R. Karlsch u.a.: Die AGFA-ORWO-Story

Cover
Titel
Die AGFA-ORWO-Story. Geschichte der Filmfabrik Wolfen und ihrer Nachfolger


Autor(en)
Karlsch, Rainer; Wagner, Paul Werner
Erschienen
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Roesler, Leibniz-Sozietät Berlin

Der Wirtschaftshistoriker Karlsch und der Kulturwissenschaftler Wagner haben eine Firmengeschichte über ein Unternehmen geschrieben, das in der DDR wohl jeder kannte. Sie verfolgen die Entwicklung des Betriebes von seinen Anfängen, der 1873 gegründeten „Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrikation“ (AGFA), bis zum Mai 1994, als die „Filmfabrik Wolfen GmbH“, Träger des ORWO-Warenzeichens, in Liquidation ging.

Kapitel 1, die bis 1909 reichende „Berliner Zeit“ des Unternehmens, ist ganz im Stile der traditionellen Technikgeschichte geschrieben. Es ist die Story des Siegeszugs des technischen Fortschritts in Gestalt der Fotochemie, ein Bericht über geniale Erfinder, die allen Widrigkeiten trotzten. In den Kapiteln 2 bis 8 (1909-1990) weitet sich das Spektrum über die Technikgeschichte hinaus, betriebswirtschaftliche Aspekte werden ebenso behandelt wie die (zunächst ganz auf patriarchalische Wohlfahrtseinrichtungen ausgerichtete) Sozialgeschichte. Ab dem zweitem Kapitel finden auch immer wieder volkswirtschaftliche Ereignisse und Zusammenhänge Berücksichtigung wie die deutschen Kriegswirtschaften 1914-1918 und 1939-1945, die Weltwirtschaftskrise 1929-1933 oder das „Das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (1963-1970), bzw. die „Währungsumstellung und Transformationskrise“ (1990-1991).

Diese gesamtwirtschaftlichen „Einlagen“ sind unbedingt zu begrüßen, weil sie jeweils die betriebswirtschaftlichen Rahmenbedingungen wesentlich verändert haben. Die Einschränkung der Betrachtung auf innerbetriebliche Strukturprobleme und die Reduzierung der Entwicklung nach außen auf die Auseinandersetzung mit den unmittelbaren Konkurrenten und deren Produktinnovationen, die für viele Firmengeschichten charakteristisch ist, wird so vermieden.

Erst in den Kapiteln 10 und 11, die den Zeitraum bis zur Gegenwart behandeln, verengt sich der Bericht wieder auf eine reine Firmengeschichte des trotz aller Überlebensanstrengungen zu Grunde gehenden Kombinatsbetriebes, seiner Ausgründungen und einiger Neugründungen im „Chemiepark Wolfen“. Kapitel 11 ist der landeseigenen „Mitteldeutschen Sanierungs- und Entsorgungsgesellschaft mbH“ (MDSE) gewidmet, deren Unternehmenszweck die Entsorgung des Wolfener Geländes von Altlasten durch Gebäude-, Boden- und Grundwassersanierung ist. Darüber sagen die Autoren viel Lobendes, ganz im Sinne des eingangs abgedruckten „Grußwortes von Ministerpräsident Prof. Dr. Wolfgang Böhmer“ und sicher auch der MDSE, des Mitfinanzierers des mit vielen Fotos, mit aufschlussreichen Grafiken und Tabellen großzügig ausgestatteten Bandes.

Wie ein roter Faden ziehen sich die Beziehungen von AGFA bzw. des VEB Filmfabrik Wolfen zu seinem Konkurrenten Kodak durch den Band. Anfang des 20. Jahrhunderts beherrschte Eastman Kodak de facto weltweit monopolartig den Markt für Kinofilm. AGFAs Aufstieg in diesem Bereich wurde möglich durch enge Zusammenarbeit mit französischen Filmproduzenten, die nach preisgünstigen Alternativen suchten und dabei auf das damals noch Berliner Unternehmen gestoßen sind, das gerade den Einstieg in den Kinofilm wagte. Es gelingt AGFA, sich in Deutschland und einer Reihe anderer europäischer Länder mit seinen Produkten gegenüber Kodak durchzusetzen. Davon profitierte noch in den 1950er-Jahren nicht nur Agfa Leverkusen, sondern auch Agfa Wolfen. Eastman Kodak wurde erneut zu einer ernsthaften Konkurrenz durch die Einführung des Schnellladesystems für Fotoapparate 1963. Auch Wolfen war herausgefordert. Im Jahre 1967 kam es zu Verhandlungen mit Kodak, die jedoch vom Politbüro der SED nicht mitgetragen wurden. So mussten von der DDR-Kamera und Fotochemie Ersatzlösungen für ein neues Schnellladesystem gefunden werden, die dann aber weniger gut waren. Als es 1990 um die Zukunft des VEB Filmfabrik Wolfen ging, konzentrierte der Anfang des Jahres neu gebildete Vorstand seine Forschungsarbeiten auf die Entwicklung Kodak-kompatibler Filme. Damit hoffte man die Bereitschaft des zögernden Kooperations-Wunschpartners AGFA-Gevaert doch noch zu gewinnen. Bald zeigte sich jedoch, dass die Wolfener Filmfabrik die Umstellung auf ein konkurrenzfähiges Farbfilmsystem aus eigener Kraft nicht schaffen würde. Noch vor der deutschen Einheit war damit der Traum der Wiederbelegung der Arbeitsteilung zwischen den alten AGFA-Standorten Leverkusen und Wolfen ausgeträumt.

Wäre Wolfen unter Umständen ein anderes Schicksal beschieden gewesen? Immerhin kam es Anfang 1990 zu Gesprächen mit dem Vorstand von AGFA-Gevaert. Wie weit sie gingen und ob sie bis zu einem Joint-Venture-Vertrag führten (immerhin kamen 2.800 im 1. Halbjahr 1990 zustande), wird im Buch nicht erwähnt. Das wäre insofern interessant zu wissen, als der Leser dann beurteilen könnte, ob es nicht so sehr der geschilderte Produktivitätsrückstand als die durch den Vertrag über die Währungs- und Wirtschaftsunion der BRD mit der DDR (einschließlich der Umwandlung der Treuhand in eine Privatisierungsanstalt) im Frühjahr/Frühsommer 1990 geschaffenen konkreten Rahmenbedingungen für die ostdeutsche Wirtschaft waren, die die westdeutschen Unternehmen so handeln ließen, wie es die Autoren beschreiben: „Indem man den ostdeutschen Markt durch das Hochfahren der eigenen Kapazitäten bediente, die Zusatzgewinne einstrich, und dafür lediglich wenig kostenintensive Vertriebsniederlassungen aufbaute.“ (S. 189) An dieser Stelle wäre ein stärkeres Eingehen auf die Makroökonomik für die Beurteilung des weiteren Schicksal des Wolfener Unternehmens nützlich gewesen. So alternativlos wie es heute aussieht, war das Schicksals der Filmfabrik Wolfen wohl doch nicht.

Festzuhalten bleibt noch – dies sei den positiven Aussagen über das Buch noch hinzugefügt –, dass es sich bei der Arbeit von Karlsch und Wagner um eine der wenigen neueren ostdeutschen Firmengeschichten handelt, die den Bogen „von den Anfängen“ im 19. Jahrhundert bis hin zur Deindustrialisierungsphase nach 1989 und den Versuch ihrer Überwindung spannen.

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