Titel
Disziplinen der Anthropologie.


Herausgeber
Meyer, Silke; Owzar, Armin
Erschienen
Münster 2010: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Dana Weber, Department of Modern Languages and Linguistics, Florida State University

Das Augenmerk des von Silke Meyer und Armin Owzar herausgegebenen Sammelbands „Disziplinen der Anthropologie“ richtet sich auf die Berührungspunkte zwischen den „Hauptdisziplinen der Anthropologie“1 und den Bild-, Geschichts- und Rechtswissenschaften, der Philosophie, Primatologie, Soziobiologie, den Sprachwissenschaften und der Theologie. Der Band schließt damit an Untersuchungen an, welche die transdisziplinäre Ausrichtung der anthropologischen Forschung im letzten Jahrzehnt in der deutschsprachigen und angloamerikanischen Forschung thematisieren.2 Im deutschsprachigen Raum ist die Anthropologie traditionell von einem biologischen Interesse am Menschen gekennzeichnet. Die verheerenden Folgen der politische Funktionalisierung biologisch-rassischer Ansätze führte Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts jedoch zur Diskreditierung der Anthropologie und hat ihren Fokus auf den historisch und philosophisch begriffenen Körper in seiner Wechselwirkung mit der Natur, Sprache und Imagination verschoben. Zugleich lässt sich eine immer stärkere Öffnung dieser Wissenschaft für kulturwissenschaftliche und ethnologische Zugänge beobachten, die vom Interesse an Differenz gekennzeichnet sind und sich vornehmlich aus der anglophonen und französischen Forschung herleiten. Im Gegensatz zu Studien, die diese interdisziplinäre Entwicklung analytisch und theoretisch untersuchen, 3 exemplifizieren die einzelnen Beiträge in „Disziplinen der Anthropologie“ diesen Austausch anhand konkreter Forschungsprojekte, die „über die zentralen Grundannahmen und Prämissen anthropologischen Denkens informieren so wie fachspezifische Begriffe und Methoden vorstellen“ (S. 11). Als Ganzes erinnert der Band daran, dass sich diverse akademische Disziplinen einen anthropologisch formulierten Untersuchungsgegenstand teilen, nämlich „die Bedeutung von Natur und Kultur für das Fühlen, Denken und Verhalten der Menschen“ (S. 11).

Unter den einzelnen Beiträgen sind gemeinsame thematische sowie methodologische Schwerpunkte zu erkennen, die sich – da nicht explizit auf sie hingewiesen wird – allerdings erst durch die Lektüre erschließen. So interpretiert beispielsweise eine Gruppe anatomisch-evolutionsbiologischer Aufsätze die anatomische Entwicklung des Menschen zum Homo Sapiens als Kulturgeschichte. Eine weitere, in der Beiträge aus der Sprachanthropologie, Linguistik und Bildwissenschaft versammelt sind, widmet sich der Kommunikationsfähigkeit des Menschen als fundamentaler kultureller Handlung, die in ihren Manifestationen als Bildfähigkeit einerseits und als verbale Sprache andererseits eruiert wird. Schließlich werden die Schnittstellen zwischen Anthropologie, Theologie, Philosophie und den Rechtswissenschaft untersucht. Klaus Müller argumentiert etwa, dass die Theologie aufgrund ihres Anspruchs, den Menschen als „Medium der Offenbarung oder Selbstmitteilung Gottes“ zu begreifen, „vom Ansatz her schon anthropologisch formatiert“ (S. 61) sei. Dabei stehe die moderne Anthropotheologie mit der Evolutionsbiologie, der Ethologie sowie der philosophischen Anthropologie im Austausch. Norbert Herold hebt hingegen hervor, dass die Philosophische Anthropologie aufgrund ihrer „Naturbeschreibung und Menschenkenntnis“ (S. 78) dem Menschen Orientierung in der Welt biete sowie Geistigkeit und Bewusstsein aufgrund seiner körperlichen Beschaffenheit und seiner Innen-Außen-Beziehung zur Umwelt erkläre. Schließlich weist Thomas Gutmann auf die Spannung zwischen den normativen Aspekten des Gesetzes und seinen anthropologischen bzw. verhaltensbiologischen Grundlagen hin. Er veranschaulicht, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zwar das Selbstverständnis der Rechtssubjekte reflektiere, aber dennoch kein Menschenbild postuliere. Der Band wird von Armin Owzars Beitrag abgeschlossen, der die Grundannahmen und zentralen Fragestellungen, die Fachgeschichte und die Relevanz der Historischen Anthropologie zusammenfasst. Das Distinktive und Bedeutende dieser Disziplin bestehe, so Owzar, in ihrer Beschäftigung mit dem „historische[n] Wandel [...] in allen Dimensionen gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (S. 232).

Obwohl jede der oben erwähnten Beitragsgruppen das jeweils besprochene Fach in seiner Relation zur Anthropologie exzellent verortet, verdienen es die thematischen Cluster zur Kulturalität des Menschen im Licht seiner Evolutionsgeschichte und zur sprachlichen und bildlichen Kommunikation besonders hervorgehoben zu werden. Mit Hilfe paläontologischer Daten veranschaulicht der Beitrag von Peter Schmid etwa die gegenseitige Abhängigkeit der anatomischen Veränderungen zum aufrechten Gang und einer „speziellen Hirnentwicklung“ (S. 36), der Werkzeugherstellung als „technologische[r] Revolution“ (S. 33) und der Herausbildung der symbolischen Kommunikation. Eckart Volands Artikel interpretiert dagegen die menschliche Evolutions- und Kulturgeschichte als „Ausfluss eines ewigen Wettstreits um Prestige“ (S. 53), dessen höchster Indikator, der Surplus, sich beispielsweise in den schönen Künsten oder der Philosophie manifestiere. Als thematische Einheit gelesen illustrieren diese Beiträge die paradoxe Ambivalenz der Spezies Anthropos, nämlich ihr Eingebettetsein in der Welt bei gleichzeitiger Herausgehobenheit unter den Tierarten, mit der sich die Anthropologie und verwandte Disziplinen schon lange beschäftigt haben und wohl noch lange beschäftigen werden.

Diese Singularität äußert sich auch in der kommunikativen Spezifizität des Menschen, welche im Mittelpunkt der zweiten Artikelgruppe steht. So weist Frank Jablonkas Beitrag überzeugend nach, wie sich Sprache in der kulturellen und sozialen Erfahrung und im Umgang mit der Umwelt konstituiert, diese wiederum prägt und dabei zur Bildung gruppenspezifischer Weltbilder beiträgt. In Anbetracht dieser Sachlage rücken die heute durch Globalisierung und Migration entstehenden „sprachlich-kommunikative[n] Hybridisierungsformen“ (S. 118) immer mehr in den Vordergrund der Sprachforschung und erzeugen „eine Fülle an Forschungsbedarf“ (S. 120). Susanne Günthners Untersuchung über die Praxisbindung der Anthropologischen Linguistik knüpft direkt an diesen Befund an, indem sie „Sprache und Sprechen im kulturellen Kontext“ (S. 126) von Migrantensprachen herausarbeitet. Ihre Beispiele aus der Praxis illustrieren, wie Sprachgenres und grammatische Regeln mit ihrem soziokulturellen Umfeld interagieren und einer inkorporierenden bzw. abgrenzenden kulturellen Dynamik unterliegen.

In der dritten Themengruppe, die sich mit der Kommunikation als Bildsinn befasst, überzeugt der Artikel von Jörg R. J. Schirra und Klaus Sachs-Hombach besonders dadurch, dass die Autoren den ‚linguistic turn‘ in den Sprachwissenschaften mit einem ‚pictorial turn‘ verbinden, um aufzuzeigen, dass sowohl menschliche Sprache als auch Bilder nur in sozio-kulturellen Kontexten entstehen und funktionieren können. Der gemeinsame Angelpunkt der beiden ‚turns‘ bestehe dabei in der Fähigkeit zur Kontextbildung und Dekontextualisierung, die das menschliche symbolische Verhalten – einschließlich der Fähigkeit zur Imagination – möglich mache. Im Anschluss daran konstatieren Silke Meyer und Guido Sprenger anhand des Bildes bzw. Bildsinns, dass jede Form der kulturellen Produktion (vom Werkzeug bis zum Kunstwerk) als Kommunikation mit einer symbolischen Dimension (S. 211) begriffen werden muss. Dabei sei der menschliche Sehsinn in diversen Kulturen nicht nur unterschiedlich ausgeprägt, sondern auch historisch veränderbar, was den interdisziplinären Anspruch der Sozial- und Kulturanthropologie rechtfertige und „zum Gespräch zwischen Natur- und Kulturwissenschaften“ herausfordere (S. 226).

Insgesamt bietet der Band „Disziplinen der Anthropologie“ sowohl fachkundigen als auch uneingeweihten akademischen LeserInnen eine instruktive und außerordentlich lesenswerte Einführung in die vielfältigen Dialogmöglichkeiten einzelner anthropologischer Disziplinen mit benachbarten Fächern von der Primatologie bis hin zur Theologie. Aber sein wohl bedeutendster Verdienst besteht darin, dass er akademische Fachgebiete miteinander ins Gespräch bringt, die sich nur allzu oft aus dem Weg gehen (vgl. S. 11). Schließlich wirft jeder einzelne Beitrag durch seine dialogische Ausrichtung Forschungsfragen auf, die zu ausgiebigen interdisziplinären Untersuchungen anregen können und spannende Resultate versprechen. Dabei wird die Anthropologie als eine Meta-Disziplin positioniert, die es erlaubt, auf den ‚ganzen‘ Menschen gerichtete Forschungsinitiativen in einem durch die einzelnen Wissensgebiete jeweils theoretisch definierten und doch für fachübergreifende Forschungsansätze durchlässigen Rahmen anzugehen.

Anmerkungen:
1 Als solche nennen Meyer und Owzar die Biologische Anthropologie, Philosophische Anthropologie, Kultur- und Sozialanthropologie und die Historische Anthropologie, die sich oft kritisch zueinander positionieren. So hinterfragt etwa die Philosophische Anthropologie mit ihrer Konzentration auf den Wandel des Menschen als Teil der Natur die deterministische Sicht der Biologischen Anthropologie und ihrer untergeordneten Feldern wie Genetik oder Ethologie, die sich mit vererbten biologischen „Grundmustern“ beschäftigen. Die strukturellen oder funktionalistischen Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie befassen sich dagegen hauptsächlich deskriptiv mit der aktuellen „Individualität der einzelnen Kulturen“ (S. 10) und setzen sich somit von dem diachronen Zugriff der Historischen Anthropologie ab, deren Augenmerk auf dem Wandel menschlicher Kollektive liegt.
2 Für die deutschsprachige Forschung siehe etwa Gert Dressel, Historische Anthropologie. Eine Einführung, Wien 1996; Christoph Wulf, Anthropologie: Geschichte, Kultur, Philosophie, Reinbek 2004; für die amerikanische beispielsweise Rose De Angelis (Hrsg.), Between Anthropology and Literature, London 2002; Jeremy MacClancy / Agustin Fuentes (Hrsg.), Centralizing Fieldwork. Critical Perspectives from Primatology, Biological and Social Anthropology, New York 2011; Michael M. Fischer, Anthropological Futures, Durham 2009.
3 Vgl. besonders Dressel und Wulf.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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