T. Kailer: Vermessung des Verbrechers

Cover
Titel
Vermessung des Verbrechers. Die Kriminalbiologische Untersuchung in Bayern, 1923-1945


Autor(en)
Kailer, Thomas
Anzahl Seiten
436 S.
Preis
€ 35,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Becker, Institut für Geschichte, Universität Wien

Wer aus heutiger Perspektive die Kriminalbiologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet, steht unweigerlich vor dem Rätsel, welche Rolle die Biologie gespielt hat. Die mikrobiologische Orientierung der aktuellen neurowissenschaftlichen Forschungen zur Gewaltkriminalität lässt eine solche Frage für die heutige Spielart der kriminalbiologischen Forschung gar nicht aufkommen. Wie Thomas Kailer ausführt, lag für den Straubinger Gefängnisarzt Theodor Viernstein und seine Mitte der 1920er-Jahre aufgebaute kriminalbiologische Untersuchung die Sache anders. In dessen Design frappiere „die Abwesenheit genuin biologischer Untersuchungspunkte“. „Das eigentlich Biologische an der Kriminalbiologischen Untersuchung war nur Viernsteins Prämisse, der Verbrecher sei als ‚biologisches Wesen‘ in seinen psychischen und sozialen Ausprägungen durch das Verhältnis von Anlage-Umwelt bestimmt“ (S. 239).

Die Abwesenheit der Biologie in der Kriminalbiologie ist nicht das schwierigste Problem, das Kailer in seiner Studie anspricht. Die kriminalbiologische Untersuchung entpuppt sich bei näherer Beschäftigung als ein konzeptuell nicht eindeutig zuzuordnendes Objekt der geschichtswissenschaftlichen Neugierde. Sie war ebenso ein wissenschaftliches Projekt im Rahmen der neuen kriminologischen Forschung wie eine Strategie zur karrieretechnischen Positionierung von Strafanstaltsärzten; sie war Instrument zur Klassifikation von Strafgefangenen und ein wesentlicher Beitrag zu einer kriminalpolitischen Vision, die auf die endgültige Befreiung der Gesellschaft von „erkannten Dauerschädlingen“ (S. 206) abzielte.

Es ist eine Stärke von Kailers Studie, dass er sich einer vereinfachenden Vorstellung vom Bezug zwischen Theorie, Politik und Praxis verweigert. Er postuliert kein Primat der theoretisch-wissenschaftlichen Debatte, deren Ergebnisse dann lediglich in die kriminalbiologische Klassifikation und deren Anwendung umgesetzt würden. Die kriminalbiologische Untersuchung ist für ihn nicht Anwendung theoretischen Wissens, sondern Teil eines „wechselwirkenden Beziehungsgeflechts […] zwischen lebensweltlichen Evidenzen und unhinterfragten Annahmen über das Wesen des Verbrechers und der Verbrecherin einerseits, einem gelehrten Diskurs in Text und Begriff andererseits und schließlich einer am Einzelfall und an der Pragmatik des Alltags orientierten Praxis, die das ihr (sich selbst) gestellte sozialpolitische Problem zu lösen hatte - nämlich […] eine zutreffende soziale Prognose zu stellen“ (S. 397).

Diesem Beziehungsgeflecht nähert sich Kailer mit einem gut sortierten theoretischen Werkzeugkoffer mit der Wissenssoziologie von Ludwig Fleck und der Dispositivanalyse von Michel Foucault an prominenter Stelle. Mit dem Konzept des Dispositivs erschließt er das Zusammenspiel von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken, das heißt die gemeinsame Grundlage von kriminologischer Debatte, Ausgestaltung des Fragebogens und dessen Nutzung in konkreten Untersuchungssituationen. Mit dem Konzept des Denkstils eröffnen sich neue Möglichkeiten für ihn, die Verbindung von Theorie, Praxis und Politik in einem problemorientierten Wissensfeld wie der Kriminologie neu zu denken. Er nimmt hier Konvergenzen in der kriminologischen Forschung, in der Gestaltung des Fragebogens und in der konkreten Anwendung in den Blick und fragt besonders nach den gesellschaftlichen wie politischen Pull-Faktoren, die eine Realisierung des Projektes von Viernstein möglich machten.

Kailers Buch besticht durch die sorgfältige Analyse der Anstrengungen Viernsteins, das Projekt einer umfassenden Verdatung von Häftlingen innerhalb des Arbeitsalltags von Strafanstalten ebenso zu verankern wie innerhalb des kriminologischen Diskurses und innerhalb einer neuen Kriminalpolitik. Man könnte hier einen gewissen Einfluss von Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie vermuten, die ja den Blick auf die Strategien der Positionierung, Adaptierung und Allianzbildung bei der Entwicklung und Etablierung von neuen Technologien lenkt.1 Diese Stoßrichtung verfolgt Kailer, wenn er anhand von Viernsteins Denkschriften und der Reaktionen des Ministeriums die Entstehung einer dauerhaften Allianz mit der bayerischen Regierung rekonstruiert, die allerdings erst nach einer Redefinition des Projektes möglich wurde: „Sicherlich auch ermutigt durch die positive Resonanz, die sein erweiterter Fragebogen im Justizministerium hervorgerufen hatte […] trat Viernstein dann im Frühjahr 1923 erneut an das Ministerium heran und schlug in mehreren Briefen vor, seine erweiterte Untersuchung, die er nun Kriminalbiologische Untersuchung nannte, auch in den anderen bayerischen Strafanstalten einzuführen“ (S. 174).

Kailer argumentiert ganz treffend, dass nicht die Überlegenheit von Viernsteins kriminologischer Theorie für das bayerische Ministerium ausschlaggebend war, sondern „das Potenzial der Kriminalbiologischen Untersuchung, gleich mehrere Probleme des Strafvollzugs zu lösen - und das dazu auf vermeintlich wissenschaftlich-objektive Weise“ (S. 175). Dieses Potenzial des kriminalbiologischen Projektes war nicht einfach vorhanden, sondern wurde von Viernstein gezielt hergestellt, indem er auf entsprechende politische Bedürfnisse reagierte. Die Bereitschaft zur Reformulierung und Repositionierung zeigt Kailer anhand Viernsteins Denkschrift von 1933. Die Kriminalbiologie wurde nun vom Instrument des Stufenstrafvollzugs zur Entscheidungshilfe für die Sicherungsverwahrung umgedeutet, weil sie die Grenze der Erziehungsbemühungen „hart und sicher“ (S. 211) dort ziehen konnte, wo die Wahrscheinlichkeit der Besserung endete.

Kailer bietet dem Leser ein gut geschriebenes und vom Verlag ansprechend gestaltetes Buch, das die kriminalbiologische Untersuchung aus wissenschafts-, institutionen- und politikgeschichtlichen Perspektiven kommentiert. Dabei setzt sich der Autor nicht nur mit dem oben angesprochenen Problem des Stellenwerts der Biologie in der Kriminalbiologie, sondern auch mit der grundlegenden Frage nach dem Zweck der kriminalbiologischen Untersuchung auseinander. Das kriminalpolitische Bedürfnis nach einer wissenschaftlich legitimierten Entscheidungshilfe für die Umsetzung des Stufenstrafvollzugs spielte sicherlich eine Rolle, wie Kailer argumentiert. Zusätzliche Interessen waren ebenso im Spiel. Das erklärt sich für ihn aus der eigenwilligen Praxis dieser Untersuchung: Nur zwei Gefangene pro Woche wurden von einem Arzt untersucht, der Rest der Gefangenen von so genannten „Hilfsuntersuchern“ – obwohl Viernstein nicht müde wurde, die alleinige Kompetenz des Arztes zu betonen, wie Kailer anhand seiner Denkschriften nachweist. Die oberflächliche Untersuchung des Großteils der Gefangenen erfolgte auf „einfache, lebensweltliche Weise“ und sollte trotz beschränkter Einbeziehung von psychologischen und sozialen Kategorien verbindliche Schlussfolgerungen erlauben. „Es drängt sich an dieser Stelle im historischen Rückblick, vermutlich aber auch schon für das damalige Anstaltspersonal die Frage auf, warum es, wenn es für die Mehrzahl der untersuchten Gefangenen genügte, eine soziale Prognose auf der Basis psychologischer und sozialer Kategorien zu erstellen, überhaupt einer ausführlichen, charakterologischen Untersuchung bedurfte“ (S. 198). Kailer erklärt dieses Paradoxon mit dem Forschungsinteresse von Viernstein und der damit verbundenen Hoffnung, zu einem umfassenden Mapping von Kriminalität innerhalb der bayerischen bzw. deutschen Gesellschaft beitragen zu können.

Mapping ist ein zentraler Begriff in dieser Studie. Er wird verwendet, um die „Ausmessung und Erfassung der körperlichen, sozialen und psychologischen Wesenheit der einzelnen Gefangenen“ zu bezeichnen – Mapping the Criminal als Leitbegriff und Überschrift zu dem Kapitel über die kriminalbiologische Untersuchung. In dem darauf folgenden Kapitel bezeichnet Mapping Criminality den Versuch der namentlichen „Erfassung der Verwandtschaft des einzelnen Gefangenen, wodurch eine ‚verbrecherische Schicht‘ innerhalb der Bevölkerung abgegrenzt und vermessen werden sollte“ (S. 22).

In dem langen Kapitel zum Mapping the Criminal kann Kailer die Stärke seiner eigenen empirischen Forschungen zum Tragen bringen. Er hat aus den etwa 27.000 überlieferten Fallakten der kriminalbiologischen Sammelstelle eine nicht systematische Stichprobe von 500 Fällen gezogen und diese text- und diskursanalytisch ausgewertet. Im Text selbst ist die Fallanalyse eingebunden in eine gut reflektierte diskursgeschichtliche Analyse des kriminalbiologischen Fragebogens – differenziert einerseits nach dem theoretischen Fundament mit Erbbiologie, Rassenhygiene, Charakterologie und Anthropometrie als den wesentlichen Themen und andererseits nach dem Untersuchungsdesign mit den verschiedenen Dimensionen der Ausmessung: genealogisch, biografisch, charakterologisch und anthropometrisch. Die in den Text eingebundenen Resultate der Fallanalyse haben nicht nur exemplarischen Charakter. Sie eröffnen Einblicke in die sozial- und geschlechtsspezifische Nutzung der im Erhebungsbogen formulierten Kategorien.

Die Durchführung der kriminalbiologischen Untersuchung wird anhand von einigen ausgewählten und kommentierten Fallgeschichten vorgestellt. Die Analyse ist leider nach wenig trennscharfen Kategorien gegliedert: Pathologisierung und Kriminalisierung der Unterschicht; sozial-moralische Vorurteile und subjektive Eindrücke; Frühkriminalität, sekundäre Devianz, Sozialdisziplinierung und „antisoziale“ Lebensführung. Es ist bedauerlich, dass die stärker praxeologischen Fragen der Nutzung des Fragebogens nicht in dieses Kapitel aufgenommen wurden, sondern an anderer Stelle zu finden sind. Zu nennen wäre etwa die Kritik der Strafanstaltsärzte an dem von Viernstein entwickelten Verfahren.

Das Buch von Thomas Kailer besticht vor allem in seiner diskursanalytischen und wissenssoziologischen Aufarbeitung der kriminalbiologischen Untersuchung als einem wissenschaftlichen, praxisbezogenen und kriminalpolitischen Projekt. Die Organisation der Arbeit stellt den Leser leider vor eine nicht geringe Herausforderung. Der Autor beginnt seine Ausführungen zum eigentlichen Thema erst im Teil zur Topografie der Abweichung auf Seite 165. Davor erhält man einen hervorragenden Einblick in die Forschungslandschaft und in den methodischen Werkzeugkoffer des Autors sowie eine konzise Zusammenfassung der Geschichte von Kriminologie, Strafrecht und Strafvollzug. Dieses lange Vorspiel ist in einer Qualifikationsarbeit durchaus am Platz, in einer Buchpublikation wirkt es störend. Wesentliche Teile davon hätten sich problemlos und ohne Substanzverlust in die diskurs- und textanalytischen Teile integrieren lassen.

Kailers Studie ist trotz dieser Kritikpunkte zweifellos ein höchst willkommener und wertvoller Beitrag zur neuen Kriminologiegeschichte, die sich mit den diskursiven und nicht-diskursiven Austauschbeziehungen zwischen Wissenschaft und Praxis, zwischen Politik, Medien und Wissensproduktion beschäftigt.2

Anmerkungen:
1 Bruno Latour, Science in Action. How to follow scientists and engineers through society, Cambridge, Mass. 1987, S. 108-121.
2 Ich möchte hier nur exemplarisch auf die folgenden Studien hinweisen: Benjamin Carter Hett, Death in the Tiergarten. Murder and Criminal Justice in the Kaiser's Berlin, Cambridge, Mass. 2004; Daniel Siemens, Metropole und Verbrechen. Die Gerichtsreportage in Berlin, Paris und Chicago 1919-1933, Stuttgart 2007; Désirée Schauz, Strafen als moralische Besserung. Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777-1933, München 2008; Dies., Sabine Freitag (Hg.), Verbrecher im Visier der Experten. Kriminalpolitik zwischen Wissenschaft und Praxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 2007.

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