K. Fitschen u.a. (Hrsg.): Die Politisierung des Protestantismus

Cover
Titel
Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre


Herausgeber
Fitschen, Klaus; Hermle, Siegfried; Kunter, Katharina; Lepp, Claudia; Roggenkamp-Kaufmann, Antje
Reihe
Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B: Darstellungen, 52
Erschienen
Göttingen 2011: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
343 S.
Preis
€ 69,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uta Andrea Balbier, Institute of North American Studies, King's College London

Die 1960er-Jahre veränderten die bundesdeutsche Gesellschaft, die sich in diesem Jahrzehnt rapide politisierte, teilweise radikalisierte, umfassend demokratisierte und tiefgreifend pluralisierte. Diese Prozesse gingen auch am bundesdeutschen Protestantismus nicht spurlos vorüber. Der vorliegende Band untersucht „Foren der Politisierung des Protestantismus“, analysiert die „Politisierung der Theologie“ und fragt danach, wie unterschiedliche Politisierungsschübe des Protestantismus in den Medien und innerkirchlich verhandelt wurden. Zudem zeigen einige Autoren internationale Dimensionen der vorgestellten Politisierungsgeschichte auf. Der Band ist aus einer Tagung hervorgegangen, die die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte im Juni 2009 in Hannover veranstaltet hat.1

Drei Hauptziele werden verfolgt: Erstens soll die Geschichte des Protestantismus fest in der deutschen Zeitgeschichtsforschung verankert werden. Zweitens möchte die kirchliche Zeitgeschichte ihre Offenheit gegenüber neueren kulturhistorisch inspirierten Zugängen zum Thema Religion demonstrieren. Drittens will sie sich der Diskussion inter- und transnationaler Fragen stellen. Während der Band so unterschiedliche Themen wie die Arbeitsweise der württembergischen Landessynode, die Geschichte der Hamburger Evangelischen Studentengemeinde, die Politisierung des Religionsunterrichts sowie die Politisierung unterschiedlicher europäischer Kirchenlandschaften in den 1960er- und 1970er-Jahren behandelt, sind es aus meiner Sicht vor allem sechs Beiträge, die den neuen Anspruch der kirchlichen Zeitgeschichte einlösen.

In der Sektion zur Politisierung der Theologie untersucht Christian A. Widmann zunächst den „christlich-marxistischen Dialog“ als Beispiel für die Politisierung des Protestantismus. Er skizziert, wie Christen und Marxisten inhaltliche Anknüpfungspunkte suchten – unter den Auspizien der Kapitalismuskritik der „68er“-Bewegung. Zudem markiert er den Dialog deutlich als wichtigen Kommunikationsraum der Begegnung zwischen Ost und West.

Der folgende Beitrag von Annegreth Strümpfel zur Politisierung der Theologie in globaler Perspektive interpretiert die neuen politischen Theologien mit den Leitbegriffen „Befreiung“, „Revolution“ und „Hoffnung“ als Positionsbestimmungen der Kirchen in einer sich modernisierenden und säkularisierenden Gesellschaft. Internationale Konflikte wie die kubanische Revolution, die Bürgerrechtsbewegung in den USA und der Vietnamkrieg forderten protestantische wie katholische Theologen heraus, sich von starren Dogmen zu lösen und sich stärker mit politischen Gegenwartserfahrungen auseinanderzusetzen. Die zunehmenden Diskussionen um die Zukunft der Ökumene, ausgelöst durch Dekolonialisierungsprozesse, führten zeitgleich zu einer Globalisierung theologischen Denkens.

Die Sektion wird abgerundet durch einen Beitrag von Kornelia Sammet, die zunächst den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der feministischen Theologie nachspürt. Sie verortet diese in einem Diskussionsfeld von Kirche, Wissenschaft und Politik, definiert durch die Kernfrage nach der veränderten Rolle der Frau in der Gesellschaft. In einem zweiten Schritt arbeitet die Autorin mit Hilfe von ZeitzeugInnen-Gesprächen heraus, wie sich die unterschiedlichen Politisierungsprozesse im Selbstverständnis verschiedener Generationen von evangelischen Theologinnen niederschlugen.

Die drei Beiträge zeigen überzeugend, wie gesellschaftliche Debatten um Autorität, soziale Gerechtigkeit, die „Dritte Welt“ und die Befreiung der Frau im Protestantismus mitvollzogen und mitgedacht wurden. Sie dokumentieren den im Untersuchungszeitraum wachsenden Anspruch der Akteure, Gesellschaft verändern zu wollen, und weisen nach, wie sich parallel zu den Prozessen in der gesamten bundesdeutschen Gesellschaft auch die protestantische Theologie pluralisierte und demokratisierte.

Die folgenden beiden Aufsätze gehen der Frage nach, wie diese Politisierung von Theologie und Kirchen in der allgemeinen Medienöffentlichkeit sowie speziell in der protestantischen Publizistik diskutiert und bewertet wurde. Nicolai Hannig relativiert zunächst die verbreitete Annahme, dass sich in den späten 1960er-Jahren progressives Gedankengut zusammen mit modernen Theologieformen im bundesdeutschen Protestantismus generell durchgesetzt habe. Er zeigt, wie sich im innerkirchlichen Rahmen, aber vor allem in den Medien ein traditionalistisches Lager bildete, das einer Politisierung und somit Neuorientierung der Kirchen kritisch gegenüberstand. Diese Koalition in den Medien brachte selbst so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Rudolf Augstein und Axel Springer zusammen. Beide artikulierten die Sorge, dass ein politisierter Protestantismus Gefahr laufe, seine religiösen und transzendentalen Kerninhalte zu verlieren.

Im Folgenden untersucht Sven-Daniel Gettys, wie die eigene Politisierung in protestantischen Zeitschriften verhandelt wurde. Am Beispiel der Rezeption der Studentenproteste in den Jahren 1967/68 zeigt er, wie die „Politisierung“ zum Kampfbegriff innerkirchlicher Auseinandersetzungen avancierte. Gettys liest die Frage nach dem Rahmen und den Grenzen eines politischen Engagements als Auseinandersetzung um die zukünftige Gestalt der Kirchen im Schatten zunehmender Säkularisierungsängste. Beide Aufsätze beeindrucken durch eine präzise zeithistorische Verortung der eigenen Fragen und durch einen reflektierten Umgang mit dem problematischen Begriff der Politisierung, der eben selbst der Historisierung bedarf.

Gleiches lässt sich über den folgenden Text von Pascal Eitler sagen, der die Politisierung des Katholizismus um 1968 in diskurshistorischer Perspektive untersucht. Er entfernt sich von einer organisatorischen Betrachtungsebene und sieht den Katholizismus stärker als diskursives Produkt öffentlicher Auseinandersetzungen. So kann er nachweisen, dass es im Katholizismus ähnliche Politisierungsprozesse gab wie im Protestantismus. Zentral für diese Prozesse war eine Dialogisierung religiöser Kommunikation, die eng mit einer Demokratisierung und Verwissenschaftlichung verknüpft war. Besondere Bedeutung misst Eitler auch dem sich wandelnden Verhältnis zur „Dritten Welt“ bei. Ähnlich wie Hannig und Gettys argumentiert er, dass die politische Theologie zum Fokus der öffentlichen und innerkirchlichen Diskussion um die Gestalt der Kirche von morgen geworden sei.

Diese sechs Aufsätze unterstreichen nachdrücklich, wie stimulierend die Beschäftigung mit Religion für die zeithistorische Erforschung der Bundesrepublik sein kann. Sie zeugen auch, wie es der Herausgeberkreis angestrebt hat, von einer neuen methodischen und theoretischen Offenheit der kirchlichen Zeitgeschichte. Zudem markieren sie deutlich, dass ein spannendes zukünftiges Forschungsfeld der kirchlichen Zeitgeschichte im Bereich der inter- und transnationalen Geschichte liegen wird. Leider drohen die erwähnten Aufsätze in einer Konstruktion des Bandes unterzugehen, der ein klarer roter Faden ebenso fehlt wie eine überzeugende Gliederung. Die Entscheidung der Herausgeber, jeder Sektion – selbst wenn sie, wie eingangs das Kapitel „Rahmenbedingungen“, nur einen Aufsatz enthält – einen eigenen Einführungsteil voranzustellen und außerdem Zusammenfassungen einzelner Diskussionen während der Tagung abzudrucken, bläht den Band unnötig auf. Klar erkennbare Trends im Feld der Zeitgeschichte, wie das Schreiben einer integrierten deutschen Nachkriegsgeschichte, die auch die DDR einbezieht, und die neue zeitliche Fokussierung auf die 1970er- und 1980er-Jahre, warten hingegen noch darauf, in der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung mitvollzogen zu werden.

Anmerkung:
1 Siehe den Bericht von Karl-Heinz Fix, 7.8.2009: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2732> (11.05.2011).

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