch eine geteilte szientistische Weltsicht, aber auch standes- oder generationenspezifische Bindungen sowie der Herausbildung eines der gruppeninternen Kommunikation dienenden „Denkstils“ zusammengehalten werde.2 Ebenfalls im Jahr 1935 rief der Rechtshistoriker Karl August Eckhardt in seiner Funktion als Hauptreferent der Hochschulabteilung des Reichswissenschaftsministeriums die „neuen Leitsätze“ für die Studenten der Rechtswissenschaft aus, in denen die Universitäten Kiel, Königsberg und Breslau als „politischer Stoßtrupp“ ausersehen waren – der Versuch einer wissenschaftspolitischen Kollektivbildung, der sich mehr an Ernst Jünger als an Wilhelm von Humboldt orientierte.

Diesem hochschulpolitischen Projekt eines staatlich forcierten „Denkkollektivs“ als intellektuellem „Stoßtrupp“ geht Thomas Ditt in seiner von dem Frankfurter Rechtshistoriker Thomas Henne betreuten und mit dem Werner-Pünder-Preis ausgezeichneten Dissertation nach. Ditt beschränkt die Untersuchung bewusst auf die Etablierung und Durchführung des Programms „Stoßtruppfakultät“ und intendiert weder eine Gesamtchronik der Fakultät im Untersuchungszeitraum, noch eine Aufarbeitung der „Verstrickungen“ in den NS-Staat.3 Ergänzt um die Frage nach der Bedeutung des Status’ einer „Grenzlanduniversität“ konnte er insbesondere den fast vollständig erhaltenen Aktenbestand der Fakultät im heutigen Wrocław sowie das juristische Schrifttum der Breslauer Dozenten für seine Analyse nutzen.

Im „Prolog“ nähert sich Thomas Ditt der Fakultät zur Zeit der Weimarer Republik anhand einiger „politischer Fälle“ an 4, wobei die Breslauer Juristenschaft im Gegensatz zu den traditionsreicheren Universitäten in Berlin und Leipzig oder den stärker praxisorientierten Fakultäten in Köln und Hamburg eher „profillos“ erschien. Die beiden DNVP-Mitglieder und Staatsrechtler Axel Freiherr von Freytagh-Loringhoven sowie Hans Helfritz erzeugten mit ihrer Agitation gegen die Republik reichsweites Aufsehen, und der Straf- und Völkerrechtler Arthur Wegner war ein frappantes Beispiel für eine politische Wanderung vom linken politischen Rand zum Nationalsozialismus. Schließlich beschreibt Ditt detailreich, wie sich antidemokratische und antisemitische Ressentiments gegen die Professoren Ludwig Waldecker und Ernst Cohn richteten, die von verleumderischen Zeitungsartikeln und Unterrichtsboykotten getroffen wurden.

Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom April 1933 begann die Umstrukturierung der Breslauer Juristenfakultät. Der „Arisierung“ fielen über zehn Dozenten zum Opfer. Breslau hatte damit einen der höchsten Personalverluste von Rechtswissenschaftlern reichsweit zu verzeichnen. Berufen wurden nun als Mitglieder des juristischen „Stoßtrupps“ der Völkerrechtler Gustav Adolf Walz, der seit 1931 der NSDAP angehörte und das Rektorenamt von 1933 bis 1937 inne hatte, sowie die Zivilrechtler Heinrich Lange und Hans Würdiger. Für eine strafrechtliche Professur kam Heinrich Henkel, und schließlich folgten der Rechtshistoriker Hans Thieme und der Völkerrechtler Norbert Gürke. Damit war bis 1935 das personalpolitische Revirement abgeschlossen. Johannes Nagler, Walter Schmidt-Rimpler, Hans Helfritz, Axel Freiherr von Freytagh-Loringhoven und Hans Albrecht Fischer waren schon in der Weimarer Republik nach Breslau berufen worden.

Im ersten Kapitel „Konzepte und Personalpolitik“ porträtiert Thomas Ditt den „Führerrektor“ Gustav Adolf Walz und zeichnet dessen Positionierung in der nationalsozialistischen „Rechtsstaatsdebatte“, seine Begriffsschöpfung des „völkischen Führerstaates“ sowie den Machtausbau durch die Übernahme der Herausgeberschaft von Fachzeitschriften nach. Auch die vielfältigen Pläne zum Ausbau der Universität als „Reichsland“- bzw. „Grenzland-Universität“ werden detailliert aufgefächert. Lehrstühle für Rassenkunde, Vorgeschichte, osteuropäische Geschichte und Volkskunde wurden errichtet, die Propagierung eines „Ostsemesters“ war dagegen weniger erfolgreich. Während die „Grenzland“-Konzeption auch von anderen Universitäten im Reich beansprucht wurde, war das Prädikat „Stoßtruppfakultät“ exklusiv den Rechts- und Staatswissenschaften in Kiel, Breslau und Königsberg vorbehalten. Sowohl die begriffsgeschichtliche als auch hochschulpolitische Genese dieses Schlagwortes wird in einem Abschnitt skizziert, um danach anhand der Neuberufungen von Lange, Würdinger, Henkel, Thieme, der Integration des vormaligen Honorarprofessors Freytagh-Loringhovens in die Fakultät sowie des zweisemestrigen Intermezzos des Experten für das völkische Minderheitenrecht, Norbert Gürke, vor allem die generationelle Geschlossenheit des Lehrkörpers herauszustellen. Alle Neuberufenen waren zwischen 1897 und 1906 geboren und gehörte damit zu der von Detlev Peukert identifizierten „überflüssigen Generation“.5 Der Vergleich mit der Kieler „Stoßtruppfakultät“ macht deutlich, dass auch dort Angehörige dieser Generation (beispielsweise Karl Larenz und Ernst Rudolf Huber) berufen wurden, und dies noch planmäßiger und gezielter als in Breslau.6 Nach diesem Vergleich von Kiel und Breslau beurteilt Thomas Ditt allerdings die Zusammenfassung dieser Juristen durch Bernd Rüthers zu einer „Sozialisationskohorte“ aus jungen, bürgerlichen und deutsch-nationalen Rechtswissenschaftlern eher skeptisch.7 Herkunft und politische Ausrichtung seien, so Ditt, dafür zu verschieden gewesen. Schon ab 1937 veränderte sich das Profil der Breslauer Fakultät durch die Abgänge von Walz, Schmidt-Rimpler, Würdinger, Thieme und Lange wieder.

Im zweiten Kapitel wendet sich der Autor den juristischen Inhalten zu. Anhand von Monographien, Instituten und Zeitschriften zeigt er, dass das deutsch-polnische Verhältnis in erster Linie durch eine Vielzahl von Rechtsproblemen (Minderheitenrecht, Oberschlesien-Abkommen, Grenzrevisionen) geprägt war, die durch die Regelungen des Friedensvertrags von Versailles aufgeworfen wurden. Daneben spielte die rechtshistorische Forschung der deutschen Stadtrechte sowie der „Ostkolonisation“ zur Legitimation der Expansion im „Grenzlandkampf“ eine wichtige Rolle.

Zur Frage der intellektuellen Vergemeinschaftung kehrt die Untersuchung im dritten Kapitel zurück. Demnach prägte die Gemeinschaftsideologie das Rechtsdenken der Breslauer Juristen und brach damit mit dem liberalen Individualismus der Weimarer Demokratie. Aber nicht nur normativ, auch faktisch sollte die Gemeinschaft bestimmend sein, so dass das „Wissenschaftslager“ zu einer „neuen Form des akademischen Gemeinschaftsleben“ wurde (S. 212). Berühmtestes Beispiel ist das „Kitzeberger Lager“ (ein Vorort Kiels), in dem sich im Sommer 1935 die nationalsozialistischen „Rechtserneuer“, mehrheitlich aus Kiel und Breslau, trafen. Arbeitsgemeinschaften an den Universitäten sowie das Jüterborger „Gemeinschaftslager Hanns Kerrl“ komplementierten diese Gemeinschaftsideologie.8 Das Denken in „konkreten Ordnungen“ (Carl Schmitt), die Abkehr vom „subjektiven Recht“, das Täterstrafrecht und der Schutz der rassistischen „Volksgemeinschaft“ kennzeichneten das juristische Denken der „Stoßtruppfakultäten“, ohne dass sich wissenschaftliche „Schulen“ im klassischen Sinne herausgebildet hätten. Ein Denkkollektiv war aber aufgrund dieser juristischen Prämissen allenfalls in Kiel entstanden. Ditt macht aber deutlich, dass zwischen Kiel und Breslau die Auffassungen vom Zivilrecht ebenso wenig übereinstimmten wie bei der Diskussion um die Ausgestaltung der Studienordnung oder bei der Frage nach einer Kodifikation im bürgerlichen Recht. Mit einem kurzen Ausblick auf das Kriegsende und die Nachkriegskarrieren der Breslauer Juristen beschließt er seine Arbeit. Besonders aufgrund der scharfen Fokussierung kann Ditt zeigen, welche Dynamik und (Selbst-)Mobilisierung der Nationalsozialismus in seiner Anfangszeit erzeugte und wie trotz der nur vorübergehenden Realisierung der Konzepte „Stoßtruppfakultät“ und „Grenzlanduniversität“ die Rechts- und Staatswissenschaften in Breslau völlig umstrukturiert wurden.

Anmerkungen:
1 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1993, S. 53f.
2 Vgl. dazu auch Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 5-40, hier: S. 24ff.
3 Vgl. zu diesem Problem: Franz Graf-Stuhlhofer, Bewertung durch Auswahl. Wie viel wählt der Wissenschaftshistoriker aus, wie viel übergeht er? In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 18 (1995), S. 227-231.
4 Zu anderen „Fällen“ vgl.: Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band VI: Die Weimarer Reichsverfassung, Stuttgart 1981, S. 987-1002, sowie Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz. Teil 1. Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz, München u. a. 1991, S. 51ff.
5 Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987, S. 25-31.
6 Rudolf Meyer-Pritzl, Die Kieler Rechts- und Staatswissenschaften. Eine „Stoßtruppfakultät“, in: Christoph Cornelißen / Carsten Mish (Hrsg.), Wissenschaft an der Grenze. Die Universität Kiel im Nationalsozialismus, Essen 2009, S. 151-173.
7 Bernd Rüthers, Hatte die Rechtsperversion in den deutschen Diktaturen ein Gesicht? In: Juristenzeitung 62 (2007), S. 556-564.
8 Folker Schmerbach, Das „Gemeinschaftslager Hanns Kerrl“ für Referendare in Jüterborg 1933-1939, Tübingen 2008.

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