Cover
Titel
Wunder. Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Geppert, Alexander C.T.; Kössler, Till
Reihe
Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft 1984
Erschienen
Berlin 2011: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
475 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Natascha Adamowsky, Institut für Medienkulturwissenschaft, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Der vorliegende Sammelband unternimmt den interessanten Versuch, Erscheinungsformen des Wunders im 20. Jahrhundert im Rahmen der thematischen Trias Religion, Wissenschaft und Politik zu erschließen. Nachdem das Wunder als Phänomen der Moderne seit rund zehn Jahren in den Kulturwissenschaften, der kulturwissenschaftlich orientierten Technik- und Wissenschaftsforschung sowie der Theologie, Religionswissenschaft und Soziologie ein wichtiges Thema ist, eröffnen Till Kössler und Alexander C.T. Geppert nun auch der Geschichtswissenschaft ein spannendes Feld.

Ihre Einleitung beginnen die beiden Herausgeber mit der These, dass es nie so viele Wunder gegeben habe wie im 20. Jahrhundert, weil die ‚alten‘ Wunder überdauert hätten und gänzlich neue Wunderwelten in Politik und Wirtschaft hinzugekommen seien. Die ‚alten‘ Wunder werden allerdings kaum konkretisiert, und Interpretationen zur Spezifik der ‚neuen‘ Wunder fehlen zunächst. Davon abgesehen jedoch gelingt es den Herausgebern, das Interesse an Wundern als spannende zeithistorische Forschungsaufgabe zu schildern. Diese zielt insbesondere auf die Problematisierung gesellschaftlicher Normalitätsannahmen und Wissensgrenzen.

Bereits die Unterscheidung von Wundertypen wie Heilungswundern, Wundern der Technik und ideologischer Wundervereinnahmung ergibt eine überaus anregende Lektüre – allerdings vermisst man Ideen oder weiterführende Thesen, welche Austauschverhältnisse zwischen diesen Lebenswelten bestehen könnten. Mit ihrer Wunderdefinition, die den gängigen Verwendungsweisen historischer Wunderforschung folgt1 und Wunder als liminale Ereignisse kognitiver Grenzen sowie Anlässe zu Transzendenzerfahrungen fasst, vergeben die Herausgeber zudem die Chance, die spezifische Novität moderner Wunder herauszuarbeiten. So zeigen die Aufsätze von Sonja Lührmann über die sowjetische Atheismuspropaganda oder von Falko Schmieder über die „politische Epistemologie des Wunderbegriffs“ das Wunder gerade nicht als „Einbruch des Unerklärlichen“, „Unterbrechung von Normalität“ oder „Fehler im System“ (S. 15), sondern als geplanten Alltag eines utopisch oder ideologisch inspirierten Fortschritts, der für realisierbar gehalten wurde, bzw. als Ergebnis einer „gesetzesmäßigen Produktion“ (Schmieder, S. 314).

Ungeachtet solcher Kritikpunkte enthält der Band eine anregende Mischung teils sehr guter, teils hervorragender Arbeiten zu Wundererscheinungen im 19. und 20. Jahrhundert. In einem ersten, den „Miracula“ gewidmeten Teil geht es um das religiöse Wunder im engeren bzw. christlichen Sinne. Hierher gehört die Geschichte der Heilungs-, Rettungs- und Bestätigungswunder, die die Menschen über die Zeiten und Kulturen hinweg begleiten und die, wie Gabriela Signoris Beitrag eindrücklich zeigt, von zwei Kräften beherrscht sind: den charismatischen Wunderheilern und den als heilig erachteten Orten. Gegen Ende des Mittelalters, so Signori, habe eine bemerkenswerte Entwicklung eingesetzt, in deren Verlauf immer mehr Gläubige ihre Schutzheiligen anriefen, wo immer sie sich gerade befanden. Dadurch verließen Wundergeschichten zunehmend den Bereich des Spektakulären und wurden zu einer therapeutischen Praxis unter anderen (S. 82f.). Für eine korrespondierende Lektüre bietet sich hier Susanne Michls Aufsatz zu „Kriegswunder[n] und Heilsversprechen in der Medizin des 20. Jahrhunderts“ an. Am Beispiel medizinischer Erklärungsmuster der Beziehungen zwischen Geist und Körper zeigt Michl, wie das Arzt-Patienten-Verhältnis zu einem privilegierten Ort des modernen Wunders in Gestalt der Wunderheilung überhöht wurde. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als besonders die so genannten Kriegswunderheilungen von schwer traumatisierten Soldaten die Diskussion anregten, entwickelte sich in der Ärzteschaft ein neues professionelles Selbstverständnis, das den Arzt in Notzeiten als magischen Wunderheiler konturierte. In der Gegenüberstellung beider Beiträge entsteht so ein Bild moderner Heilungswunder, die sich nicht nur im klassischen Kontext christlicher Frömmigkeit ereignen, sondern auch in anderen Wissensbereichen und Praktiken eine je eigene Dynamik entfalten.

Nicht minder bedeutsam für die Moderne sind neben den Wunderheilungen die Marienerscheinungen und, mit beiden verbunden, die Wallfahrten. Wer sich bisher gefragt hat, was die betroffenen Frauen eigentlich gesehen haben, als ihnen Maria erschienen ist, wird durch Helmut Zanders außerordentlich instruktiven Aufsatz belehrt, dass diese Frage komplett an den Eigenheiten des Phänomens vorbeigeht. Vielmehr handelt es sich um einen wichtigen wissenschafts- und ideengeschichtlichen Schauplatz für eine nichthegemoniale Spiritualitätsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die empirische Naturwissenschaft und religiöse Erfahrungen miteinander zu verbinden suchte. Denn während das akademische Verständnis die Erfahrung des Wunders als eine subjektiv bestimmte fassen kann, die sich nur innerhalb sozial definierter Lebenswelten machen lässt, bestehen die Gläubigen von Marienerscheinungen nicht nur auf der subjektiven Gewissheit innerer Erfahrung, sondern auf der Objektivität der Marienerscheinung als einem Ausdruck realer Gegenwart. Dazu bedienen sie sich der rationalistischen Beweistheorie des 19. Jahrhunderts, etwa wenn Maria Fußspuren auf einem Rasen in der Eifel hinterlässt. „Mit gläubigem Rationalismus gegen den ungläubigen Rationalismus“, so fasst Zander diese noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts populären Wunder zusammen (S. 171).

Der zweite Teil des Bandes ist den Naturwundern gewidmet. In den instruktiven Aufsätzen von Eva Johach und Diethard Sawicki geht es dabei eher um Auseinandersetzungen moderner Naturwissenschaft mit Wundern, in Alexander Galls erhellender Studie vor allem um die Wunder der Technik und die für Wunder konstitutive Beziehung zu Medien und medialen Darstellungsformen.

Anhand der bekannten Dialektik der Diskurse zur Ent- und Wiederverzauberung der Welt geht Johach den Transformationen nach, denen der Affekt des Sich-Wunderns und seine Bedeutung für die emotionale wie moralische Haltung des modernen Wissenschaftlers unterliegen. Am Beispiel dreier idealtypischer Strategien – „Spiritualisierung“, „Ästhetisierung“ und „Teleologisierung“ – stellt sie Zusammenhänge her mit der Konjunktur holistischer und vitalistischer Ansätze insbesondere in den 1920er- und 1970er-Jahren, mit esoterischen Strömungen in den Randbereichen der Biologie sowie mit vorzugsweise angloamerikanischen klerikalen Bemühungen, die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie aus der modernen Wissenskultur zu tilgen und durch szientifisch verbrämte Schöpfungsgeschichten zu ersetzen.

Bei Sawicki überzeugen neben der spannenden Frage nach den „Wundern des Lebens“ am Beispiel der Bionexperimente Wilhelm Reichs seine vier Thesen zu den Charakteristika von Wundern im 20. Jahrhundert (S. 240ff.). Moderne Wunder seien vom Spektakulären und Staunenerregenden geprägt, was Sawicki in besonderer Weise bei den Wundern der Wissenschaft und der Technik verortet, die überwältigende Erlebnisse böten und eine utopische Dynamik freisetzten, indem sie dem Menschen die Überwindung seiner Endlichkeit und die Vervollkommnung seines Daseins suggerierten. Diese modernen Wunder seien somit als chiliastische Vorzeichen einer bevorstehenden Vollendung von Mensch, Natur und Gesellschaft in einer erneuerten Welt zu verstehen, welche sich mit den politischen Utopien der Zeit verschränkten. Ein drittes Merkmal des modernen Wunderbegriffs sei seine rhetorische Ambivalenz. Was für die einen die Decouvrierung der Beschränktheit des menschlichen Wissens oder der herrschenden Wissensordnung anzeige, sei den anderen Beleg für Scharlatanerie, Leichtgläubigkeit und Täuschung. Demzufolge stünden moderne Wunder viertens im Brennpunkt erkenntnistheoretischer Problematisierungen und generierten verstärkt Debatten über epistemologische Standards und Objektivitätskriterien.

Der dritte Teil schließlich versammelt unter dem Begriff „Wunderpolitiken“ verschiedene Gebrauchsformen des Wunders im 20. Jahrhundert. Der gemeinsame Adressat der Wunderinszenierungen ist die Masse: Bei Tobias Becker sind dies beispielsweise die Theaterbesucher des vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen, bis Anfang der 1930er-Jahre international populären Massenspektakels „Das Mirakel“; bei Sonja Lührmann ist es die Masse der ländlichen Bevölkerung, die von der sowjetischen Atheismuspropaganda mit den „Wundern ohne Wunder“ konfrontiert wurde, das heißt den wissenschaftlich-technisch fundierten Wundern des sozialistischen Fortschritts. Noch einmal erwähnt sei auch Falko Schmieders Aufsatz, der unter anderem eine interessante Interpretation zur Häufung der Wunderrhetorik in der (west)deutschen Nachkriegszeit anbietet. Sozialpsychologisch lasse sich diese Häufung als „Reaktion auf das unheimliche Erbe der Vergangenheit“ interpretieren, als „kollektives Bedürfnis der Abwehr und Verdrängung“, um auszublenden, was man getan hatte und dass man besiegt worden war. „Unter dem Schirm des Wunderbegriffs imaginierten und genossen die früheren Anhänger der Volksgemeinschaft ihren unheimlichen Status als Sieger der Geschichte.“ (S. 322f.)

Abschließend resümiert Martin Baumeister das Wunder als „Schlüsselkonzept und Leitbegriff “ der Moderne (S. 419) und fordert die Geschichtswissenschaft auf, sich verstärkt mit den strukturellen Analogien bzw. Verschränkungen von religiösen und profanen Wundern auseinanderzusetzen. Insgesamt bietet die hohe Qualität der Einzelbeiträge eine facettenreiche Lektüre. Die Fallstudien machen klar, wie vielschichtig das Feld moderner Wunderphänomene ist und welche weiterführenden Forschungsoptionen sich bieten, wenn man beispielsweise auch nach geschlechterspezifischen, medienhistorischen oder wissensästhetischen Aspekten fragen würde, um die drei Diskursfelder – Politik, Wissenschaft, Religion – in ein Verhältnis zu setzen.

Anmerkung:
1 Z.B. Lorraine Daston / Katharine Park, Wunder und die Ordnung der Natur. 1150–1750, Berlin 2002.