B. Sösemann: Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft

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Titel
Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Einführung und Überblick


Herausgeber
Sösemann, Bernd
Erschienen
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael C. Schneider, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Technische Universität Dresden

Der zu besprechende Sammelband ist aus einer 1999/2000 abgehaltenen Berliner Ringvorlesung für ein breites, historisch interessiertes Publikum hervorgegangen. Er will für diesen Leserkreis „eine am aktuellen Forschungsstand orientierte Überblicksdarstellung“ bieten (S. 8), die auf die Grundfragen nach der Entstehung des NS-Regimes, seiner Herrschaft und seiner Vernichtungsdynamik eingeht, aber auch andere Bereiche wie „Alltag“ und Propaganda thematisiert. Eine Reihe von Beiträgen widmet sich zunächst den ideologischen Voraussetzungen der Machtübertragung an Hitler und dem Prozess der Machteroberung in den Monaten nach dem 30. Januar 1933, woran sich Aufsätze zu verschiedenen Segmenten der Gesellschaft anschließen.

Insgesamt fällt auf, dass der Vorgeschichte des NS-Regimes wie auch den dreißiger Jahren ein vergleichsweise breiter Raum eingeräumt wird, während Themen des Zweiten Weltkrieges nicht in einem oder mehreren eigenständigen Beiträgen behandelt werden und, obwohl natürlich Teil verschiedener Aufsätze, insgesamt etwas kurz kommen – die Besatzungspolitik etwa wird kaum angesprochen, und auch das in den letzten Jahren intensiv erforschte Problem der Zwangsarbeiterbeschäftigung wird nur en passant erwähnt. Die in den letzten Jahren in Gang gekommene Unternehmensgeschichtsschreibung für diesen Zeitraum findet ebenso wenig eigene Berücksichtigung wie der in diesem Zusammenhang gewachsene Kenntnisstand zur „Arisierung“ jüdischen Eigentums. Auch wenn man bei der Erstellung eines Sammelbandes in der Gewichtung der Schwerpunkte zweifellos weniger souverän ist als bei einer Monografie, so hätte man sich doch eine stärkere Berücksichtigung verschiedener Themen im Kontext des seit 10 bis 15 Jahren intensiv erforschten „Vernichtungskrieges“, insbesondere aber auch des Holocaust gewünscht.

Selbst der außerordentlich prägnante und informative Beitrag von Peter Longerich zur „Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden“ kann dieses Defizit nicht ganz ausgleichen, nimmt er doch gerade 20 Seiten ein – wenig, gemessen an der Komplexität des Themas und gemessen am Umfang anderer Beiträge, etwa den 40 Seiten des Herausgebers zu der zweifellos auch wichtigen Propagandapolitik.

Zu den einzelnen Beiträgen: Im Anschluss an einen knappen Überblick zum deutschen Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert von Wolfgang J. Mommsen beleuchtet Uwe Puschner in seinem Aufsatz zur „völkischen Weltanschauung und Bewegung“ das in den zwanziger Jahren durchaus spannungsreiche Verhältnis zwischen aufstrebender NSDAP und dem kaum zu durchblickenden Geflecht völkischer Strömungen, die sich nicht immer bereitwillig von der neuen Partei vereinnahmen ließen, zumal sie auch selbst Erfolge bei Wahlen zu Länderparlamenten und dem Reichstag erzielten. Puschner erläutert luzide die organisatorischen Grundlagen dieser Strömungen und geht dann auf die Kernbestandteile der völkischen Weltanschauung ein, insbesondere den Rassismus, der wiederum – je nach Strömung – als Antiklerikalismus, Antisemitismus oder Antislawismus konkretere Ausprägungen erfuhr, ohne dass sich diese wechselseitig ausschließen mussten.

Auch einzelne Protagonisten der völkischen Bewegung stellt Puschner vor, etwa Theodor Fritsch oder Willibald Hentschel und dessen Programmschrift zur „Erneuerung der germanischen Rasse“. Abschließend untersucht er die Bestrebungen, eine vom Christentum abgesetzte, „arteigene“ Religion zu entwickeln. Mit der Entstehung von „Rassismus und Antisemitismus“ widmet sich Wolfgang Benz einem verwandten Thema, konzentriert sich aber auf den Antisemitismus und dessen Umschlag in einen „rassisch begründeten Judenhaß“ (S. 42). Dabei greift er bis in das frühe Kaiserreich zurück, als der politische Antisemitismus salonfähig gemacht wurde, erläutert den Einfluss von Publizisten wie Houston Stewart Chamberlain, schildert die Umstände der berüchtigten „Judenzählung“ im deutschen Heer 1916, bevor er abschließend auf das antisemitische Weltbild Hitlers und die entsprechende Propaganda der NSDAP eingeht.

Drei Beiträge von Hagen Schulze, Wolfgang Wippermann und Peter Steinbach konzentrieren sich auf „Weimars Scheitern“, die Phase der Machtergreifung sowie die Phase der „Gleichschaltung“ nach dem 30. Januar 1933. Hagen Schulze fragt in seinem grundsätzlicher angelegten Beitrag nach den Vorbelastungen für die Republik und betont in seinen Schlussbemerkungen zu Recht, dass das Scheitern der Weimarer Republik keineswegs unausweichlich war, sondern Ergebnis von Entscheidungen, zu denen immer auch Alternativen bestanden.

Weniger zuverlässig als die meisten Beiträge ist der Aufsatz von Wolfgang Wippermann zur Frage: „Hat Hitler die Macht ergriffen?“ Dass mit dem 5. März 1933 „auch die Innenminister derjenigen Länder, die noch nicht von Nationalsozialisten gestellt wurden [sic!], durch sog. Reichskommissare ersetzt worden“ seien (S. 74), ist schlichtweg falsch. Ebenso wenig trifft es zu, dass das Zweite Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 7.4.1933 die Landesregierungen aufgelöst und durch die Reichsstatthalter ersetzt hätte: Vielmehr dienten die Reichsstatthalter dazu, die Umsetzung der Politik der Reichsregierung in den Ländern (deren Eigenständigkeit zwar aufgehoben, die aber nicht aufgelöst wurden, wie dies Wippermann annimmt) sicherzustellen. Gegenüber diesen sachlichen Fehlern wirken kleinere Verwechslungen – „Ruhreisenstreik“ anstelle von „Ruhreisenstreit“ (S. 69) – nicht allzu gravierend. Eher ist zu bemängeln, dass auch nicht mehr ganz so neue Ergebnisse der historischen Wahlforschung zum Aufstieg der NSDAP nicht rezipiert werden.

Der Beitrag von Peter Steinbach zur „Gleichschaltung“ überschneidet sich zwar teilweise mit jenem von Wippermann, arbeitet aber zuverlässig die entscheidenden Stationen der „Machtausweitung“ der Nationalsozialisten nach dem 30. Januar 1933 heraus, wobei er entgegen der ‚herrschenden Lehre’ den Nationalsozialisten am ehesten die Verantwortung für die Brandstiftung im Reichstagsgebäude zuzuweisen bereit ist. Die Darstellung der „Gleichschaltung“ der Länder nimmt Steinbach, anders als Wippermann, akkurat vor.

Der Beitrag des Herausgebers zu „Propaganda und Öffentlichkeit“ widmet sich sowohl der politischen Propaganda der NSDAP im engeren Sinne vor und nach 1933, als auch dem NS-Feierjahr, fasst sein Thema aber so weit, dass auch die propagandistische Ausschlachtung der Lenkung von Kultur und Kunst in diesem Abschnitt behandelt werden kann. Mit einem verwandten Thema, dem „NS-Film“, befasst sich Gertrud Koch. Motiviert von der Frage nach der Wirkung der während der NS-Zeit produzierten Filme auf das Publikum konzentriert sich dieser Beitrag zunächst auf die politische und ökonomische „Gleichschaltung“ der Filmproduktion, wobei gerade der zweite Aspekt leider etwas verschwommen bleibt. Erst im letzten Abschnitt, der der Frage nach einer spezifischen Ästhetik des NS-Films nachgeht, werden die Beispiele anschaulicher, wird die Argumentation nachvollziehbarer. In ihrem Beitrag zu „Universitäten und Wissenschaften im Dritten Reich“ gelingt es Margit Szöllösi-Janze, wesentliche Aspekte der NS-Wissenschafts- und Universitätspolitik sowie Strömungen in verschiedenen Wissenschaften darzustellen und mit einem Rückblick auf die Forschung zur Wissenschaftsgeschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges strukturierend zu verknüpfen. Dabei betrachtet sie „Wissenschaft“ und politisches System nicht mehr, wie dies lange Zeit üblich war, als getrennte Sphären, wobei dem Nationalsozialismus der Part der wissenschaftsfeindlichen Bewegung zukam, der obskure Theorien wie die „Welteislehre“ propagierte.

Demgegenüber betont die Autorin die vielfältigen Anknüpfungspunkte, die sich auch zwischen seriöser Wissenschaft und den Bedürfnissen des Regimes ergaben. In ihrem Fazit hält sie fest, dass der schon lange vor 1933 einsetzende Prozess der Verwissenschaftlichung vieler gesellschaftlicher Teilbereiche von den Nationalsozialisten keineswegs unterbrochen wurde, sondern vielmehr umgeformt und den Bedürfnissen des Regimes angepasst werden konnte.

Neben den souverän dargestellten verschiedenen Aspekten der nationalsozialistischen Frauenpolitik ist an dem Beitrag von Gisela Bock der große Raum, der dem Zweiten Weltkrieg eingeräumt wird, positiv hervorzuheben, wie auch die immer wieder eingenommene vergleichende Perspektive zu anderen europäischen Ländern. Hinzu kommt, dass dieser Beitrag als einer der wenigen auch jene Bereiche zumindest anreißt, die in den letzten Jahren intensiver untersucht worden sind: die Zwangsarbeit und die Politik des Regimes in den besetzten Gebieten.

Ludolf Herbst betont in seinem Beitrag zur „Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik“ den integralen Stellenwert, den die antisemitische Politik des Regimes für die Wirtschaftsentwicklung gehabt hat, bis hin zur Ermordung der Juden Europas. Seine Überlegungen basieren auch auf jüngeren Forschungsbefunden nicht zuletzt der Unternehmensgeschichte, die es zunehmend erschweren, das NS-Wirtschaftssystem mit Globalbegriffen wie „Autarkiewirtschaft“ oder „Lenkungswirtschaft“ zu belegen. Herbst geht demgegenüber vom Begriff der „Asymmetrie“ aus, der es ihm erlaubt, die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik als „Prozeß der Asymmetrierung“ zu fassen (S. 175). Überzeugend arbeitet er am Beispiel der Beschäftigungspolitik sowohl die Dynamik als auch die Friktionen heraus, die die verschiedenen Interventionen im Verlauf der NS-Herrschaft auslösten. Keinen Zweifel lässt der Autor an der Priorität der Rüstungswirtschaft von Anbeginn, die es nicht erlaubt, in der Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten eine Politik zu sehen, der es in erster Linie um die Verringerung der Arbeitslosigkeit und einen gleichgewichtigen und eben nicht „asymmetrischen“ konjunkturellen Aufschwung gegangen sei.

Dem Widerstand verschiedener Gruppen und einzelner Personen gegen das NS-Regime widmet sich Ekkehard Klausa, dessen Überblick im Wesentlichen zuverlässig ausfällt. Zur Beurteilung des kommunistischen Widerstandes, dem verschiedentlich vorgeworfen worden ist, seinerseits nur ein ebenfalls totalitäres Regime errichten zu wollen, findet er treffende und abwägende Worte und wertet es als „Menetekel der deutschen Demokratiegeschichte“, dass sich „der größere Teil des Widerstandes gegen die totalitäre Nazidiktatur [...] nicht der Energie einer demokratischen und rechtsstaatlichen Alternative [verdankte], sondern einer konkurrierenden totalitären Energie“ (S. 269).

Wolfgang Michalka widmet sich der Außenpolitik des NS-Regimes auf dem Weg in den Krieg und behandelt dabei die schon lange diskutierte Frage nach Elementen der Kontinuität bzw. der Diskontinuität zur Außenpolitik der Weimarer Republik. Es überrascht nicht, dass der Autor in seinem konzisen Überblick beides feststellt, etwa das Bestreben, den Vertrag von Versailles zu revidieren – ein Bestreben, das auch die Zustimmung traditioneller Eliten in Militär und außenpolitischem Apparat sicherte –, aber auch den tiefen Bruch, den Hitlers weitreichende Expansionsziele zu früheren Maximen der Außenpolitik darstellte. Zwar berührt dieser Beitrag auf wenigen Seiten auch den Weltkrieg selbst, konzentriert sich aber wie auch der anregende Aufsatz von Bernhard R. Kroener zum „Kampf als Daseinsform“ auf die Vorkriegszeit. Kroener stellt hier zunächst die Frage, wie die „Militarisierung breiter Bevölkerungsschichten“ nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs „wieder möglich geworden war“ (S. 312) und greift in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive weit ins 19. Jahrhundert zurück, um Antworten auf diese Frage zu finden. Vier „Schlüsselmythen“ (Leuthen, Langemarck, Potsdam, Stalingrad) dienen dabei als „Erinnerungsorte“ und Kristallisationspunkte eines kollektiven Bildes vom Krieg. Nicht zuletzt der Rückgriff auf sakrale Stilelemente, insbesondere bei der Inszenierung des „Tages von Potsdam“ am 21. März 1933, diente zur Herstellung einer Verbindung zu den im kollektiven Gedächtnis verankerten Mythen vom Krieg.

Auch wenn nicht alle Beiträge dieses Sammelbandes gewürdigt werden können, so sei doch noch auf die knappen Ausführungen von Jürgen Kocka hingewiesen, der die NS-Diktatur mit anderen Diktaturen im Europa des 20. Jahrhunderts vergleicht und dabei zunächst die prinzipielle Vergleichbarkeit etwa der Sowjetunion Stalins oder auch der DDR mit der NS-Diktatur unterstreicht, sogleich aber neben Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten auch die grundlegenden Unterschiede herausarbeitet, im letzteren Fall insbesondere im Hinblick auf „Aggressionsintensität, Verfolgungsenergie und Zerstörungswut“ (S. 343).

Insgesamt bietet der Band eine zumeist gut lesbare Einführung in verschiedene Aspekte des NS-Regimes, wenngleich der selbstgesetzte Anspruch, die gegenwärtige Forschung zu repräsentieren, nicht immer erfüllt wird. Ein Anhang mit Schaubildern, Tabellen, einem chronologischen Überblick und weiterführender Literatur (während Register leider fehlen) rundet den Band ab.

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