H. Steinert: Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen

Cover
Titel
Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus


Autor(en)
Steinert, Heinz
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Brandt, Goethe-Universität Frankfurt am Main/FernUniversität Hagen

Das hier anzuzeigende Buch des im März diesen Jahres verstorbenen Soziologen Heinz Steinert ist zu empfehlen. Zusammen mit den Arbeiten von Hartmut Lehmann und Dirk Kaesler bildet es im Moment die interessanteste deutschsprachige Einführung in Max Webers „protestantische Ethik“ (= PE), solange noch nicht die Edition der PE im Rahmen der Weber-Gesamtausgabe erschienen ist.1 Dass Steinert von Anfang an mit offenen Karten spielt und keinen Hehl daraus macht, dass er – anders als der Historiker Lehmann und der Soziologe Kaesler – von Webers Text nicht viel hält, wie bereits der Titel erkennen lässt, ist nur eine Stärke des flüssig und pointiert geschriebenen Buches. Vor allem aber zeichnen zwei Dinge seine Monographie aus: Aufmerksame Lektüre von Webers Texten und Quellen sowie der Versuch, den Klassiker der Soziologie konsequent zu historisieren. Es mag mitunter stören, dass Steinert selten ein Blatt vor den Mund nimmt und seine fundamentale Kritik an Weber des Öfteren in Polemik umschlägt; aufs Ganze betrachtet macht es aber die Lektüre kurzweilig.

Im ersten, zentralen Teil seines Buches stellt Steinert sukzessive die fünf Kapitel der PE und den Sekten-Aufsatz2 vor, liefert grundlegende Informationen zum Kontext der PE (Kulturkampf, Kulturprotestantismus, Werner Sombart, Ernst Troeltsch etc.) und beginnt in einem einfachen, ganz basalen hermeneutischen Verfahren mit der Auswertung des Textes. Dazwischen eingebaut sind Exkurse, in denen wichtige Quellen Webers, etwa Benjamin Franklin oder Jakob Fugger der Reiche, näher betrachtet werden. Deutlich herausgestellt werden die zahlreichen inneren Widersprüche in Webers Text, die begrifflichen und methodischen Defizite sowie der ausgesprochen problematische Umgang mit den Quellen. Verwiesen wird auch auf die nicht wenigen Rücknahmen und Relativierungen in Webers Argumentation, die letztlich seine zentralen Kategorien („Geist des Kapitalismus“) sowie seine ursprüngliche Fragestellung verwässern: Welcher Zusammenhang bestand zwischen Weltabgewandtheit, Askese und ökonomischem Erfolg, und wie entstand daraus der Kapitalismus? Wie lässt sich die Haltung „Arbeit als Beruf“ erklären? Am Ende beruht der Kapitalismus in der PE „’irgendwie’“ (S. 107) auf Protestantismus, beides hängt „irgendwie“ miteinander zusammen und „irgendwie“ spielten die Puritaner dabei eine ganz wichtige Rolle; und für die allermeisten Mitglieder der Gesellschaft galt zu Webers Zeiten „Berufspflicht“ (Weber), hatte Arbeit normativen Charakter angenommen.

In den folgenden Kapiteln setzt Steinert sein Programm der Historisierung der PE fort und greift vertiefend einige zentrale Aspekte aus dem ersten Teil auf. Zunächst folgen Ausführungen zu Webers Methode und Methodologie: Ausführlich werden unter anderem der Objektivitätsaufsatz von 1904 und Webers Beschäftigung mit Carl Menger und der Grenznutzenschule sowie mit dem Neukantianismus und dem Historismus in der Spielart der Historischen Schule der Nationalökonomie vorgestellt; erläutert werden der historische Ort der Methode Webers, seine Begriffsbildung sowie das Konzept „Idealtypus“.

Im dritten Teil wird die lange Rezeptionsgeschichte der PE als Teil der Bedeutung, die ihr bis heute zukommt, präsentiert. Geschildert werden die unmittelbar mit der Veröffentlichung einsetzenden Debatten und die besondere Rolle, die Troeltsch nicht nur bei der Entstehung der PE, sondern auch in diesem Zusammenhang spielte. Erfreulicherweise geht Steinert auch auf Webers mit Schärfe vorgetragene Antikritiken ein, die in der Weberforschung mitunter unerwähnt bleiben und in denen Weber weitere Relativierungen seiner Position vornahm. Erwähnt werden auch die Kontroversen mit Lujo Brentano und Sombart, die ihren Niederschlag in der überarbeiteten Fassung der PE von 1920 fanden. Überhaupt werden die grundlegenden Veränderungen in Webers Werk zwischen 1904/05 und seinem frühen Tod 1920 (Vom Beruf zum Rationalismus) sowie ihre Folgen für die PE nachgezeichnet. Schließlich schildert Steinert die nicht minder leidenschaftlichen Kontroversen um die PE seit Webers Ableben und diskutiert in Auswahl wichtige deutsch- und englischsprachige Publikationen aus den Geschichts- und Sozialwissenschaften. Deutlich wird nochmals die empirische Haltlosigkeit der Weber-These, beispielsweise Webers „undifferenziert[e] und falsch[e]“ (S. 254) Darstellung der Puritaner. Zugleich wird auf „den merkwürdigen Modus der Kritik“ verwiesen, „der in der Sache zeigt, dass Weber falsch lag, aber unermüdlich betont, wie bedeutend die Arbeit trotzdem war und ist“ (S. 243). Denn vor allem in der angelsächsischen Forschung erfreut sich die Große Erzählung von den protestantisch-puritanischen Ursprüngen des Kapitalismus bis heute wider alle empirische Evidenz einer gewissen Beliebtheit.

Unter der Überschrift „Die ‚Protestantische Ethik’ im preußischen Fin de siècle“ (S. 275) ordnet Steinert im letzten Teil Webers latent-offenen Wunsch nach Askese und Disziplin in die Kultur des späten Kaiserreichs ein und versucht nochmals, sich Webers Person zu nähern. Die Lage des Bürgertums im „Übergang vom Industriekapitalismus zum Fordismus“ (S. 280), die Misere des Liberalismus um die Jahrhundertwende und Webers Anglophilie werden erläutert. Es geht weiter mit der „Malaise des bürgerlichen Individuums“ (S. 284) mit all seinen Beschädigungen und Deformationen. Und über die „Krise der bürgerlichen Männlichkeit“ (S. 295) sowie den „verunsicherte[n] Unternehmer“ (S. 297) als bürgerlichen Helden kommt der Autor schließlich zu einer „idealtypischen“ Gegenüberstellung von Wien und Heidelberg: Hier die Stadt der Psychoanalyse und Kunst, der „reflektierte[n] Individualität und Männlichkeit“, basierend auf „Selbstironie“ (S. 286, Hervorhebung i. Org.); dort „das preußisch-aristokratisch-militärische Herrenmenschentum […] gebrochen durch verbreitete ‚Nervosität’“ (S. 295); und irgendwo dazwischen Weber, der dem Bürgertum und sich selbst Askese und Disziplin verordnet. Auf der Basis dieser holzschnittartigen Gegenüberstellungen wird Weber am Ende des Buches von Steinert – zuletzt wohnhaft in Wien, wie man dem Buch entnehmen kann – bei Freud auf die Couch gelegt und seine Phantasie von der „innerweltlichen Askese“ gedeutet.

Warum Steinert nicht wenigstens an dieser Stelle die neueren biographischen Arbeiten von Joachim Radkau und anderen rezipiert hat, um zu differenzierteren Sichtweisen auf Webers Psyche zu kommen, bleibt unklar. Auch liegen beispielsweise zur Geschichte der Männlichkeit mittlerweile zahlreiche Arbeiten jenseits der schlichten, dichotomischen Modelle vor, wie sie Steinert präsentiert.3 Zudem vermisst man bei so manchem historischen Exkurs, etwa zu den Fuggern, Hinweise auf neuere Literatur. Vielleicht hätte Steinert auch noch einmal in dem von ihm gleich mehrfach empfohlenen dritten Band von Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte nachlesen sollen, warum die Geschichtswissenschaft schon seit einiger Zeit das Konzept „Organisierter Kapitalismus“ ablehnt, bevor er seinen Lesern wiederholt erzählt, die Historiker würden noch heute mit eben diesem Konzept das Verhältnis von Staat und Wirtschaft im Industriekapitalismus untersuchen.4 Aber vielleicht sind das nur kleinliche, fachspezifische Einwände, ebenso der Hinweis, dass das Buch Redundanzen aufweist. Im Detail wird man sicher auch über so manche Bewertung streiten können, etwa über Steinerts Einschätzung, bei der PE sei nicht die Entstehung von Kapitalismus das Thema, sondern es handele sich „in der Hauptsache“ um „eine theologische Untersuchung über den lutherischen Protestantismus im Kontrast zu den dissidenten englischen Sekten“ (S. 125).

Eigentlich ist vieles von Steinerts vernichtender Kritik an Webers Methode, Begriffsbildung und Argumentation bereits seit längerem bekannt. Sein „phantasievoller“ Umgang mit den Quellen beispielsweise wurde Weber seit 1904/05 schon mehrfach nachgewiesen. Andererseits wurde die Weber-These „mit dem Anspruch vorgetragen […], eine historische Wirklichkeit nachzuzeichnen“, und die PE wird „auch heute noch so gelesen“ (S. 235) – vielleicht nicht von allen, aber doch immer noch von vielen. Diese Ignoranz gegenüber der Forschung rechtfertigt allemal Steinerts kompakte Zusammenstellung kritischer Einwände gegen die Große Erzählung. Eine mögliche Perspektive für die zukünftige Beschäftigung mit der PE deutet sich bei Steinert nur an und lässt sich für die Geschichtswissenschaften vielleicht folgendermaßen formulieren: Versteht man unter dem „Geist des Kapitalismus“ eine dem Kapitalismus angemessene Lebensführung, einen Habitus, der vor allem auf Berufspflicht fußt und eventuell sogar durch ein religiöses Umfeld begünstigt wurde, dann wären das doch für die neuere Kulturgeschichtsschreibung gute Gründe, sich einmal wieder der PE zu widmen.

Anmerkungen:
1 Hartmut Lehmann, Max Webers „Protestantische Ethik“. Beiträge aus der Sicht eines Historikers, Göttingen 1996; ders., Die Entzauberung der Welt. Studien zu Themen von Max Weber, Göttingen 2009; Dirk Kaesler (Hrsg.), Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, München 2004 (vgl. die Einleitung von Kaesler, S. 7-64).
2 Der Sekten-Aufsatz wurde 1920 im ersten Band der „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“ veröffentlicht und zwar unmittelbar im Anschluss an die PE, weswegen er als das „sechste Kapitel“ der PE gilt. Er geht ursprünglich auf zwei Artikel aus dem Jahr 1906 zurück, in denen Weber einige Erfahrungen seiner Amerikareise (1905) reflektierte, und wurde für die Veröffentlichung 1920 überarbeitet; vgl. Max Weber, Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1, Tübingen 1920, S. 207-236.
3 Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005; Fritz Ringer, Max Weber. An intellectual Biography, Chicago 2004. Vgl. zur Geschichte der Männlichkeit zusammenfassend Jürgen Martschukat / Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt am Main 2008.
4 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München 1995, S. 663f.

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