K. Buchna: Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr

Cover
Titel
Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr. Friedrich Middelhauve und die nordrhein-westfälische FDP 1945-1953


Autor(en)
Buchna, Kristian
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 101
Erschienen
München 2010: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Löttel, Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, Bad Honnef

Es klingt wie aus dem Drehbuch eines Spionagefilms: In der Nacht auf den 15. Januar 1953 ließ der britische Hochkommissar eine Handvoll früherer NS-Funktionäre festsetzen und ins Militärgefängnis Werl verbringen. Die Gruppe um den ehemaligen Staatssekretär im Propagandaministerium, Werner Naumann, so lautete der Vorwurf, habe Pläne für die „Wiederergreifung der Macht in Westdeutschland“ geschmiedet.

Eine Clique rechter Verschwörer, die unter den Augen der Besatzungsmächte nach Bonn marschiert, um die Regierungsgewalt am Rhein an sich zu reißen? Diese Vorstellung mutete schon damals recht abenteuerlich an. Aber wenn die Naumann-Affäre auch keine Staatskrise der jungen Bundesrepublik gewesen ist, so war sie sehr wohl eine Krise des parteipolitischen Liberalismus. Wie in der Folge aufgedeckt wurde, hatte sich die Gruppe auf ein engmaschiges Beziehungsgeflecht innerhalb der nordrhein-westfälischen FDP gestützt. Diese Strukturen nimmt Kristian Buchnas Studie in den Blick. Dabei konzentriert sie sich auf den Landesvorsitzenden Friedrich Middelhauve und sein Konzept einer nationalen Sammlungspolitik rechts von den Volksparteien CDU/CSU und SPD. Hiermit, so die These, habe Middelhauve die Landespartei gezielt ins ideologische Fahrwasser des Naumann-Kreises getrieben. An dieser Stelle bürstet Kristian Buchna die ältere Liberalismusforschung gegen den Strich, die in dem schöngeistigen FDP-Politiker eher ein Opfer rechter Unterwanderung gesehen hat.1

Das Eingangskapitel verfolgt die politischen Ideen Middelhauves zurück bis in die Spätphase der Weimarer Republik. Schon damals waren rechtsliberale Sammlungsversuche an ihren inneren Widersprüchen gescheitert, wie Middelhauve selbst hatte erfahren müssen, als er sich 1932 für die Deutsche Staatspartei ohne Erfolg um ein Reichstagsmandat bewarb. Dennoch knüpfte er 1945 fast nahtlos wieder an solche Konzepte an. Zudem blieb er den überkommenen Staatskonzepten der Zwischenkriegszeit verpflichtet, favorisierte eine autoritäre Präsidialdemokratie, eine Schwächung des Parlaments und der Parteien. Middelhauve, urteilt Buchna hart, „hatte seine Lehren aus Weimar gezogen und dennoch nichts dazu gelernt.“ (S. 217)

Um ein nationalkonservatives, für nationalistische Parolen empfängliches Wählerspektrum anzusprechen, setzte Middelhauve auf eine offensive „Vergangenheitspolitik“. Zunächst profilierte er sich durch eine scharfe Kritik an der alliierten Entnazifizierungspraxis, dann mit der Forderung nach einer Generalamnestie für „[a]lle Straftaten, die aus politischen Motiven oder im Zusammenhang mit Kriegsvorgängen vor und nach 1945 begangen wurden“ (S. 67). Auch die Personalpolitik orientierte sich an den maßgeblichen Zielgruppen, der im „Dritten Reich“ sozialisierten Jugend und den Wehrmachtsangehörigen: Heinz Wilke, ehemals hauptamtlicher Führer der Hitler-Jugend, wurde zum Geschäftsführer der Landtagsfraktion bestellt und der Panzergeneral Hasso von Manteuffel als prominenter Neuzugang ins Rampenlicht geschoben. In diese Reihe gehört auch der schlesische Major und Ritterkreuzträger Erich Mende, der allerdings früh die bundespolitische Bühne suchte und sich dort in der Kriegsgefangenenfrage engagierte. So unzweideutig, wie sich der Landesverband nach außen hin positionierte, so straff war seine Organisation im Inneren: Die Landesgeschäftsstelle kontrollierte die Kreisverbände durch ein System von Hauptgeschäftsführern, die in vielen Fällen NS-Belastungen aufwiesen und sich eng aufeinander abstimmten. Middelhauve führte mit harter Hand, vereinzelten Widerstand aus den Kreisverbänden ließ er auf den Landesausschusssitzungen rigoros unterbinden. Alles in allem folgte der Landesverband aber ohnehin geschlossen der Linie seines Vorsitzenden.

Auf der Bundesebene führte die „Nationale Sammlung“ zu immer schärferen Spannungen. Im November 1952, auf dem Parteitag in Bad Ems, als der Machtkampf zwischen den links- und nationalliberalen Landesverbänden offen eskalierte, stand das Schicksal der Gesamtpartei auf dem Spiel. Dennoch gelang es, die FDP zusammenzuhalten. Nach dramatischem Ringen einigte sich der Bundesvorstand auf die Wahl Middelhauves zum zweiten stellvertretenden Parteivorsitzenden. Das zwar zweifellos ein Erfolg des rechten Flügels. Aber auch die Nordrhein-Westfalen hatten Zugeständnisse gemacht und beispielsweise darauf verzichtet, ihr nationalkonservatives „Deutsches Programm“ auf dem Parteitag diskutieren zu lassen; gemeinsam mit dem konkurrierenden „Liberalen Manifest“ wurde es in die Ausschüsse überwiesen.2 In diesem Licht wirkt Buchnas These überspitzt, Middelhauve sei in Bad Ems mit kompromissloser Härte aufgetreten (S. 152).

Die Auswirkungen der Naumann-Affäre auf die Bonner Regierungspolitik streift Buchna nur am Rande. Schon aus Gründen der Koalitionsräson konnte Bundeskanzler Konrad Adenauer die Ausrichtung des Landesverbandes nicht behagen, was er Middelhauve auch schriftlich mitteilte.3 Nach der Sprengung des Naumann-Kreises wollten in Bonn die Gerüchte nicht verstummen, Adenauer sei vorzeitig über die britische Verhaftungsaktion informiert gewesen und habe sie insgeheim begrüßt.4 Tatsächlich ließ der Skandal den Liberalen bis zur Bundestagswahl vom September 1953 noch genügend Zeit für die Aufklärungsarbeit. Zugleich mochte der Kanzler aber gehofft haben, sie würden derart geschwächt bleiben, dass sie bei den Koalitionsverhandlungen keine übertriebenen Forderungen stellen konnten.

Obwohl Middelhauve die Naumann-Affäre politisch überlebte, geriet seine Karriere in den folgenden Jahren auf die abschüssige Bahn. Als Adenauer 1954 in Nordrhein-Westfalen eine Koalition zwischen CDU und FDP erzwang (1950 war ihm das nicht gelungen), übernahm der FDP-Politiker zwar unter Ministerpräsident Karl Arnold das Amt des Wirtschafts- und Verkehrsministers. Bundespolitisch fiel er aber nur noch auf, als er im November 1955 öffentlich behauptete, Adenauer habe bei seiner Moskaureise „das Erstgeburtsrecht gegen ein Linsengericht verkauft“.5 Wenige Monate später wurde Middelhauve im Zuge der „Jungtürkenrevolution“ in Düsseldorf entmachtet. Dass die „Nazi-FDP“ nun mit den Sozialdemokraten und dem Zentrum paktierte, um „den CDU Arnold [zu] stürzen“, hielt Bundespräsident Theodor Heuss für eine „[t]olle Wirrnis“.6 Nach dem Urteil der vorliegenden Studie hatten Middelhauves politische Ziehsöhne Walter Döring, Willi Weyer und Walter Scheel jedoch nur die „‚gute Schule’“ ihres Lehrmeisters durchlaufen (S. 220).

Buchna steht seinem Gegenstand mit großer innerlicher Distanz gegenüber, was er auch an jenen Stellen noch unterstreicht, wo die Quellen schon für sich sprechen. Aber selbst nach der Lektüre seines Buches fällt es nicht leicht, sich ein Urteil über die persönlichen Motive Middelhauves zu bilden. Was trieb den promovierten Germanisten und Verleger der frühen Werke Heinrich Bölls dazu, seinen Landesverband mit bekennenden Nationalsozialisten zu kontaminieren? Welche Wirkung hatten nationale „Phrasen aus dem Munde eines hageren, mit Hornbrille versehenen, magisterhaften“ (S. 74) Mannes, der schon rein habituell kaum mit einem strammen Rechtsaußen zu verwechseln gewesen wäre? Eine Affinität für totalitäre Ideologien kann man Middelhauve, der 1960 Karl Dietrich Brachers Standardwerk „Die nationalsozialistische Machtergreifung“ herausbrachte,7 nicht nachweisen (S. 33, S. 140). Zugleich gibt es Hinweise darauf, dass er sich der Risiken und auch der moralischen Problematik seines Kurses bewusst war (S. 71, Anm. 22, S. 92). Hat ihn am Ende nicht doch die ernsthafte Absicht umgetrieben, potentiell staatsferne Gruppen an die Bundesrepublik heranzuführen, war er hierfür bereit gewesen, einen faustischen Pakt abzuschließen? So bleibt Middelhauve janusköpfig und ambivalent, ein Politiker, der „sich einer trennscharfen Kategorisierung entzieht“ (S. 215).

Buchna hat ein quellengesättigtes, pointiert geschriebenes Buch über Wege und Irrwege des deutschen Liberalismus im 20. Jahrhundert vorgelegt, das als akademisches Erstlingswerk mit Recht in eine angesehene zeitgeschichtliche Schriftenreihe aufgenommen worden ist.

Anmerkungen:
1 Vgl. vor allem Friedrich Henning, Friedrich Middelhauve, in: Walter Först (Hrsg.), Zwischen Ruhrkampf und Wiederaufbau, Köln 1972, S. 166-172.
2 Vgl. Udo Wengst (Bearb.), FDP-Bundesvorstand. Die Liberalen unter dem Vorsitz von Theodor Heuss und Franz Blücher. Sitzungsprotokolle 1949-1954 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Vierte Reihe: Deutschland seit 1945, Bd. 7/II), Düsseldorf 1990, S. LVI und 660f. (Sitzung vom 21.11.1952).
3 Adenauer an Middelhauve, 20.7.1952, in: Rudolf Morsey / Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Adenauer. Briefe 1951-1953, bearb. v. Hans Peter Mensing, Nr. 244, Berlin 1987, S. 257-258; zitiert bei Kristian Buchna auf S. 120.
4 Informationsbericht Robert Strobels vom 12.2.1953, Institut für Zeitgeschichte München, ED 329/5.
5 Zusammenfassung der Würzburger Rede Middelhauves vom 19.11.1955, Archiv der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, I/12.32.
6 Theodor Heuss an Toni Stolper, 7.2.1956, in: Eberhard Pikart (Hrsg.), Theodor Heuss. Tagebuchbriefe 1955/1963, Stuttgart 1970, S. 143; zitiert bei Kristian Buchna auf S. 208.
7 Karl Dietrich Bracher / Wolfgang Sauer / Gerhard Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, Köln 1960.

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