S. Michel u.a. (Hrsg.): Lutherische Konfessionskultur im 17. Jh.

Cover
Titel
Eruditio - Confessio - Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzovs (1639-1699)


Herausgeber
Michel, Stefan; Straßberger, Andres
Reihe
Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 12
Erschienen
Anzahl Seiten
436 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kai Bremer, Institut für Germanistik, Justus-Liebig-Universität Gießen

Sammelbände, die sich exemplarisch einer historischen Figur zuwenden, legitimieren sich in der Regel allein schon durch ihren Gegenstand. So ist es auch im Fall des von Stefan Michel und Andres Straßberger herausgegebenen Buches über den lutherischen Theologen Johann Benedikt Carpzov. Doch gibt sich der Band damit nicht zufrieden, Carpzovs Leben und Wirken grundlegend aufzuarbeiten und dem interessierten Publikum gegenwärtig zu machen. Mit dem Untertitel und dann auch in der Einleitung verorten die Herausgeber die Studien entschieden forschungspolitisch. Sie plädieren mit Thomas Kaufmann dafür, Begriffe wie „Orthodoxie“, „Pietismus“ und „Aufklärung“ als Epochenbegriffe aufzugeben, und machen so deutlich, dass derartige Ordnungsbegriffe sich nicht dazu eignen, die Zeit vor 1700 angemessen zu charakterisieren. Diese sei vielmehr durch ein kompliziertes Ineinander und Gegeneinander disparater Konzepte gekennzeichnet, die hinter den Begriffen stünden. Ferner verweisen sie auf den cultural turn und greifen Kaufmanns Konzept der Konfessionskultur auf. Um dieses zu operationalisieren, greifen sie auf drei wesentliche, zeitgenössisch fundierte Zugriffskategorien zurück, die dem Buch nicht nur den Titel gegeben haben, sondern es auch gliedern: „eruditio“, „confessio“ und „pietas“.

Wie sinnvoll gewählt diese drei Kategorien sind, verdeutlicht bereits die auf die Einleitung folgende umfassende Biographie Carpzovs von Andres Straßberger. Im folgenden ersten Hauptteil zur „eruditio“ wird das gelehrte Leipziger Umfeld Carpzovs in Aufsätzen zu dessen Familie (vom viel zu früh verstorbenen Günther Wartenberg), zur Universität Leipzig (Detlef Döring) und zu deren theologischer Fakultät (Andreas Gößner), zu Carpzovs Briefwechsel mit Gottlieb Spizel (Dietrich Blaufuß) und zu seinen alttestamentlichen Studien (Stefan Michel) beleuchtet. Alle Beiträge bieten präzise, auf sehr guter Quellenkenntnis basierende Einblicke in die gelehrte Praxis der lutherischen Orthodoxie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Wenn man diesem ersten Teil überhaupt etwas vorwerfen kann, dann lediglich seinen Untertitel: „Kulturen der Gelehrsamkeit“: Die hier vorgelegten institutionengeschichtlichen Analysen und Studien zur gelehrten Praxis bestätigen in erster Linie die Homogenität der orthodoxen Gelehrsamkeit, so dass es zumindest dem Rezensenten angemessen scheint, von einer Kultur zu sprechen, die allerdings im Widerstreit mit anderen stand.

Darauf konsequent aufbauend nimmt der zweite Teil diese ‚Kulturen‘ in den Blick: Unter dem Schlagwort „confessio“ wird das polemische Verhältnis von Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung mit Hilfe exemplarischer Analysen untersucht. Im Einzelnen geht es hier um Carpzovs Kontroverse mit Richard Simon (Sascha Müller), die „erbitterte Gegnerschaft“ von Carpzov und Spener (Ernst Koch), das Verhältnis zu Francke (Susanne Schuster), polemische Lieder und Predigten Carpzovs (erneut Stefan Michel) und schließlich das Verhältnis von Carpzov und Thomasius (Markus Matthias). Dieser Teil besticht nicht nur erneut durch die profunden Quellenkenntnisse und die reflektierte Vorgehensweise aller Verfasser, sondern auf inhaltlicher Ebene auch wegen der Berücksichtigung des katholischen Lagers mit Simon. Susanne Schuster untersucht nicht nur das Verhältnis von Carpzov und Francke, sondern thematisiert zugleich das Problem einer bewussten ‚Grenzziehung‘ zwischen Orthodoxie und Pietismus. Das tut sie jedoch nicht in historiographischer Hinsicht (wie man es anknüpfend an die Einleitung hätte erwarten können), sondern im Hinblick auf Techniken der Konfliktführung im Sinne einer gezielten „Grenzziehung“ zwischen Leipzig und Halle durch die historischen Protagonisten. Durch Beiträge wie diesen wird deutlich, dass die in der Einleitung skizzierten historiographischen Probleme historische Entsprechungen haben, die es zu berücksichtigen gilt und die die Geschichtsschreibung ihrerseits herausfordern. Zudem ist diese Akzentuierung auf die Konfliktführung auch im Hinblick auf die umfangreichen Forschungen zur theologischen Streitkultur überzeugend.

Der dritte Teil – „pietas“ – ist schließlich der Predigtkultur und der dahinterstehenden Rhetorik in der lutherischen Orthodoxie gewidmet. Er gewährt mit den Studien von Albrecht Beutel, der Carpzovs Predigtlehre mittels der Analysen seiner Predigten rekonstruiert, und von Straßberger zur memoria zunächst grundlegende Einblicke in die Homiletik. Beutel gelingt es mit seiner Studie, die in der Rhetorikforschung bis heute dominierende Zugriffsweise, mittels rhetorischer Lehrbücher die Praxis zu überprüfen, umzukehren – ein Vorgehen, das bedauerlicherweise viel zu selten in der rhetorisch orientierten Frühneuzeitforschung gewählt wird. Straßberger rekonstruiert äußerst detailreich den ideengeschichtlichen Hintergrund der rhetorischen memoria-Theorie in der lutherischen Orthodoxie. Für primär theologisch geschulte Leser mögen die Hinweise zu deren Vorgeschichte auf mehr als zwanzig Seiten möglicherweise hilfreich sein, anderen Leser dürfte dieses Ausgreifen aber ausufernd erscheinen. Wie dem auch sei, mit beiden Aufsätzen ist das Feld für die literaturhistorische Verortung Carpzovs bestellt, die angesichts der weitgehenden Nicht-Berücksichtigung in der Germanistik überfällig war und aufgrund der rhetorischen Fundierung der Literatur des 17. Jahrhunderts auch gänzlich unangemessen ist. Joachim Jacob untersucht Carpzovs „Außerlesene Tugendsprüche“. Katrin Löffler vergleicht Leichenpredigten von Carpzov und Valerius Herberger, was durch die „Beobachtungen“ Michael Beyers und sein Verzeichnis der Leichenpredigten Carpzovs samt Register gut ergänzt wird. Abgerundet wird dieser materialorientierte Schlusspunkt durch einen textkritischen Paralleldruck des lateinischen und des deutschen Textes von Carpzovs Pfingstprogramm von 1691, das im Kontext der pietistischen Unruhen in Leipzig 1689 stand. Ein zuverlässiges Personenverzeichnis rundet den engagiert wirkenden Eindruck des Buches ab.

Insgesamt fügt sich dieser Sammelband damit in eine inzwischen bemerkenswert lange Reihe von Studien ein, die wesentlich kirchenhistorisch fundiert sind, interdisziplinäre Neugier pflegen und den cultural turn zwar zur Kenntnis nehmen, sich aber faktisch gegen eine wie auch immer geartete Kulturwissenschaft wenden und stattdessen auf Kulturgeschichte setzen. Nach Eindruck des Rezensenten hat der cultural turn in der Kirchengeschichtsschreibung bisher nicht stattgefunden. Dass dies die Kulturwissenschaft (so sie denn überhaupt als homogene Disziplin begriffen werden kann) bisher kaum zur Kenntnis genommen hat, spricht Bände. Forschungen wie die vorliegenden reagieren auf den cultural turn, indem sie ihm eine bewusste Auseinandersetzung mit den Quellen entgegensetzen und dadurch für eine umfassende Rekonstruktion von Kultur plädieren. Dieses Vorgehen birgt zahlreiche Vorteile in sich – neben der dargelegten Konzentriertheit und der methodischen Einheitlichkeit nicht zuletzt den, dass die Studien terminologisch nicht überfrachtet werden. Es ist aber auch riskant, da es Leser, die weniger am Gegenstand und stärker an kulturwissenschaftlichen Fragestellungen interessiert sind, zu verprellen droht. Das ist selbstverständlich kein Argument gegen das Buch und das dahinter stehende kulturhistorische Interesse. Die hier sich andeutenden Differenzen führen vielmehr vor, dass der cultural turn einen Riss durch die Kulturforschung provoziert hat, der nicht geschlossen ist und es allem Anschein nach auch nicht so bald sein wird.

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