J. Appleby: Die unbarmherzige Revolution

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Titel
Die unbarmherzige Revolution. Eine Geschichte des Kapitalismus


Autor(en)
Appleby, Joyce
Erschienen
Hamburg 2011: Murmann Verlag
Anzahl Seiten
686 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Otmar Hesse, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie / Abteilung Geschichte, Universität Bielefeld

Lange Zeit war der Begriff des Kapitalismus in Deutschland diskreditiert. Ganz im Gegensatz zu seiner entspannten Verwendung im anglo-amerikanischen Sprachgebiet konnotierte er in Deutschland eine "linke" Perspektive, die letztlich seine Abschaffung im Schilde führte, so dass seine Befürworter den zu beschreibenden Gegenstand lieber als "Marktwirtschaft" bezeichneten.1 Rehabilitiert letztlich – so scheint es – durch die aktuelle Schuldenkrise, die selbst von erklärten Antisozialisten als eine unerwünschte Radikalisierung des Kapitalismus interpretiert wird, tut sich nun das nächste Problem mit dem Begriff auf: Worin unterscheidet sich eigentlich eine "Geschichte des Kapitalismus" von der allgemeinen Wirtschaftsgeschichte der Moderne?

Sofern der Begriff nicht wissenshistorisch im Sinne einer Geschichte des Nachdenkens über die Funktionsweise der Wirtschaft verwendet wird, liegt der Unterschied wohl in den allermeisten Fällen darin, dass die Kapitalismus-HistorikerInnen der Meinung sind, es habe sich irgendwann in der Vergangenheit ein besonderes System der Organisation der Produktionsverhältnisse herausgebildet, aus dem sich spätere wirtschaftliche Prozesse zwangsläufig ergeben. Selbsttragendes Wirtschaftswachstum und Wohlstand beispielsweise, aber auch Umweltzerstörung seien notwendige Begleiterscheinungen einer bestimmten historischen Struktur der Produktionsverhältnisse. Kapitalismus-Geschichte verkörpert mithin vielfach eine im Grundsatz fast altmodische Geschichtsinterpretation, die ökonomisches Handeln auf kapitalistische Strukturen zurückführt. Die Entstehung dieser Strukturen ist daher notwendig der wesentlich interessantere Teil der Geschichte des Kapitalismus als die Schilderung seiner Wirkungen bis in die Gegenwart, in denen die Kapitalismus-HistorikerInnen häufig nicht mehr zeigen können, in welcher Weise das System des Kapitalismus die Wege der Kapitalisten lenkte oder ob diese nicht auch eigenständig (im doppelten Wortsinn) handelten.

Diese Beobachtung trifft auch auf das neueste Buch der emeritierten amerikanischen Frühneuzeithistorikerin Joyce Appleby zu, die sich heute selbst als "linksgerichtete Liberale mit starken, zuweilen auch widersprüchlichen libertären Zügen" bezeichnet (S. 32). Der Kapitalismus ist nach Appleby nicht etwa das Produkt einer notwendigen rationalen Perfektionierung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, wie Adam Smith annahm. Auch Karl Marx’ Vorstellung, der Kapitalismus sei das Übergangsstadium einer durch die Widersprüche der Produktionsverhältnisse angetriebenen Entwicklung zum Sozialismus, möchte sich Appleby nicht anschließen. Sie betrachtet den Kapitalismus vielmehr als das Produkt eines historischen Zufalls, der nicht gesteuert, nicht zwangsläufig und nicht planbar gewesen ist. Kapitalismus sei ein "kulturelles System auf der Basis von wirtschaftlichen Handlungsweisen, in deren Mittelpunkt das imperative Gewinnstreben privater Investoren steht", so Appleby, die mit dieser Definition an Max Weber anschließen möchte (S. 42). Sie lässt ihre Geschichte mit den Entdeckungsfahrten der Spanier und Portugiesen beginnen und liefert ausführliche Beschreibungen der niederländischen Wirtschaftsmacht im 17. Jahrhundert. Zum Durchbruch des Kapitalismus führten aber erst die Analysen der britischen Wirtschaftstheoretiker (Applebys einstiges wissenschaftliches Spezialgebiet), die Revolutionen in der Landwirtschaft und des Konsums sowie zahlreiche technische und institutionelle Innovationen am Ende des 18. Jahrhunderts. Der "Ursprung des Kapitalismus", daran gibt es für Appleby keinen Zweifel, liegt in Europa. "Die Persönlichkeitsmerkmale der Europäer – Offenheit für Neues, Aggressivität, Hartnäckigkeit, Erfindungsgabe und ein moralisches Überlegenheitsgefühl – traten unter dem unerbittlichen Gradmesser des wirtschaftlichen Erfolgs schärfer hervor" (S. 226).

So gut Appleby aber im ersten Drittel ihres Buchs die Entstehung des Kapitalismus erklärt, so beliebig werden ihre Argumente in den letzten beiden Dritteln, in denen eigentlich die Frage hätte geklärt werden müssen, warum der Kapitalismus so erfolgreich und dauerhaft etabliert werden konnte. Interessant wäre auch gewesen, welchen Formenwandel er in den letzten 200 Jahren erlebt hat und wie dies zu bewerten ist. Stattdessen flüchtet sich Appleby aber nun in eine sehr konventionelle Geschichte der ökonomischen Moderne, in die der Kapitalismus nur noch metaphorisch eingebracht wird: Die Erfolgsgeschichten Englands, der USA und des Deutschen Reiches im 19. Jahrhundert sei die "Jugendzeit des Kapitalismus" (S. 272) gewesen. An der Schwelle zum 20. Jahrhunderts habe dieser einem Chamäleon geglichen (S. 344), als er seine Erscheinung von einem chaotisch Organisationsprinzip zu einer rational planenden Expansionsmaschine verändert habe. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei aus dem "Kapitalismus in der Tat ein Moloch" geworden (S. 399), der seine Verehrer dazu animiert habe, sich selbst zu zerstören. Dieser merkwürdige Rückgriff auf die hinduistische Religion findet sich am Ende des nur dreißig Seiten umfassenden Kapitels über "Krieg und Depression" zwischen 1914 und 1945, in dem zwar einige Grundlagen des "New Deals" beschrieben und auch der Name John Maynard Keynes eingeführt wird, das aber die zahlreichen zeitgenössischen Debatten über die Krise des Kapitalismus weiträumig, gleichsam intergalaktisch umfährt. In der Nachkriegszeit sei der Kapitalismus schließlich "vom Mikroprozessor angetrieben" worden (S. 503).

Statt einer systematischen Analyse werden aus den seitenlangen Beschreibungen von großen Unternehmern und Erfindern, der amerikanischen Gewerkschaftsgeschichte und der erfolgreichen Liberalisierung des Welthandels unvermittelt immer wieder "Merkmale" und "Eigenschaften" des Kapitalismus abgeleitet. Was im Klappentext mit dem Satz umrissen wird, Appleby "sezier[e] messerscharf seine guten und schlechten Seiten", entpuppt sich tatsächlich als bezeichnend eklektische Methodologie. Der "unverbesserliche Optimismus der Unternehmer" wird so beispielsweise "messerscharf" als Merkmal des Kapitalismus identifiziert, das aber eben auch Wirtschaftkrisen auslösen könne (S. 380). Weitere Merkmale seien "die unberechenbaren Schwankungen der Konjunktur und die enorme Ungleichverteilung des Wohlstandes" (S. 404). "Die womöglich großartigste Eigenschaft des Kapitalismus ist seine unauflösliche Verbindung mit dem Wandel" (S. 463) – was vor allem diejenigen Historiker verwirren dürfte, die auch in der Antike, dem Mittelalter, dem Feudalismus oder selbst dem Sozialismus "Wandel" entdeckt haben wollen. Dass der Kapitalismus "Außenseiter nicht übergehen kann" (S. 429), wie Appleby es am Beispiel des amerikanischen Erfinders des Fernsehens Philo Farnsworth als eine weitere "Stärke" behauptet, muss aus der Perspektive Paul Nipkows, des deutschen Erfinders des Fernsehens, wie auch des deutschen Erfinders des Computers Konrad Zuse wie Ironie klingen: Beide wurden nicht nur vom Kapitalismus, sondern auch von dessen Historikerin ignoriert.

Appleby verfolgt eben eine ausgesprochen amerikanische Sicht auf die Geschichte des Kapitalismus. Das zeigt sich wohl am deutlichsten in ihrer Darstellung des Marshall-Plans ("Das Kapital aus den Vereinigten Staaten schmierte das Getriebe der neuen Lokomotive, die den Aufschwung zog, ein Musterbeispiel wirtschaftlichen Fortschritts", S. 410). Hat der Kapitalismus schließlich wirklich "offengelegt, wie die Bedürfnisse vieler Menschen wirklich beschaffen sind" (S. 509), und kann er daher wirklich als optimales System nicht nur zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern auch als perfekte Maschine zu deren Feststellung angesehen werden? Man muss nicht Vance Packards "Hidden Persuaders"-These2 folgen, um einer solchen übertrieben optimistischen Perspektive von der amerikanischen Westküste skeptisch gegenüber zu stehen.

Applebys Kapitalismusbegriff, der für den Entstehungskontext so luzide hergeleitet worden war, verliert im Laufe der Darstellung immer mehr an Profil und Kontur. In den letzten Kapiteln wird er schließlich derart willkürlich als "mit Wandel verbunden" verwendet, dass selbst die Umweltbewegung und die konsumkritischen Intellektuellen der 1970er-Jahre gleichsam als notwendige Konsequenz seiner Anpassungsfähigkeit interpretiert werden. Die Marktöffnung Ende der 1970er-Jahre haben die Chinesen danach nicht etwa Deng Xiaoping zu verdanken, sondern dem Kapitalismus. Angesichts der wenigen Bemerkungen zur Sowjetunion hat es fast den Anschein, als sollte selbst der Sozialismus als ein logisches und eben wieder geniales Produkt des Kapitalismus interpretiert werden, der sich wenigstens vorübergehend sein eigenes Zerrbild erschaffen hat.

Man kann nicht sagen, dass Appleby die Schattenseiten und Schwächen des Kapitalismus nicht erkannt hätte. Schon der Titel des Buches zeigt an, dass es auch um den Sklavenhandel, die europäische Kolonialpolitik in Afrika, die schlechten Arbeitsbedingungen in amerikanischen Stahlwerken usw. geht. Wenn aber das alles allzu pauschal auf das insgesamt doch wohl als segensreich vorgestellte Wirken des Kapitalismus zurückgeführt wird, dann offenbart das vor allem eines: die Untauglichkeit dieses Begriffs als analytisches Konzept. Der wirtschaftshistorischen Forschung wird daher wohl auch künftig eine präzisere Analyse der Zusammenhänge nicht erspart bleiben, die auch die bei Appleby faktisch ausgesparten Finanz- und Kapitalmärkte mit einzubeziehen hätte – ob mit oder ohne Verwendung des Begriffs Kapitalismus.

Anmerkungen:
1 Vgl. die jüngste Darstellung bei Hans-Ulrich Wehler, Die Deutschen und der Kapitalismus, in: Gunilla Budde (Hrsg.), Kapitalismus. Historische Annäherungen, Göttingen 2011, S. 34-49.
2 Vance Packard, Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewussten in jedermann, Frankfurt am Main 1961.

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