W. Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord

Titel
Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre


Autor(en)
Speitkamp, Winfried
Erschienen
Stuttgart 2010: Reclam
Anzahl Seiten
366 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Kühnel, Exzellenzcluster "Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne", Westfälische-Wilhelms-Universität Münster

„Dieses Buch will zeigen, was Menschen unter Ehre verstanden haben und warum sie ihnen wichtig war. Es ist ein Buch über die Unvermeidlichkeit von Ehrvorstellungen“ (S. 22). So umreißt Winfried Speitkamp sein Programm. Um die kulturübergreifende Bedeutung von Ehre aufzuzeigen, analysiert er ihren Entwicklungsverlauf von den homerischen Epen bis in die moderne Nachkriegsgesellschaft. Dabei geht es ihm nicht zuletzt darum, das weit verbreitete Narrativ eines mit Beginn der Moderne zunehmenden Bedeutungsverlusts der Ehre zu relativieren. Es versteht sich von selbst, dass eine derart dimensionierte Untersuchung in erster Linie auf Basis von Fachliteratur durchgeführt werden konnte.

Speitkamp beginnt seine Untersuchung mit einem Exkurs, einer „Geschichte der Ohrfeige“. Als Mittel der Demütigung bedeute der physische Akt der Ohrfeige vor allem einen Angriff auf die Ehre. Wegen der kulturübergreifenden Bedeutung von Ehre sei daher die Ohrfeige eine „zeitübergreifende und offenbar auch transkulturelle Praxis“ (S. 67). Doch während die Ohrfeige in der Vormoderne dazu gedient habe, ständische Hierarchien zu reproduzieren (S. 33f.), könne sie in der modernen Gesellschaft dazu in der Lage sein, soziale Hierarchien umzukehren (S. 62ff.).

Der chronologisch erste Teil widmet sich der Entwicklung der Ehre bis ins 19. Jahrhundert, beginnend mit dem „Anfang aller Deutung“ (S. 71), der Ilias. In der homerischen Gesellschaft sei Ehre hauptsächlich agonal angelegt gewesen, bevor sich unter dem Einfluss griechischer Philosophie und des Christentums Vorstellungen von innerer Ehre ausgebildet hätten. In Mittelalter und Früher Neuzeit sei Ehre weiterhin der grundlegende Bezugsrahmen geblieben, auch wenn sich für die verschiedenen sozialen Gruppen in der sich ausdifferenzierenden Gesellschaft unterschiedliche Ehrvorstellungen entwickelten. Im Zuge des Individualisierungsprozesses hätten dann zunehmend Formen von individueller und innerer Ehre an Bedeutung gewonnen.

Im darauf folgenden Abschnitt wendet sich Speitkamp der Kultur der Ehre im 19. Jahrhundert zu. Dabei sieht er in der ‚Verbürgerlichung‘ des Duells einen deutlichen Hinweis auf die Herausbildung eines allgemeinen bürgerlichen Ehrbegriffes, der nicht mehr nach ständischen Grenzen differierte. Gleichzeitig, so Speitkamp, sei die Vorstellung von Ehre mit Beginn der Kriege gegen Napoleon immer stärker auf ‚die Nation‘ ausgeweitet worden, bis sie schließlich im Versailler Vertrag in „die niederschmetternde Empfindung absoluter nationaler Schmach“ gemündet sei (S. 160). Trotz verschiedentlich vorgebrachter Kritik am Kult der Ehre sei ihre grundsätzliche Geltung jedoch niemals in Zweifel gezogen worden.

Im Zeitalter der Weltkriege habe sich dann ein regelrechter Ehrenkult entwickelt. Allerdings sei die individuelle Ehre nahezu vollständig von der kollektiven Ehre einer abstrakten Gemeinschaft abgelöst worden. Nur die Teilhabe an Ehre habe die „Integration in den Staat“ ermöglicht, wodurch im Gegenzug der Entzug von Ehre zum „Ausschluss aus der Gemeinschaft“ geführt habe (S. 203). Die Kennzeichnung jüdischer Bürger mit einem gelben Stern sei so „gewissermaßen das Gegenteil der Ehrung“ gewesen (S. 203).

Rufen die teilweise etwas schematischen Aussagen über ‚die Ehre‘ bis zu dieser Stelle im Buch allenfalls eine gewisse Skepsis hervor, so stellt sich bei der Charakterisierung der Behandlung der Juden im Nationalsozialismus als „Schmähung und Entehrung“ (S. 203) ein wirkliches Unbehagen ein. Es erscheint doch fraglich, ob dieser Aspekt der Geschichte angemessen mit Begrifflichkeiten von Ehre und Ehrentzug beschrieben werden kann. Das Problem wird auch nicht dadurch behoben, dass Speitkamp Ehrkonflikte im ‚Dritten Reich‘ als eine „reale soziale und politische Praxis“ von teilweise „existenzieller Bedeutung“ beschreibt – zumal er mit der Abgrenzung und Abqualifizierung von Ehrkonflikten anderer Zeiten als „bloß symbolische“ (ebd.) die grundlegende gesellschaftliche Bedeutung symbolischer Kommunikation für die beteiligten Akteure verkennt.

Insgesamt bleibt offen, was als ‚Ehre‘ verstanden wird. Speitkamp selbst stellt die Frage, wie Ehre gleichzeitig „Gegenstand der Untersuchung“ und „analytische Kategorie“ sein kann (S. 12), gibt hierauf aber keine Antwort. Explizit wendet er sich gegen einen Kulturrelativismus, der von der „soziokulturellen Bedingtheit von Werten und Normen“ ausgeht (S. 281, ähnlich S. 319). ‚Ehre‘ sei, wenn schon keine anthropologische, so doch wohl zumindest eine „empirisch feststellbare soziale Konstante“ (S. 17, ähnlich S. 319), auf die keine Gesellschaft verzichten könne (S. 315). Zur gleichen Zeit sei ‚Ehre‘ aber auch ein „offenes, wandelbares kulturelles Konzept“ (S. 22), dessen „Inhalte“ sich ständig änderten (S. 67, 139, 314): „Ehre ist ein Chamäleon. […] Ständig wechselt sie nicht nur die Farbe und das Aussehen, sondern auch den Inhalt und den Namen. Und doch geht es im Kern um dasselbe.“ (S. 319) Was aber diesen Kern ausmacht, wird nicht klar. An verschiedenen Stellen im Verlauf des Buches bleibt fraglich, warum bestimmte kulturelle Praktiken unter die Kategorie ‚Ehre‘ fallen, andere aber nicht. Speitkamp lässt daher in Bezug auf die Ehre auch bewusst offen, „was immer man darunter konkret versteht“ (S. 10f., ähnlich S. 320).

In anderen Passagen hingegen arbeitet er sehr sorgfältig gegen gängige Klischees an. Dies ist besonders im Abschnitt über die Ehre von Migranten in Deutschland der Fall. Dem gängigen Deutungsmuster nach würden fremde, häufig mediterrane Ehrvorstellungen „quasi nach Deutschland importiert“ und gerieten dann mit westlichen Werten in Konflikt. Die Probleme, beispielsweise Ehrenmorde an Geschwistern, resultierten demnach aus der Unvereinbarkeit zwischen archaischen und modernen Kommunikationscodes. Zu Recht kritisiert Speitkamp, dass die Verwendung des Ehrbegriffs in der Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang „nicht sehr sorgfältig“ bzw. „zu plakativ“ sei (S. 275f.). Denn bei der ‚Migrantenehre‘ handle es sich gerade nicht um ein traditionales Relikt aus einer eigentlich längst vergangenen Welt, „sondern [um] ein neues, hybrides Produkt“ (S. 269). Diese spezifischen Ehrvorstellungen mit ihren oft äußerst gewalttätigen Konsequenzen seien eine Folge der kulturellen Unsicherheit bzw. der „Grenzsituation zwischen den Kulturen“, in der sich viele Migranten befänden. Sie resultierten damit aus einer „spezifische[n] Konstellation der Moderne“ (S. 277) und hätten also „weit mehr mit der Gegenwart als mit Tradition und Vergangenheit zu tun“ (S. 268).

Mit diesen Abschnitten führt Speitkamp deutlich vor Augen, wie wichtig es ist, ‚Ehre‘ in historischer Perspektive differenziert zu betrachten. Das Beziehungsgefüge, in das Ehrpraktiken eingebunden sind, ist in aller Regel zu komplex, als dass man ihm mit eindimensionalen Erklärungen gerecht werden könnte. Gleichzeitig zeigt das Buch aber auch, welche Grenzen dem Versuch, „[e]ine Geschichte der Ehre“ zu schreiben, gesetzt sind. Trotz der vielen interessanten Denkanstöße, die es liefert, bleibt das Problem bestehen, dass es nicht möglich ist, ‚die Ehre‘ als überzeitliche Konstante zu untersuchen.

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