: Sous l'oeil de l'occupant. La France vue par l'Allemagne 1940-1944. Paris 2010 : Armand Colin, ISBN 978-2-200-24853-6 224 S. € 22,50

: Hitler dans mon salon. . Paris 2009 : Editions Les Echappés, ISBN 9782357660144 100 35

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dominik Rigoll, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Besonders eifrig wird es in Deutschland ja nicht gerade rezipiert, wenn in Frankreich über das Dritte Reich geforscht und geschrieben wird. Während britische und amerikanische Historiker ab einer gewissen Prominenz auch hierzulande wahrgenommen und bisweilen sogar übersetzt werden, wird Französischsprachiges meist nur im überschaubaren Kreis all derer registriert, die sich ohnehin auf die eine oder andere Weise mit Frankreich befassen, über das Interesse am Nationalsozialismus hinaus. Und während es englischsprachige Fachrezensionen schon mal in die Feuilletons schaffen (wie zuletzt im Fall von »Das Amt und die Vergangenheit« geschehen), werden aller Voraussicht nach nur sehr wenige deutsche Historiker davon erfahren, dass in der Zeitschrift Vingtième Siècle soeben ein Artikel über die Goebbels-Tagebücher erschienen ist.1 Noch nicht einmal über Jonathan Littells Roman »Die Wohlgesinnten« (Les Bienveillantes), obgleich auch auf Deutsch ein Verkaufserfolg, wollte man sich hierzulande so angeregt streiten wie im Nachbarland. Und auch als unlängst in Jena mit Saul Friedländer und Hayden White darüber debattiert wurde, wie man die Geschichte des Völkermords an den Juden »zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität« angemessen »erzählen« könne, fanden französischsprachige Holocaust-Historiker wie Philippe Burrin und Florent Brayard keine Erwähnung, obwohl Letzterer vor gar nicht so langer Zeit in den Annales einen lesenswerten Aufsatz über die Epistemologie der ›Endlösung‹ vorgelegt hat.2

Dass sich der Blick in französische Publikationen zum Dritten Reich lohnt, zeigen auch die beiden hier zu besprechenden Bildbände. Wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Der von der Germanistin Cécile Desprairies eingeleitete und kommentierte Band (dt.: »Im Auge des Besatzers. Frankreich von Deutschland aus gesehen 1940-1944«) versammelt 100 bislang unveröffentlichte Fotos, die zumeist von Propaganda-Kompanien der Wehrmacht aufgenommen und zum Teil in Signal abgedruckt wurden, einer in 23 Sprachen übersetzten Propaganda-Zeitschrift, die allein in Frankreich eine Auflage von 700.000 hatte. Der Band zeigt also einen »offiziellen Blick« auf Frankreich und die Franzosen (S. 9), aber auch der Deutschen auf sich selbst. Denn von Fotografen gemacht, von Propagandisten beschriftet und von den Zensoren schließlich freigegeben wurden diese Fotos nicht in erster Linie, um Franzosen ein Bild vom ›Neuen Europa‹ im Kampf gegen den ›jüdischen Bolschewismus‹ zu vermitteln, das die Collaboration als alternativlos und die Résistance als terroristisch erscheinen ließ. Wichtigster Adressat der fotografisch transportierten Selbst- und Fremdbilder waren vielmehr die Deutschen selbst, die Besatzungstruppen, die ›Volksgemeinschaft‹ zu Hause und die ›Volksdeutschen‹ im annektierten Elsass-Lothringen. Ebendies macht den Band auch und gerade für all jene interessant, denen die Geschichte der französischen Gesellschaft zur Zeit der deutschen Okkupation eher gleichgültig ist. Über die erfährt man durch die Fotos nicht viel mehr als auf Kolonial-Postkarten über die Bewohner anderer Kontinente. Nicht bekannt war dem Rezensenten bisher allerdings, dass im Sommer 1943 neben einigen anderen Chansonniers auch Edith Piaf vor dem Brandenburger Tor posierte.

Der Band ist in drei Kapitel gegliedert. Die Bilder des ersten Kapitels stammen allesamt aus dem Jahr 1940, den ersten Wochen der Besatzung. Sie thematisieren den deutschen Vormarsch, die Flucht vieler Franzosen in den südlichen Landesteil, die Ankunft der Okkupanten und die Installation der Besatzungsherrschaft. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Formen der Kollaboration, dem Alltag der Besatzungstruppen und der französischen Bevölkerung. Der dritte Teil schließlich nimmt die politischen Kämpfe und militärischen Auseinandersetzungen in den Blick, die Krieg und Besatzung mit sich brachten: Er zeigt die Folgen von Bombardements, die Repression des Widerstandes und den von der Miliz und den kollaborationistischen Parteien forcierten innerfranzösischen Bürgerkrieg. Die Präsentation der Bilder erfolgt immer nach demselben Muster. Ein erster Kommentar erläutert, was die Propaganda der Herausgeberin zufolge mit dem gezeigten Foto bezweckte (dt.: »Was die Propaganda zeigen will«). Dabei handelt es sich um eine genaue Beschreibung des Bildes unter Einbeziehung dessen, was Desprairies über die Entstehungsbedingungen, den Fotografen und den Publikationsort in Erfahrung bringen konnte. Ein zweiter Absatz beschäftigt sich mit der Frage, welche zusätzlichen Erkenntnisse das Foto in sich birgt und welche weitergehenden Interpretationen es zulässt, wenn man es auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstandes kontextualisiert (dt.: »Was man heute darin lesen kann«). Die dritte und letzte Rubrik trägt den Titel »Der deutsche Blick« (L'oeil allemand). Hier weist Despaires jeweils auf ein einzelnes Detail hin und erklärt dessen möglichen Propaganda-Wert.

Auf den ersten Blick wirkt all dies geradezu peinlich pädagogisch. Wer sich jedoch auf die stoische Ausführlichkeit der Beschreibungen und Kommentare erst einmal eingelassen hat, kann von ihnen auch profitieren. Zum einen, weil Desprairies den Bildern des Öfteren Dinge entlockt, die der Rezensent andernfalls übersehen oder in ihrer Bedeutung nicht erkannt hätte. Zum anderen, weil zumindest den im Umgang mit historischen Bildmaterial ungeübten Leserinnen und Lesern ein ums andere Mal vorexerziert wird, wie umfangreich die Palette an Fragestellungen ist, mit deren Hilfe diese Bilder analysiert und für die Forschung nutzbar gemacht werden können. Entsprechendes gilt für den Geschichtsunterricht in beiden Ländern, für den das Buch wie geschaffen zu sein scheint, obwohl sich Desprairies über den Sinn und Zweck der Veröffentlichung weitestgehend ausschweigt. Wer sich lieber ganz auf die eigene Urteilskraft verlassen möchte, wird von ihren Ausführungen dagegen eher genervt sein.

Auch im Fall des zweiten Bildbandes (dt.: »Hitler in meinem Wohnzimmer. Privatfotos aus Deutschland 1933-1945«) erschließt sich der Erkenntnisgewinn nicht sofort. Vielmehr beschleicht einen beim ersten Blick auf den Umschlag und beim erstmaligen Durchblättern der großformatigen Seiten das Gefühl, dass man es hier mit Trash zu tun hat – oder aber mit jenem Nazi-Kitsch, für den Frankreich ja nicht erst seit Littell bekannt ist.3 Dann liest man das Vorwort des Herausgebers und merkt, dass es ihm sehr ernst ist. Zusammengestellt und mit Kommentaren versehen wurden die Fotos von einem Redakteur der Satire-Zeitung Charlie Hebdo mit dem Künstlernamen Riss. Einer Besprechung des Bandes in Libération lässt sich entnehmen, dass Riss die Fotos bei Ebay ersteigert hat – teils in Form von intakten Fotoalben, teils als Konvolute, für Preise zwischen einem und hundert Euro. Häufig habe er den Eindruck gehabt, dass sich »die Erben dieser Fotos entledigen wollten als seien sie mit etwas infiziert. Früher warf man solche Dinge auf den Müll, heute stellt man sie ins Internet«.4

Im Vorwort schreibt Riss, er habe versucht, einen »anthropologischen Blick« auf die Fotos zu werfen, und dabei hätte ihn vor allem eines frappiert: »Diese Leute sind froh darüber, einer Meinung zu sein – oder sie tun zumindest so […]. Sie sind ganz normal.« Sie mögen sowjetische Soldatinnen schlagen, jüdische Alte und Kinder demütigen, unter Totenkopffahnen defilieren – und doch seien sie »weder Monster noch Perverse, unbedeutende Leute eher, junge Rekruten, Jungs mit durchschnittlicher Bosheit, die wissen was sie tun, aber nicht darüber nachdenken.« Man merkt: Riss ist kein Wissenschaftler, und er hat auch nicht den Anspruch, wie einer zu arbeiten. Die kurzen Texte, mit denen er die Fotos versieht, sind mal Beschreibung, mal Kommentar, mal beides zugleich. In einem durchweg unaufgeregt gehaltenen Ton teilt der Herausgeber mit, was er sieht, was heraussticht, wie er das Bild oder ein Element des Bildes interpretiert, manchmal auch, was er beim Betrachten empfindet. Der Duktus ist erklärend, aber unaufdringlich. Stets ist klar, dass es sich hier lediglich um Deutungsangebote handelt. Aus diesem Grund stören auch offensichtliche Fehler, unzulässige Verallgemeinerungen und wenig überzeugende Einschätzungen nicht, obwohl es wahrlich nicht an ihnen mangelt.

Entscheidend ist anderes. Da ist die Auswahl der Fotos. Im Gegensatz zu denen in Sous l'oeil de l'occupant, deren Protagonisten oft schon aufgrund der propagandistischen Überzeichnung hässlich oder lächerlich sind, unterscheiden sich die von Riss gezeigten Bilder kaum von dem, was man jeden Tag auf Facebook zu sehen bekommen kann: Es gibt Familienfotos, auf denen einer dümmer aussieht als der andere, aber auch verliebte Pärchen, die sich so rührend küssen, wie man es aus Filmen kennt; es gibt dicke Kinder, brave Kinder, süße Kinder; viele Trinkspiele gibt es und Verkleidungsspiele, immer wieder Verkleidungen, geschminkte Männer mit Frauenkleidern, ab und zu wird auch nackt posiert oder in weißer Badehose; Kameraden sieht man und Arbeitskollegen, gute Freunde und entfernte Familienangehörige, Großveranstaltungen und Sportfeste. Der Unterschied zu Facebook freilich: Es wimmelt nur so von Hakenkreuzen, Hitler-Porträts, Fahnen und Uniformen, mal eher versteckt, mal omnipräsent. Schnappschüsse vom Fronturlaub wechseln sich ab mit Fotos von Särgen, Krüppeln und Gräberfeldern.

Mit Letzteren endet auch der erste Abschnitt des Buches. Er trägt den Titel »Wir anderen« (»Nous autres«) und zeigt die Deutschen gleichsam unter sich, zu Hause und an der Front. Der zweite große Abschnitt heißt »Wir und die anderen« (»Nous et les autres«). Er zeigt Fotos, die man zuletzt so ähnlich auch in der Ausstellung »Fremde im Visier: Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg«5 sehen konnte: Geige spielende Zigeuner vor der Deportation, üppige Abendessen in Frankreich; Sexarbeiterinnen im Halbdunkel, jubelnde Estinnen bei der Ankunft der Wehrmacht, flirtende Estinnen im Schulalter, verängstige Rotarmistinnen, Flammenwerfer-Übungen, Gruppenbilder vor lichterloh brennenden Dörfern, vorrückende Panzer, zerstörte KPdSU-Parteizentralen, jüdische Zwangsarbeiter, verängstige Juden, die sich die Späße grinsender Soldaten gefallen lassen müssen. Deutsche Soldaten sieht man, die französische ›Kameraden‹ pflegen, aber auch die Rückseiten von Fotos von Leichenbergen. Da sie keine Klebespuren aufweisen, nimmt Riss wohl zu Recht an, dass sie separat aufbewahrt wurden, nicht mit den anderen ›Souvenirs‹ im Album.

Sicherlich: Wissenschaftlich ist Hitler dans mon salon untragbar. Wissen doch nicht nur der Leser und die Leserin so gut wie nichts über die präsentierten Fotos, sondern in vielen Fällen auch Riss selbst. Dessen Auswahlbibliographie besteht bezeichnenderweise zu einem Gutteil aus Romanen und Selbstzeugnissen – von Klemperer und Semprun zu Speer und Höss. Warum ist das Buch dennoch interessant? Weil sich in der Bibliographie immerhin auch Raul Hilbergs »The Destruction of the Euopean Jews« und Christopher Brownings »Ordinary Men« befinden? Sicherlich auch, denn man merkt dem Buch diese Lektüren durchaus an. Vor allem aber ist es lesenswert, weil man bei der Lektüre einen Eindruck hat, der sich beim Lesen zeithistorischer Studien nicht immer einstellt: dass hier jemand nicht nur all dem Ausdruck verleiht, was er glaubt vom Blick der ›Volksgemeinschaft‹ auf sich selbst verstanden zu haben, sondern auch den vielen Fragen, die trotz oder gerade wegen der intensiven Beschäftigung mit dem Thema offen bleiben.

Anmerkungen:
1 Vgl. Nicolas Patin, Le journal de Joseph Goebbels, in: Vingtième Siècle, 104,4 (2009), S. 81-93.
2 Vgl. Florent Brayard, La longue fréquentation des morts: A propos de Browning, Kershaw, Friedländer et Hilberg, in: Annales. Histoire, Sciences sociales 64,5 (2009) S. 1053-1090.
3 Vgl. Saul Friedländer, Reflections of Nazism. An essay on Kitsch and death, New York 1984.
4 So Riss in: Gérard Lefort, Dans l'album de famille, Hitler, Libération, 5.11.2009; eigene Übersetzung.
5 Vgl. Petra Bopp, Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009.

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