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Titel
Die Politik des Wissens. Allgemeine Enzyklopädien zwischen 1928 und 1956


Autor(en)
Prodöhl, Ines
Erschienen
Berlin 2010: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
VII, 301 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Spree, Department Information, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg

Ines Prodöhl beschließt ihre Untersuchung1 zu deutsch(sprachig)en Enzyklopädien zwischen 1928 und 1956 mit einem zutiefst enzyklopädischen – im Sinne der französischen Enzyklopädisten – Plädoyer für einen „vorsichtigen Umgang und die kritische Frage nach der Zuverlässigkeit“ (S. 268) des in allgemeinen Enzyklopädien präsentierten Wissens. In drei Fallstudien arbeitet sie die subtilen Mechanismen heraus, durch die allgemeine Enzyklopädien nicht nur den aktuellen Wissensstand einer Epoche festhalten, sondern vor allem aufgrund der ihnen zugestandene Definitionsmacht über das, was als jeweils wissenswert gilt, als Mittel der politischen und ideologischen Einflussnahme eingesetzt werden. Es ist die besondere Leistung ihrer Untersuchung, dass sie die Frage nach dem Einsatz von Enzyklopädien als Mittel der politischen Einflussnahme in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht auf totalitäre Gesellschaften wie das nationalsozialistische Deutschland und die frühe DDR beschränkt, sondern durch die Einbeziehung des in den Jahren 1945-1948 beim Encyclios Verlag in Zürich erschienenen „Schweizer Lexikon“ zeigen kann, wie allgemeine Nachschlagewerke auch in demokratischen Gesellschaften als Mittel zur Ausübung kultureller und ideologischer Macht funktionalisiert wurden.

Der Arbeit liegt ein weites Verständnis von Enzyklopädie im Sinne von Werken, die „von sich selbst behaupten, Informationsquellen des so genannten Allgemeinwissens zu sein“ (S. 1) zugrunde. Prodöhls Arbeit liefert grundlegende Erkenntnisse über die gesellschaftliche Funktion von Enzyklopädien. In ihrer Untersuchung orientiert sie sich an den zwei einfachen Ausgangsfragen danach, wer festgelegt, welches Wissen in eine allgemeine Enzyklopädie aufgenommen wird und welche Funktionen das auf diese Weise kanonisierte Wissen erfüllt. Mit ihrem Ansatz schließt Prodöhl an das innovative interdisziplinäre Schweizer Forschungsprojekt „Allgemeinwissen und Gesellschaft“ (2002-2006) an, das danach fragte, wie gesellschaftlich anerkanntes Wissen vermittelt wird und die Gesellschaft in ihren Wahrnehmungs- und Deutungsmustern prägt.2 In ihrem Forschungsüberblick arbeitet die Autorin drei Beweggründe eines geschichtswissenschaftlichen Interesses an allgemeinen Enzyklopädien heraus: die Beschäftigung mit Enzyklopädien im Zusammenhang mit begriffsgeschichtlichen Untersuchungen, die Analyse ihrer Rolle im Prozess der Nationenbildung und der Konstruktion nationaler Identitäten sowie ihres Stellenwertes als Medien des grenzübergreifenden globalen Transfers von Wissen. Die methodische Klammer ihrer drei Fallstudien liefert ihr der Ansatz des interkulturellen Transfers oder auch Kulturtransfers, da dieser – anders als im strengen Sinne komparatistische Ansätze – die Analyse des Transfers von Ideen, Institutionen oder Praktiken in Bezug auf konkrete Einzelphänomene erlaubt.

Eine grundsätzliche methodische Schwierigkeit der wissenschaftlichen und insbesondere der vergleichenden Analyse des in Enzyklopädien kanonisierten Wissens ist die Bestimmung der Quellenbasis. Fällt die Entscheidung auf den inhaltsanalytischen Ansatz, besteht von Beginn an das Problem der Festlegung der Artikelauswahl – angesichts des Umfanges solcher Werke verbietet sich eine Vollerhebung in der Regel. Wo die Inhaltsanalyse nicht greifen kann, wird häufig auf die Rekonstruktion der Publikationsgeschichte einzelner Werke zurückgegriffen. Prodöhl wählt einen innovativen dritten Weg, indem sie sich auf die Untersuchung des Beziehungsgeflechts dreier großer enzyklopädischer Projekte konzentriert. Dieser Ansatz erlaubt es die Wechselwirkungen zwischen staatlichen, zivilgesellschaftlichen und unternehmerischen Akteuren und Aktivitäten zu berücksichtigen. Als wichtige analytische Kategorie greift Prodöhl den auf den Politikwissenschaftler Joseph S. Nye zurückgehenden Ansatz der ‚soft power’, der ‚weichen Macht’, auf. Weiche Macht bezeichnet die Machtausübung innerhalb von Gemeinwesen, die sich als Ausdruck der Mehrheit der Gesellschaft präsentiert und eher auf Überzeugungskraft und Attraktivität der Ziele setzt als auf explizite politische Zwangsmaßnahmen. Unter der Prämisse, dass es für Diktaturen Ziel führend sein kann, in der Zivilgesellschaft bestehende weiche Macht nicht zu verbieten, sondern für ihre Zwecke zu nutzen und zu steuern, lässt sich dieser – ursprünglich zur Untersuchung von ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen in Demokratien entwickelte Ansatz – auch auf die Analyse totalitärer System anwenden (vgl. S. 24).

In der Fokussierung auf die Publikationsgeschichte(n) von Enzyklopädien aus dem Verlag F. A. Brockhaus, dem Bibliographischen Institut und einer Verlagskooperation von fünf Schweizer Verlagen gelingt es Prodöhl die diachrone Perspektive immer wieder mit synchronen Vergleichen zu verschränken. In drei diachronen Schnitten arbeitet die Verfasserin die Entstehung ausgewählter allgemeiner Enzyklopädien im Untersuchungszeitraum (1928-1956) auf. Im Mittelpunkt des ersten Fallbeispiels steht eine vergleichende Darstellung der Publikationsgeschichte der 15. Auflage des Großen Brockhaus (1928-1935) und der 8. Auflage von Meyers Lexikon (1936-1942). In ihrer dichten Darstellung der ökonomischen, sozialen und politischen Verflechtungen lotet Prodöhl sensibel den Handlungsspielraum der Akteure zwischen stiller Anpassung und der Verfolgung eines dezidiert nationalsozialistischen Kurses aus. Berücksichtigt wird der Einfluss behördlicher Überwachungsmaßnahmen und kulturpolitischer Interessen ebenso wie die wirtschaftliche Positionierung der Verlage und ihrer Mitarbeiter. Untersuchungsgegenstand sind neben personellen Verflechtungen auch Auseinandersetzungen zwischen Zensurbehörden, Verlagen und Autoren über einzelne Stichworte wie Konzentrationslager oder Schriftwalter (S. 114). Als wahrer Glücksgriff entpuppt sich die in der zweiten Fallstudie durchgeführte vergleichende Darstellung konkurrierender Lexikonprojekte in Deutschland und der Schweiz zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Prodöhl stellt die lexikographischen Aktivitäten in den Kontext des Schweizer Buchhandels- und Verlagswesens. Eine ähnliche sinnvolle Kontextualisierung bereichert auch das dritte Fallbeispiel, das die Darstellung der wechselvollen Entwicklung lexikographischer Projekte in der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR im Kontext der Zentralisierung und Kontrolle privater Verlage diskutiert. Unter anderem aufgrund dieser Kontextualisierung und der Aufarbeitung der Geschichte des – letztlich gescheiterten – Übersetzungsprojektes der Bol’šaja Sovetskaja Enciklopedija in der DDR gelangt Prodöhl zu dem verblüffenden Ergebnis, dass die in den Entstehungsprozess der jeweiligen Enzyklopädien involvierten zivilgesellschaftlichen Akteure und Unternehmen im ‚Dritten Reich’ größere Freiräume hatten als in der SBZ/DDR. Im Fazit verdichtet Prodöhl ihre Ergebnisse überzeugend auf sechs Thesen (vgl. S. 260-263), wobei vier Thesen eher inhaltlicher Natur und zwei Thesen eher methodischer Natur sind.

1. Das Konversations-Lexikon des 19. Jahrhunderts kann verstanden werden als eine Form der „zivilgesellschaftlichen Selbstbehauptung“.

2. Die im 19. Jahrhundert angelegte national orientierte Identitätsstiftung allgemeiner Enzyklopädien verschärfte sich im Nationalsozialismus und in der DDR.

3. Sowohl im nationalsozialistischen Deutschland als auch in der SBZ/DDR, aber eben auch in der demokratischen Schweiz, wurden Enzyklopädien genutzt um Akzeptanz für staatlich-administrative Maßnahmen zu erzeugen und die Wertvorstellungen einer Gesellschaft im Sinne der herrschenden Ideologie zu beeinflussen.

4. Trotz, oder eher wegen der nationalen Ausrichtung, enthalten Allgemeine Enzyklopädien immer auch eine an das Ausland gerichtete kulturpolitische Botschaft. Ausschlaggebend hierfür können neben im engeren Sinne ideologischen auch ökonomische Ziele (zum Beispiel Absatzsteigerung, Marktbesetzung) sein.

5. Das zur Analyse zivilgesellschaftlicher politischer Einflussnahme in demokratisch verfassten Gesellschaften entwickelte Konzept der weichen Macht eignet sich auch für die Untersuchung von Machtstrukturen in totalitären Systemen.

6. Die Analyse kultureller Transferleistungen ist ein sinnvolles methodisches Instrumentarium zur Erforschung globaler Verflechtungen.

Ines Prodöhl gibt in ihrer Untersuchung auf der Basis profunder Primärquellen-Arbeit einen tiefen Einblick, wie Gesellschaften Enzyklopädien nutzen, um Identität zu stiften und einen gesellschaftlichen Konsens über das jeweils „zu Wissende“ zu erzeugen. Ganz nebenbei eröffnen die sorgfältig eng an den Quellen erarbeiteten Fallstudien interessante Aufschlüsse über die Geschichte des Verlags- und Buchhandels in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sorgfältige Quellenarbeit bei gleichzeitiger theoretischer Unterfütterung gehen jedoch an keiner Stelle auf Kosten der guten Lesbarkeit. Mit ihrer Arbeit hat Prodöhl einen Standard für die historische Auseinandersetzung mit allgemeinen Enzyklopädien gesetzt und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitere historische Analysen zum Beispiel über das Zusammenwirken wirtschaftlichen Handelns und ideologischer Einflussnahme in unterschiedlichen totalitären Systemen. Über den engen historischen Rahmen hinaus weist Prodöhl mit ihrem Ansatz auch einen methodischen Weg für die Untersuchung von Funktion und Wirkungsweise zeitgenössischer kollaborativer Enzyklopädieprojekte wie Wikipedia oder Conservapedia. Fazit: eine absolut lesenswerte Studie, der eine breite Leserschaft weit über den engen Kreis der historischen Zunft hinaus zu wünschen ist.

Anmerkungen:
1 Das Buch basiert auf einer leicht überarbeiteten Fassung der Dissertation von Ines Prodöhl, die unter dem Titel „Die Politik des Wissens. Allgemeine Enzyklopädien im ‚Dritten Reich’, in der Schweiz und in der SBZ/DDR’ im WS 2007/2008 von der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg angenommen wurde.
2 „Allgemeinwissen und Gesellschaft“, <www.enzyklopaedie.ch> (27.07.2011).

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