Titel
Marianne or Germania?. Nationalizing Women in Alsace, 1870–1946


Autor(en)
Vlossak, Elizabeth
Erschienen
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
£69.00 / € 73,61
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bettina Brandt, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Das Elsass als passives Opfer zwischen konkurrierenden Nationalismen, die Elsässerin als stille Heldin antideutschen Widerstands: mit ihrer Dissertation will Elizabeth Vlossak zur Dekonstruktion und Historisierung von Mythen der Region beitragen, die im kollektiven Gedächtnis bis heute existieren. Ihr Ziel ist es, die aktive Teilnahme von Frauen an den Nationalisierungsprojekten von der deutschen Annexion 1871 bis zur Gründung der Vierten Französischen Republik im Jahre 1946 sichtbar zu machen, und auch die Region als „active player“ (S. 23) im Zeitalter des Nationalismus zu verstehen. Wie versuchten Deutschland und Frankreich, Frauen in der Region zu loyalen Mitgliedern der Nation zu machen? Nahmen Frauen die Nationalisierungsangebote an? Welches kollektive Selbstverständnis konnten sie über einen viermaligen Wechsel nationalstaatlicher Zugehörigkeit hinweg entwickeln? Die Fragen verklammern sozial- und kulturhistorische Perspektiven auf Prozesse des nation building mit Erkenntnisinteressen der Geschlechtergeschichte des Nationalen, eines Forschungsfeldes, das sich mit Studien zu den geschlechterspezifischen Identifikationsangeboten, Politisierungseffekten und Codierungen der Nation sowie zur Geschlechtersignatur nationaler Erinnerungskulturen etabliert hat.1 Die Wahl des Elsass ist dabei nicht nur der Abwesenheit von Frauen in der Geschichtsschreibung der Region geschuldet. Das Untersuchungsterrain fordert auch heraus, denn die Brüche nationalstaatlicher Zugehörigkeit lassen den Konstruktionscharakter des Nationalen ebenso wie historiographischer Muster und analytischer Typen der Nationsbildung umso deutlicher hervortreten.

In ihrer Einleitung betont Vlossak das kritische Potenzial geschlechtergeschichtlicher und multiperspektivischer Zugänge zu den widersprüchlichen Verbindungen zwischen Nation, Region, Konfession oder Klasse, die den heuristischen Wert klassischer Modelle wie der Unterscheidung zwischen Staatsbürger- und ethnisch-kultureller Nation in Frage stellen. Mit einer überwiegend katholischen und deutschsprachigen Bevölkerung, in deren Wertehorizont die Religion ebenso verankert war wie die Französische Revolution, fügte sich das Elsass keinem Idealtyp ein. Noch weniger überzeugt die Unterscheidung zwischen Staats- und Kulturnation aus dem Blickwinkel der Geschlechtergeschichte. Auch hier verdeutlicht die elsässische Situation auf eigene Weise, dass die Frauen zugedachten familiär-kulturellen Zuständigkeiten in der Nation ein Politikum waren. Wie Elizabeth Vlossak zeigt, rief die Erziehungsmacht der Mütter, national überhöht und zugleich staatlich schwer kontrollierbar, auf deutscher wie französischer Seite die Vorstellung von der widerständigen Elsässerin hervor. War diese Figur aus deutscher Sicht eine beunruhigende Quelle antideutscher Opposition, stilisierte die französische Propaganda des Ersten Weltkrieges sie dagegen zur Hüterin des französischen Nationalkultes.

Aber wie begegneten Frauen selbst der Nation? Vlossak geht dieser Frage in sechs Kapiteln nach. Die ersten beiden Kapitel widmen sich der nationalen Integration von Mädchen und Frauen in das Deutsche Kaiserreich durch Schule, Presse und Frauenvereine, das dritte Kapitel den Wahrnehmungen der Nation während des Ersten Weltkrieges, Kapitel vier und fünf der Integrationspolitik der Dritten Republik und das letzte Kapitel den Faktoren des „final stage of nationalization“ (S. 253ff.), der NS-Politik und dem 1945 eingeführten Wahlrecht, das die Elsässerinnen am Aufbau der Vierten Republik beteiligte. Mit der 1871 nach preußischem Muster eingeführten Volksschulpflicht wurden auch Mädchen in die Nationalerziehung des Deutschen Reiches einbezogen. Die geschlechterspezifische Erziehung hatte jedoch paradoxe Effekte, denn sie entließ die Mehrzahl der Mädchen im Alter von dreizehn Jahren in den Raum der Familie und erwies sich gerade darin als ein Hindernis für „women’s full Germanization“ (S. 68).2 Presse und Frauenvereine sollten im Kaiserreich wie später in der Dritten Republik die weibliche Nationalerziehung fortsetzen. Nach Vlossaks Befund wirkte die Ausdifferenzierung beider Öffentlichkeiten als Motor weiblicher Politisierung, sowohl in der Aufwertung konservativer Rollenangebote als auch in der Diffusion progressiver Themen wie weibliche Erwerbstätigkeit und Frauenwahlrecht. Gleichermaßen warben Ableger deutscher und französischer Organisationen wie der Vaterländische Frauenverein oder der Conseil National des Femmes Françaises um die Gunst der Elsässerinnen und verfehlten sie in dem Maße, wie sie regionale Besonderheiten ignorierten. Weit mehr organisierten sich elsässische Frauen in konfessionellen und regionalen Vereinen. Mit der wiederholten Beobachtung von „women’s closer ties to the region, rather than to the nation“ (S. 88) formuliert Vlossak eine zentrale These ihrer Studie: die mit den Nationalisierungsbemühungen einhergehende Modernisierung weiblicher Handlungsräume fand im Rahmen eines sich parallel ausbildenden regionalen Kollektivbewusstseins statt.

Auch die französische Integrationspolitik der Zwischenkriegszeit, die Frauen der Region durch die Vermittlung der Sprache und republikanischer Werte zu politisieren suchte, sorgte keineswegs für ein ungetrübtes Verhältnis zur Nation. Die Realität des französischen Rechts widersprach der integrativen Symbolik der Elsässerin als nationale Kulturbeauftragte: Elsässerinnen mit einem deutschen Ehemann blieben Deutsche und mussten existenzielle und politische Benachteiligungen hinnehmen. Gleichwohl war es das Wechselbad zwischen der 1940 einsetzenden Nazifizierung, die im Elsass mit stärkerem Zwang auftrat als im restlichen besetzten Frankreich, und dem 1945 durch Frankreich gewährten Wahlrecht, das zur nationalen Integration führte.

Nicht mehr die Allegorie der Alsatia/Alsacienne, nur noch ihre Schleife symbolisierte 1944 aus der Sicht einer Straßburger Zeitung die Kollektividentität des Elsass (S. 290). Aus der symbolischen Hülle ausgezogen, war die leibhaftige Alsacienne ein Jahr später zur Staatsbürgerin geworden. In der Nachkriegszeit dominierte die Kollektivfigur der Malgré-nous, der gegen ihren Willen von Deutschland zwangsrekrutierten elsässischen Männer, das Gedächtnis der Region. Die Gleichsetzung männlicher Akteure mit einem scheinbar geschlechtsneutralen, allgemeinen Wir, das die Geschichte der in den NS-Kriegshilfsdienst und Arbeitsdienst gezwungenen Elsässerinnen verdrängte, bezeugt auf ihre Weise die Ankunft des Elsass in der Nation.

Elizabeth Vlossak arbeitet mit Akten und Korrespondenzen aus Schulverwaltung und Frauenvereinen, Lehrplänen, Schulbüchern, Zeitungen, Heimatliteratur und Kriegspropaganda in Bild, Lied und Theater. Gemessen am Gewicht, das sie der Erfahrung beimisst, ist das Korpus der Selbstzeugnisse jedoch schmal. Nur im Kapitel über den Ersten Weltkrieg analysiert sie mit dem in den 1930er-Jahren publizierten Tagebuch der Colmarerin Elisabeth-Esther Levy eine individuelle Wahrnehmung genauer. Ebenso überrascht, dass dem Fokus auf „the ways in which ordinary people deal with issues of national integration on a daily basis“ (S. 18) kein Blick auf Praktiken wie Begriffsverwendungen, Feste, Tourismus oder die regionale Vereins- und Geschichtskultur entspricht.3 Dem weiblichen Umgang mit den Nationalisierungsofferten nähert sich Vlossak über die Mitgliederzahlen von Frauenvereinen, die Erscheinungsdauer von Periodika sowie Inhaltsanalysen von Schulbüchern, Zeitungen und Kriegspropaganda an. So rekonstruiert sie wichtige Bedingungen für und Hinweise auf mögliche Identifikationen, schöpft aber die Spielräume einer kulturgeschichtlichen Wirkungs- und Wahrnehmungsanalyse des Nationalen nicht aus. Zu kurz kommt schließlich der relationale Blick auf Geschlechterbeziehungen. Inwieweit war auch die Schwierigkeit elsässischer Männer, einem national-politischen Habitus von Staatsgründern und Kriegshelden nachzukommen, ein Faktor für die weibliche Zurückhaltung, nationale Partizipations- und Politisierungsangebote anzunehmen? Wenn Männer auf der unterlegenen Seite gestanden, desertiert oder zwangseingezogen worden waren, wie aktiv konnten Frauen dann zu politischen Gewinnerinnen werden? Insgesamt aber bietet Vlossak eine theoretisch reflektierte, differenziert argumentierende und informationsgesättigte Frauengeschichte des Elsass im Zeitalter des Nationalismus.

Anmerkungen:
1 Zur internationalen Forschung vgl. Mrinalini Sinha, Gender and Nation, in: Bonnie G. Smith (Hrsg.), Women’s History in Global Perspective, Bd. 1, Urbana 2004, S. 229–274; Ida Blom / Karen Hagemann / Catherine Hall (Hrsg.), Gendered Nations. Nationalisms and Gender Order in the Long Nineteenth Century, Oxford 2000.
2 Eine zu optimistische Einschätzung der Nationalisierungsagentur Schule stellt Carolyn Grone auch für Preußen in Frage: Schulen der Nation? Nationale Bildung an höheren Schulen des Deutschen Kaiserreichs von 1871 bis 1914, Bielefeld 2008 <http://pub.uni-bielefeld.de/publication/2306162> (29.05.2013).
3 Den kulturgeschichtlichen Zugang, allerdings ohne geschlechtergeschichtliche Perspektive, wählt Günter Riederer, Feiern im Reichsland. Politische Symbolik, öffentliche Festkultur und die Erfindung kollektiver Zugehörigkeiten in Elsaß-Lothringen (1871–1918), Trier 2004.

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