S. Schwarzkopf u.a. (Hrsg.): Ernest Dichter and Motivation Research

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Titel
Ernest Dichter and Motivation Research. New Perspectives on the Making of Post-War Consumer Culture


Herausgeber
Schwarzkopf, Stefan; Gries, Rainer
Erschienen
Basingstoke 2010: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
293 S.
Preis
£55.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerulf Hirt, DFG-Graduiertenkolleg „Generationengeschichte“, Georg-August-Universität Göttingen

„Why you buy“ – dieser Frage widmete sich der selbsternannte „Vater der (Kauf-)Motivforschung“, Ernest Dichter, seit den 1940er-Jahren in den USA. Als Sohn jüdischer Immigranten wuchs Dichter in Wien auf, erlangte einen Doktorgrad in Psychologie an der dortigen Universität und emigrierte im September 1938 nach New York. Er behauptete, mit Hilfe psychoanalytischen Wissens und vor allem qualitativer Interviewtechniken auf die unterbewussten Kaufmotive der jeweiligen Verbraucher rückschließen zu können. Damit versprach er Unternehmen die Steigerung ihrer Umsätze durch eine zielgenauere Produktkommunikation und Konsumenten mehr Zufriedenheit, da diese über ihre eigenen Konsumwünsche „aufgeklärt“ würden. In den 1940er- und 1950er-Jahren setzte sich die Motivforschung in den USA durch. Momentan ist ein gesteigertes wissenschaftliches Interesse an Dichter feststellbar 1, der zu einem der kommerziell erfolgreichsten Unternehmensberater avancierte, bis seine Bedeutung seit den späten 1960er-Jahren verblasste.

Der vorliegende Sammelband ist aus der ersten internationalen Tagung zur Historisierung Dichters und seiner Marktforschungsmethode hervorgegangen, die im Dezember 2005 an der Universität Wien abgehalten wurde. Er stellt eine wertvolle Erweiterung eines bereits 2007 erschienenen Sammelbandes dar.2 Die erkenntnisleitende Frage des Bandes lautet, welchen Einfluss die Motivforschung nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA und in Westeuropa als wissenschaftliches Thema und in der Marktforschungspraxis erlangt hat, wie sie im Zusammenhang mit der Person Dichters zu bewerten ist und inwiefern sie in heutigen Marketingtechniken fortwirkt. Nach einer thematischen Einführung der Herausgeber wird dieser Frage in drei inhaltlichen Kapiteln und insgesamt vierzehn Aufsätzen von westeuropäischen und US-amerikanischen Historikern, Kommunikationswissenschaftlern, Marketingwissenschaftlern, Soziologen und Marktforschern nachgegangen. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse durch die Herausgeber Stefan Schwarzkopf und Rainer Gries schließt den Band ab.

Das erste Kapitel untersucht verschiedene Dimensionen der Persönlichkeit Dichters und historisiert seine Arbeitsweise. Daniel Horowitz spürt Dichters individuellem Integrations- und Anpassungsprozess in den USA nach. Er zeigt, wie sich der Motivforscher als US-Amerikaner kulturell selbst inszenierte und weist der massenmedial transportierten Kritik an der angeblichen Manipulation des Konsumenten durch Motivforschung eine zentrale Bedeutung für deren internationale Popularisierung seit den späten 1950er-Jahren zu. Ronald Fullerton und Mark Tadajewski entmystifizieren das kommunizierte Selbstbild Dichters in den 1950er- und 1960er-Jahren. Dies gelingt insbesondere Fullerton, indem er nachweist, dass Dichter eben nicht der „Vater der Motivforschung“ war. Wenn überhaupt so gebühre diese Zuschreibung dem österreichischen Soziologen und Marktforscher Paul F. Lazarsfeld, der seit den späten 1920er-Jahren aktiv war und der ebenfalls in die USA emigrierte.3 Ebenso wird deutlich, dass Dichters psychologisches und psychoanalytisches Wissen eklektisch war. Nur in den frühen 1930er-Jahren belegte er einige Kurse über Psychoanalyse bei Wilhelm Stekel – einem früheren Mitglied des Kreises um Sigmund Freud. Tatsächlich griff Dichter keineswegs nur auf Freudianische, sondern zugleich auf individualpsychologische Ansätze des „Freud-Desperados“ Alfred Adler sowie auf Theorien der Gestaltpsychologie zurück. Er kokettierte mit seinem früheren Leben in der Wiener Berggasse (in der auch Sigmund Freud wohnte) und seinem Studium an der Universität Wien, um damit seinen Nimbus des Experten in der praktischen Anwendung psychoanalytischen Wissens auf Kaufentscheidungsfragen zu konstruieren. Schließlich analysiert Gabriele Sorgo Dichters schwierige Beziehung zu religiösem Denken und seine Strategien, diese durch säkulare Erlösungsmaximen zu ersetzen.

Im zweiten Teil werden Perspektiven auf einzelne Arbeitsbereiche des Motivforschers gegeben. Helene Karmasin, Regina Lee Blaszczyk und Katherine Parkin zeigen, wie Dichter bestimmte Produktkategorien wahrnahm und wie er versuchte, Stile eines produktbezogenen Konsumentenverhaltens bei Automobilen, Modeprodukten und Nahrungsmitteln in den Vereinigten Staaten und Westeuropa herzustellen. Besonders interessant erscheint Blaszczyks Beitrag: Sie widmet sich dem Auftrag des US-Chemieunternehmens und Herstellers synthetischer Fasern DuPont, das Dichter Mitte der 1960er-Jahre beauftragte, die Veränderungen für den Kleidungs- und Modestil zu analysieren, die sich angesichts des Aufwachsens der weißen männlichen Angehörigen der „Babyboomer-Generation“ ergeben würden. Dichter empfahl der „Tatsache“ Rechnung zu tragen, dass die „Babyboomer“ wechselnde Kleidungsstile und generell hellere Farben favorisieren würden. Ferner zählt Blaszczyk Dichter zu einer neuen Generation von Marktforschern, die sich durch die eklektische Adaptation anthropologischer, soziologischer, psychologischer bzw. psychoanalytischer Methoden ausgezeichnet habe. Für die Reflexion dieses interessanten Gedankens bieten Ansätze aus dem Bereich der Generationenforschung sicher weiteres Potential.4 Möglicherweise wäre dann eine solche „neue Marktforschergeneration“ mit der Kategorie einer bestimmten „Kommunikatorengeneration“ (Rainer Gries) greifbar und ihre Entwicklung durch die Herausarbeitung ihrer zeitlichen Strukturen besser historisierbar. Herausragend ist darüber hinaus Karina Krummeichs und Stefanie Lahms Analyse des ambivalenten Geschlechterrollenverständnisses Dichters und seiner ambivalenten Beziehung zur US-Frauenbewegung um die Feministin Betty Friedan. Dazu gehörte auch sein Bestreben, seine Auftraggeber für geschlechterspezifische Konnotationen von bestimmten Konsumgütern zu sensibilisieren, ohne dabei „männliche“ oder „weibliche“ Produkte zu konstruieren.

Der inhaltliche Schwerpunkt liegt auf dem dritten Kapitel. Hier analysieren Kai-Uwe Hellmann, Andrea Morawetz, Véronique Pouillard, Stefan Schwarzkopf und Dirk Schindelbeck erstmals detailliert transnationale Rezeptionen Dichters sowie die Erfolge und Grenzen von Motivforschung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Österreich seit den späten 1950er-Jahren. Hier zeigt sich, wie ein österreichisch-jüdischer US-Immigrant nicht nur die US-amerikanische Konsumgesellschaft beeinflusste, sondern vice versa aus den USA auch wiederum auf europäische Konsumgesellschaften einwirkte. Allerdings zeigen Véronique Pouillard und Stefan Schwarzkopf für Frankreich bzw. Großbritannien, dass Dichter in seinem Bestreben gescheitert zu sein scheint, Europäer in dem Maße zu inspirieren, wie ihm dies vielleicht in den USA gelungen ist. Insbesondere in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland sah er sich vehementer Kritik von hauptsächlich quantitativ arbeitenden Markt- bzw. Meinungsforschern ausgesetzt, die seine Methoden als unseriöse Vermutungen geringschätzten. In Österreich kritisierte ihn besonders der Werber und „geistige Ariseur“ (Bernd Semrad) der deutsch-österreichischen Werbewirtschaft im Nationalsozialismus, Hanns Ferdinand J. Kropff – mit spürbar antisemitischem Unterton. Trotzdem kann Dichters publizierten Ergebnissen – so Kai-Uwe Hellmann – die Funktion einer Art „Geburtshelfer“ für ein neues Set europäischer Konsumgesellschaften seit den späten 1950er-Jahren nicht ganz abgesprochen werden.

Problematischer erscheint Dirk Schindelbecks Untersuchung der Rezeption Dichters durch die westdeutsche „Nachkriegswerberelite“. Die analytische Verwendung des Elitebegriffes kolportiert die Selbstvermarktungen dieser Werbeberater und Werbeleiter, wobei sie sich eher als eine verkannte Berufsgruppe inszenierten. Für diese Selbstvermarkter scheint die gleiche analytische Vorsicht angebracht zu sein wie für Dichter. Die hier anhand der Alterskohorten von 1895 bis 1910 vorgenommene Identifikation einer mehrheitlich antiamerikanischen und massenpsychologisch orientierten „Generation deutscher Werbepraktiker“ bedarf einer genaueren Erläuterung. Diese kleine Gruppe war keinesfalls durchgehend bis in die 1960er-Jahre hinein massenpsychologischen Theorien gegenüber aufgeschlossen oder generell gegen US-amerikanische Einflüsse voreingenommen, zumal einige (wie etwa Hanns Walter Brose) ihre Karriere in den Zweigniederlassungen amerikanischer Werbeagenturen im Berlin der späten 1920er-Jahre begonnen hatten. Schließlich hebt Schindelbecks Analyse eine schwer einzuordnende Quelle des süddeutschen Werbeberaters Hans Wündrich-Meißen hervor, die zwischen Autobiographie, Roman sowie der Ansammlung diverser Anekdoten und Gedichte anzusiedeln ist.5 Auch der zweite Aufsatz Schindelbecks basiert auf einer kritisch zu hinterfragenden Quelle dieses deutschen Werbeberaters.6 Es handelt sich um einen Auszug aus dem autobiographischen Roman Wündrich-Meißens, der einen Besuch in Dichters „Institute for Motivational Research“ in Croton-on-Hudson behandelt. Der Auszug thematisiert den vermeintlichen Einsatz einer Abhöranlage in Verbindung mit der gezielten Drapierung bestimmter Konsumartikel in den Gästezimmern dort, um selbst ohne die Zustimmung der Gäste ihr Konsumverhalten zu erforschen. Zumindest ein Hinweis auf die Problematik dieser Quelle, bei der Erfundenes und Dokumentarisches schwer zu trennen sind, wäre für eine Bewertung der deutschen Rezeption Dichters wichtig gewesen.

In ihrem Fazit gelingt es den Herausgebern virtuos, die Ergebnisse der Aufsätze gebündelt auf ihre Ausgangsfrage zurück zu beziehen. Es wird deutlich, dass Dichter ein Genie der Selbstvermarktung war, dem es lange Zeit gelang, sich mit dem Nimbus des revolutionären Denkers, des kreativen Außenseiters und widerstandsfähigen Nonkonformisten zu umgeben. Diese notwendige Entmystifizierung Dichters darf allerdings nicht dazu führen, im Umkehrschluss seinen Einfluss oder jenen der Motivforschung als reine Inszenierungsleistung abzutun. Gegen einen solchen Trugschluss wehren sich die Herausgeber zu Recht. Schließlich werden im heutigen Neuromarketing die neuropsychologischen Grundlagen des Konsumentenverhaltens untersucht, aktuelle Marketingdebatten thematisieren zunehmend die Problematik unterbewusster und emotionaler Kaufentscheidungen des psychosozialen Konsumenten und selbst Freudianische Einflüsse kehren partiell zurück.

Dichter strebte eine Neudefinition des menschlichen, individuellen Selbst an, das für ihn auf Besitz und Konsum basierte. Vielleicht könnte man diesbezüglich von der Vorstellung eines „konsumistischen Selbst“ sprechen. Damit erscheint Dichter auch für eine jüngst diskutierte „Geschichte des Selbst“, verstanden als kritische Historisierung psychologischen bzw. psychoanalytischen Wissens, anschlussfähig zu sein.7 Schließlich gelang es ihm, „Konsumentenverlangen“ als eine universale menschliche Variable zu propagieren, die mit Wirtschaftswachstum, der Festigung demokratischer Systeme, sozialem Fortschritt und Frieden verknüpft werden konnte. Das eigentlich Revolutionäre am Denken der Motivforschung war die Vorstellung, dass Emotionen von Konsumenten und deren unbewusste Sehnsüchte integrale Bestandteile einer unwandelbaren menschlichen Natur seien. Deshalb verstand Dichter Konsumgüter als das universell gültige „Esperanto des Handels“ (Kai-Uwe Hellmann), deren Produktkommunikation aber an die jeweils nationalen wie regionalen, soziokulturell bedingten Wahrnehmungsgewohnheiten bzw. Normen- und Zeichensysteme angepasst werden müsste. Der vorliegende Sammelband dürfte zum Standardwerk für die kritische Auseinandersetzung mit Dichter als Persönlichkeit und mit dem Einfluss der durch ihn (innerhalb der Marketingbranche) populär gewordenen Motivforschung in den USA und Westeuropa avancieren.

Anmerkungen:
1 Uwe Spiekermann, Understanding Markets: Information, Institutions, and History, in: Bulletin of the German Historical Institute 47 (2010), S. 93–101.
2 Rainer Gries / Stefan Schwarzkopf (Hrsg.), Ernest Dichter: Doyen der Verführer. Zum 100. Geburtstag des Vaters der Motivforschung, Wien 2007.
3 Vgl. zu Lazarsfeld: Wolfgang Langenbucher (Hrsg.), Paul Felix Lazarsfeld. Leben und Werk. Anstatt einer Biografie, Wien 2008.
4 Ulrike Jureit, Generationenforschung, Göttingen 2006, vgl. Eva-Maria Silies: Rezension zu: Jureit, Ulrike: Generationenforschung. Göttingen 2006, in: H-Soz-u-Kult, 08.12.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-183> (12.01.2011); Andreas Kraft / Mark Weißhaupt (Hrsg.), Generationen: Erfahrung – Erzählung – Identität, Konstanz 2009, vgl. Barbara Stambolis: Rezension zu: Kraft, Andreas; Weißhaupt, Mark (Hrsg.): Generationen: Erfahrung – Erzählung – Identität. Konstanz 2009, in: H-Soz-u-Kult, 15.06.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-2-201> (12.01.2011).
5 Hans Wündrich-Meißen, Werbers Anekdotenbuch, Fellbach bei Stuttgart 1966.
6 Hans Wündrich-Meißen, Kerner wird Werber: Ein Roman vom Werdegang der deutschen Werbung, in: Werberundschau 19–29 (1957).
7 Siehe: Zeitgeschichtlicher Arbeitskreis Niedersachsen, Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert – Jahrestagung des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen (ZAKN), Göttingen, 26.–27. November 2010; vgl. die Tagungsankündigung <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=15033> (12.01.2011)

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