M. Niemann u.a. (Hrsg.): SED-Kader: Die mittlere Ebene

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Titel
SED-Kader: Die mittlere Ebene. Biographisches Lexikon der Sekretäre der Landes- und Bezirksleitungen, der Ministerpräsidenten und der Vorsitzenden der Räte der Bezirke 1946 bis 1989


Herausgeber
Niemann, Mario; Herbst, Andreas
Reihe
Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
592 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Bergien, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Der Trend zur lexikalischen Erfassung von DDR-Biographien ist ungebrochen. Nach der 5. Auflage des nunmehr zweibändigen Standardwerks „Wer war wer in der DDR“?1, nach Lexika über „Generale und Admirale der NVA“2, „DDR- Historiker“3 und, freilich über die DDR hinausreichend, „Deutsche Kommunisten“4, haben Mario Niemann und Andreas Herbst Ende 2010 ein Lexikon mit dem Titel „SED-Kader: Die mittlere Ebene“ vorgelegt. In 543 Kurzbiographien präsentieren die Herausgeber – der eine durch seine Studien zu den SED-Bezirksleitungen5, der andere als Bearbeiter von „Wer war wer“ für diese Aufgabe prädestiniert – die Lebensläufe von Funktionären, die zwischen 1946 und 1989 als 1. oder 2. Sekretär einer Landesleitung, Ministerpräsident, Sekretär einer Bezirksleitung oder Vorsitzender eines Rates des Bezirks tätig waren. Zwar wird nicht ganz deutlich, ob es für diese Beschränkung auf die „mittlere Ebene“ nur formale oder auch inhaltliche Argumente gibt, ob sich also etwa die Qualifikationen und Karriereverläufe der SED-Bezirkssekretäre von denen der Kreissekretäre deutlich unterschieden – oder ob Funktionäre der Bezirks- und Kreisebene nicht eine Gruppe konstituierten, die der territorialen Herrschaftsträger der DDR. Aber natürlich sprechen allein praktische, quantitative Erwägungen dafür, die „mittlere Ebene“ separat zu behandeln. In jedem Fall ist es den Herausgebern anzurechnen, erstmals einen nennenswerten Teil der SED-Funktionäre aus „der zweiten Reihe“ biographisch erfasst zu haben, zumal vorliegende Lexika wie „Wer war wer“ vor allem die Spitzenränge der Partei abbilden.

Ein Vorzug des Lexikons liegt darin, dass die Informationsdichte der einzelnen Kurzbiographien über den Stand des Gewohnten hinausgeht. So werden nicht nur Schul- und Berufsausbildung, Studienzeiten sowie die einzelnen Karrierestationen in FDJ, Partei und in staatlichen Leitungen aufgelistet. Es werden auch Angaben zu den Gründen von Brüchen in den Karriereverläufen gemacht, beispielsweise im Falle Adolf Garlings, in den 1960er-Jahren 1. Sekretär der SED-Kreisleitung in Pasewalk und anschließend Vorsitzender des Rats des Bezirks Neubrandenburg, der Anfang 1972 in die Produktion versetzt worden war, weil er, so wird aus einer Vorlage des ZK-Sekretariats zitiert, „seine Zugehörigkeit zur ehemaligen NSDAP verschwiegen“ gehabt habe (S. 194 f). Hoch zu gewichten ist ferner, dass auch die Lebensläufe nach 1989/90 detailliert (manchmal sehr detailliert, so im Falle Angelika Kleins, bis 1989 Sekretär für Wissenschaft und Volksbildung in der Bezirksleitung Halle) nachgezeichnet werden. Auf diese Weise wird sichtbar, wie unterschiedlich die ehemaligen Funktionäre – natürlich in Abhängigkeit unter anderem von ihrem Lebensalter – auf den radikalen Wandel der politischen und sozialen Rahmenbedingungen reagierten: Sie zogen sich in das Privat- und Familienleben zurück, leisteten ehrenamtliches und politisches Engagement oder orientierten sich beruflich neu und schafften vereinzelt sogar Wiederaufstiege, wie Manfred Schubach, bis 1989 Sekretär für Kultur in der SED-Bezirksleitung Gera, der 1992 Geschäftsführer eines mittelständischen Betriebs mit über 100 Mitarbeitern wurde (S. 444 f.).

Die Informationsdichte der Kurzbiographien für die Zeit vor und nach 1989 verdanken die Herausgeber nicht zuletzt der aktiven Mitarbeit der Biographierten selbst. „Erstmals“, so Mario Niemann in der Einleitung, haben „in nennenswertem Umfang frühere SED-Funktionäre die Texte zur eigenen Person korrigieren und ergänzen können“; von 223 angefragten Personen hätten 162 frühere Funktionäre bzw. deren Familienangehörige an der Erstellung des Lexikons mitgewirkt (S. 16). Daran ist an sich nichts auszusetzen, dürfte doch ein fundiertes biographisches Lexikon, gleich über welche Personengruppe, ohne die Unterstützung dieser Gruppe bzw. von deren Angehörigen oder Nachkommen schlechterdings nicht zu erstellen sein. Zwei Aspekte sind im Zusammenhang mit dieser Mitwirkung aber doch anzumerken.

Der erste soll anhand der Kurzbiographie von Herbert Kroker illustriert werden, der bis 1982 unter anderem als Generaldirektor des VEB Kombinat Umformtechnik „Herbert Warnke“ in Erfurt amtierte und 1982 wegen wirtschaftspolitischer Differenzen mit Günter Mittag und Erich Honecker von seiner Funktion abgelöst wurde. Diese Differenzen werden durch eine Äußerung Krokers aus den frühen 1980er-Jahren untermauert, der zufolge es Krokers Ansicht nach „im Jahre 2000 [...] keine DDR mehr geben“ würde (S. 289). Das ist bemerkenswert und doch bleibt die Frage nach der Quelle für dieses Zitat: Am Ende dieser (wie der meisten anderen) Kurzbiographie wird auf Akten aus dem Bestand der SAPMO im Bundesarchiv sowie (in diesem Fall) auf die „Schriftliche Mitteilung von Prof. Dr. Herbert Kroker, Erfurt, Mai 2007“ verwiesen. Ist das angeführte Zitat nun aber archivalisch überliefert oder entstammt es der Erinnerung Krokers? Es versteht sich, dass in einem biographischen Lexikon nicht jede einzelne Angabe belegt werden kann. Doch zumindest für Aussagen, die, wie diese, von Gewicht für die Einordnung der Person sind und zudem zum Zitieren reizen, wäre das sinnvoll gewesen.

Ein zweiter Aspekt, der mit Blick auf die Mitwirkung der ehemaligen SED-Funktionäre an diesem Lexikon anzusprechen ist, betrifft die Frage der Aussagekraft bzw. der Vollständigkeit der Kurzbiographien. Zwar kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Angaben, die abgedruckt worden sind, zutreffend und zuverlässig sind. Doch erscheint mit Blick auf die Quellen – einerseits die in den Kaderakten überlieferten (Partei-)Lebensläufe, andererseits die schriftlichen Mitteilungen der ehemaligen Funktionäre – die Vermutung nicht abwegig, dass die Kurzbiographien aus heutiger Sicht problematische Tätigkeiten oder Karrierestationen nicht enthalten. Auch daraus ist den Herausgebern kein Vorwurf zu machen. Allerdings hätte der Einleitungsteil von einer Reflexion über dieses Problem – was enthalten die Kurzbiographien, was nicht? – profitiert. Lesenswert ist dieser Einleitungsteil, indes auch eine Quellenkritik: Die beiden von Mario Niemann verfassten Kapitel bieten präzise und informative Darstellungen der Organisationsgeschichte der Landes- bzw. Bezirksleitungen sowie der SED-Kaderpolitik, die den Nutzwert dieses Werks noch einmal erhöhen.

Anmerkungen:
1 Helmut Müller-Enbergs, Dieter Hoffmann, Jan Wielgohs, Andreas Herbst und Ingrid Kirschey-Feix (Hrsg.), Wer war wer in der DDR?, Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, 2 Bde, 5., aktualis. u. erw. Ausg. Berlin 2010.
2 Klaus Froh und Rüdiger Wenzke (Hrsg.), Die Generale und Admirale der NVA: ein biographisches Handbuch, 2. durchges. Aufl., Berlin 2000 (= Forschungen zur DDR-Gesellschaft).
3 Lothar Mertens, Lexikon der DDR-Historiker: Biographien und Bibliographien zu den Geschichtswissenschaftlern aus der Deutschen Demokratischen Republik, München 2006.
4 Hermann Weber und Andreas Herbst (Hrsg.), Deutsche Kommunisten: biographisches Handbuch 1918–1945, 2. Aufl., Berlin 2008. Auch das „SED-Handbuch“ enthält eine Reihe von Kurzbiographien von höheren SED-Funktionären: Andreas Herbst, Gerd-Rüdiger Stephan und Jürgen Winkler (Hrsg.), Die SED. Geschichte – Organisation – Politik. Ein Handbuch, Berlin 1997.
5 Mario Niemann, Die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen 1952–1989, Paderborn [u.a.] 2007 (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart).

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