L. Radonic: Kroatische Vergangenheitspolitik

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Titel
Krieg um die Erinnerung. Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Revisionismus und europäischen Standards


Autor(en)
Radonic, Ljiljana
Reihe
Campus Forschung 949
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
422 S.
Preis
€ 43,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Robionek, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Ähnlich wie andere Länder des östlichen Europas fordert der postjugoslawische Raum die wissenschaftliche Beschäftigung mit seinen überlagerten und kontroversen Erinnerungskulturen geradezu heraus.1 Von daher geht es Ljiljana Radonic in der Druckfassung ihrer 2009 an der Universität Wien eingereichten Dissertation um antagonistische Diskurse der kroatischen Geschichtspolitik. Als Antipoden dieses Widerstreits stellt sie die jährlich stattfindenden Gedenkfeiern auf dem Gelände des Ustaša-Konzentrationslagers Jasenovac und jene anlässlich der Kapitulation der letzten Armeekontingente des Unabhängigen Staates Kroatien (NDH) nahe Bleiburg (Kärnten) und der folgenden Leiden der Gefangenen in den Mittelpunkt. Aufgebaut ist ihre Untersuchung auf zahlreichen Artikeln, die über zwei Jahrzehnte zu diesen Themen in der weitgehend unabhängigen Tageszeitung „Novi list“ und im staatlichen „Vjesnik“ erschienen sind (S. 41).

Nach intensiver Auswertung dieses Materials unter der Methode einer politologisch ausgerichteten Diskursanalyse (S. 21) ist die Autorin zu dem Ergebnis gelangt, dass sich die Geschichtspolitik Kroatiens in Phasen einteilen lässt, die analog zum politischen Wandel verlaufen (S. 384-403). Demnach herrschte in der offiziellen Erinnerungspolitik des sozialistischen Jugoslawien die Formel, dass die Opfer von Jasenovac in erster Linie nicht ethnisch bestimmt waren, was jedoch die tatsächliche Verfolgungs- und Vernichtungspraxis der Ustaša verfälschte. Bei gleichzeitiger „Tyrannisierung“ des Ustaša-Regimes war „Bleiburg“ im öffentlichen Diskurs ein Tabu. Mit dem Systemwechsel Anfang der 1990er-Jahre fand eine Revision der Vergangenheitsinterpretation statt. Die Täterschaft wurde weiterhin externalisiert, daneben entfaltete sich aber um „Bleiburg“ ein Opfer-Narrativ: Dort, so wurde es aufgefasst, hätten die „Serbo-Kommunisten“ das kroatische Volk ermordet. Die zur Zeit des Sozialismus weit übertriebenen Angaben über das Ausmaß der Opfer in Jasenovac wurden minimiert, während – bei gleichzeitiger Ignoranz gegenüber dem Massenmord an den Serben – die im Umlauf befindliche Zahl der Toten von „Bleiburg“ auf eine halbe Million hochlizitiert wurde. Präsident Franjo Tuđman startete den Versuch einer Geschichtspolitik zur „nationalen Versöhnung“. Der Regierungswechsel von der Tuđman-Partei HDZ zu den Sozialdemokraten leitete eine Mäßigung im Umgang mit den beiden symbolträchtigen Gedenkorten kroatischer Zeitgeschichte ein: Nun gelangte man zu Auffassungen, die weniger einer Exkulpation und politischen Instrumentalisierung dienten, sondern einen sachlicheren Ton trafen.2 Im Jahr 2002 trat erstmals ein amtierender Ministerpräsident bei der Gedenkfeier in Jasenovac auf. In der zweiten Regierungszeit der HDZ verfolgte die Staatsführung einen EU-orientierten Kurs. Kroatien trat 2005 der Task Force for International Cooperation on Holocaust Education Remembrance and Research bei. Schließlich lässt sich eine Annäherung an europäische Erinnerungsstandards beobachten. Dies erweist sich als nicht unproblematisch, denn der Holocaust als „negativer Gründungsmythos Europas“ (Ulrike Ackermann), weitet sich zur Chiffre für massenhaftes Leiden aus, die je nach politischer Opportunitätslage beliebig herangezogen werden kann. So hat der Ministerpräsident und HDZ-Politiker Ivo Sanader Ende Juni 2005 in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem in seiner Rede die Opfer der serbischen Aggression mit denen der Nazi-Diktatur gleichgesetzt (S. 345). An dieser Stelle wurde die Ermordung der Juden nicht mehr mit „Bleiburg“, sondern mit dem Heimatländischen Krieg parallelisiert. In der europäischen Ausprägung der Erinnerungskultur setzt sich ein Verständnis aus der Perspektive der Totalitarismustheorie durch, der zufolge von rechts wie von links gleichermaßen Unrecht und Terror ausgingen.

Nach einer fundierten theoretischen Einführung (S. 13-77) und einem geschichtlichen Überblick widmet sich die Verfasserin der Frage nach Kontinuitäten und Brüchen auf dem „Feld des Sagbaren“ (S. 20) in Kroatien. Begleitet wird dies von im Sinn der Erkenntnisführung ergiebigen Exkursen über den Gerichtsprozess gegen Dinko Šakić (S. 214-229) und die 2006 eröffnete Jasenovac-Ausstellung (S. 348-364), in denen Radonic zeigt, wie stark Diskurs und Ergebnis justizieller Aufarbeitung voneinander abweichen können und wie die Lenkung der Aufmerksamkeit auf individuelle Opferschicksale mitunter die nationale Perspektive fördert. Es ist die analytische Schärfe und die mit ihr verbundene Kritik, die dieses Werk der Autorin so wertvoll macht. Radonic gelangt zu neuen Einsichten, die sie schlüssig zu deuten weiß.

Die Autorin zeigt aber implizit auch die Grenzen ihrer Arbeit auf: Einer ausführlichen Darstellung der Gewaltpolitik des NDH (S. 78-103) folgt der vergleichsweise knapp gehaltene Überblick auf Massenexekutionen von Seiten der Partisanen (S. 99-102), in dem sie einen Großteil der bereits vorhandenen Literatur auslässt und so der intentionalen Komplexität des geschichtlichen Geschehens nicht ganz gerecht wird.3 Der Tod von rund 50.000 Gefangenen in wenigen Wochen direkt nach Kriegsende konnte kein diffuser Betriebsunfall sein, sondern wurde vielfach befehlsgemäß herbeigeführt.4 Radonics Kritik an der Äußerung von Ekkehard Völkl, die kroatischen Geistlichen hätten einen hohen „Blutzoll“ zu entrichten gehabt (S. 101, Anm. 364), geht bei genauer Betrachtung ins Leere, denn der Klerus gehörte tatsächlich zu den bevorzugten Opfergruppen der Partisanen.5 Die vorbehaltlose Beschäftigung mit den Repressionen der Kommunisten bleibt leider weiterhin weitgehend eine Domäne rechtsgerichteter Autoren und leistet so politisch motivierten Auslegungen Vorschub.6

Da der von Radonic gewählte Zugang über die Presselandschaft verläuft, gehört das von ihr untersuchte Segment überwiegend zur mehr oder minder intellektuellen Meinungselite. Insofern hat die Studie einen repräsentativen Charakter für den öffentlichen Diskurs, ohne jedoch die Anschauungen der breiten Bevölkerung zu vermitteln. Dort lässt sich mittlerweile eine Individualisierung der Erinnerungen in Bezug auf persönlich bekannte Protagonisten und ihrer Überlebensstrategien zwischen den totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts erkennen.7 Auf regionaler Ebene kann der Umgang mit der Geschichte zwischen 1941 und 1995 eine erstaunliche Vielfalt aufweisen.8 Positiv anzumerken ist an Radonics Arbeit ihr hoher Informationsgehalt: Sie weist zum Beispiel auf Versuche hin, Jasenovac in ein nach 1945 von Partisanen betriebenes Lager umzudeuten – eine Legende, die 2009 durch den ehemaligen HDZ-Politiker und „Viktimologen“ Zvonimir Šeparović erneut Auftrieb erhielt.9 An einer Stelle reproduziert Radonic jedoch selbst eine Legende (S. 384): Der Säbel des Reiterdenkmals auf dem Jelačić-Platz zeigt nach Süden und nicht Richtung Belgrad.

In Kroatien wird der Bleiburg-Mythos10, wie die im Mai 2009 im Zagreber Fernbusbahnhof eröffnete Ausstellung „Bleiburg – Tragödie und Hoffnung“ demonstrierte11, zuweilen noch öffentlichkeitswirksam gepflegt. Er gelangte zur Hochzüchtung durch politische Exilanten, die das ihm zugrunde liegende historische Ereignis als Sinn stiftendes Moment kultivierten und zur größten Tragödie des kroatischen Volkes stilisierten.12 Dieses in der Emigration entwickelte Narrativ traf Anfang der 1990er-Jahre in der kroatischen Öffentlichkeit schlagartig auf seine jahrzehntelange Tabuisierung. Es wundert also kaum, dass unter den Verhältnissen von Tuđmans Kriegsdemokratie, in den Worten der Verfasserin ein „autoritäres Wahlregime“ (S. 19), einseitige Darstellungen und Übertreibungen dominierten. Die geschichtspolitischen Strategien auf kroatischer Seite können wir jedoch nicht ohne den „Jasenovac-Mythos“13, der bereits auf den Anfang der sozialistischen Ära zurück geht14, durchschreiten. Jasenovac gelangte, angeregt durch die das Auslieferungsverfahren und den Prozess gegen den ehemaligen NDH-Innenminister Andrija Artuković 1986 begleitende Publizistik15, zunehmend auf die geschichtspolitische Agenda post-Tito-Serbiens. Dies traf zeitlich mit jenem Beginn der ethno-emotionalen Mobilisierung zusammen, die die serbische Bevölkerung in die folgenden Kriege führte.16 Bei kroatischen Reaktionen auf den Völkermord in Jasenovac ist also dessen Strapazierung durch nationalistische Propaganda von serbischer Seite ein nicht zu vernachlässigendes Motiv (vgl. S. 187-189). Auch wenn der Bleiburg-Mythos nicht als reiner Reflex verstanden werden darf, so wäre es dennoch wünschenswert gewesen, wenn die Autorin näher auf die Reziprozität der Opfernarrative bzw. -mythen eingegangen wäre (vgl. S. 401). Eine stärkere Reflexion der tagespolitischen Hintergründe analysierter Aussagen, für die erste Hälfte der 1990er-Jahre nicht selten konkrete Kriegssituationen und Bedrohungsszenarien, wäre sicherlich auch sinnvoll gewesen. So zeichnet die Autorin den Verlauf der Diskurse zwar präzise nach, hinterlässt jedoch bei Erklärungen im Hinblick auf die Verständlichkeit kroatischer Positionen Defizite. Hier müssen wir auch in Betracht ziehen, dass die aus dem „Jasenovac-Mythos“ konstruierte Moralkeule einer angeblichen „Genozidalität“17 der Kroaten (unter anderem S. 327f.) eine schonungslose Auseinandersetzung mit dem Ustaša-Terror behindert hat.

Radonic hat auf einem theoretisch starken Fundament und mit einem einleuchtend fokussierten Forschungsdesign eine detailreiche Studie zur erinnerungspolitischen Entwicklung der Republik Kroatien geliefert. Das Ergebnis ist eine treffende Analyse der Mediendiskurse, deren Schlussfolgerungen als Grundlage für weitere Untersuchungen in diesem Bereich unerlässlich sind. Durch ihre Erkenntnisse ermöglicht sie eine systematische Einordnung geschichtspolitischer Vorgänge in Kroatien. Offen bleibt die Frage, ob wir die Annäherung an europäische Erinnerungstrends als bewusste Anpassung oder eher als unvermeidbaren gesellschaftlichen Aushandlungsprozess begreifen sollen.

Anmerkungen:
1 Siehe auch Todor Kuljić, Umkämpfte Vergangenheiten. Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum, Berlin 2010.
2 Vgl. den Artikel von Tihomir Ponoš, Ostavlja li politika žrtve napokon na miru, in: Vjesnik, 10.5.2003, S. 3.
3 Für ihre historische Heranführung zieht Radonic keinen der zahlreichen beim Kroatischen Institut für Geschichte angefertigten Beiträge heran (z.B. Grahek Ravančić, Martina, Controversies about the Croatian Victims at Bleiburg and in „Death Marches“, in: Review of Croatian History 2,1 (2006), S. 27-46).
4 Vgl. Zdravko Dizdar (Hrsg.), Partizanska i komunistička represija i zločini u Hrvatskoj 1944.-1946. 2. Aufl., Slavonski Brod 2005, bes. S. 139 und 167f.
5 Zweihundert der 355 von Partisanen getöteten katholischen Geistlichen wurden in der ersten Jahreshälfte 1945 ermordet (Jozo Tomasevich, War and Revolution in Yugoslavia, 1941-1945, Bd. 2. Occupation and Collaboration, Stanford, CA 2001, S. 572). Von einhundert Personen, die in Dubrovnik den Exzessen der Partisanen zum Opfer fielen, gehörten allein zwanzig dem katholischen Klerus an (Dizdar (Hrsg.), Partizanska i komunistička represija, S. 58).
6 Bspw. Josip Jurčević, Bleiburg. Jugoslavenski poratni zločini nad Hrvatima, Zagreb 2005.
7 Natalija Bašić, Wen interessiert heute noch der Zweite Weltkrieg? Tradierung von Geschichtsbewusstsein in Familiengeschichten aus Serbien und Kroatien, in: Harald Welzer (Hrsg.), Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis, Frankfurt am Main 2007, S. 150-185.
8 Bernd Robionek / Nils Müller / Marija Vulesica, Erinnerungskultur in Dalmatien. Vom Partisanenkult zur Repräsentation der Nationalstaatlichkeit, Berlin 2010 (kostenfreier Download unter <http://www.geschichtswerkstatt-europa.org/ergebnis-details/items/1273956817.html>, 03.06.2011).
9 „U Jasenovcu je bilo masovnih ubojstva i nakon Drugog svjetskog rata“, 06.11.2009, <http://www.index.hr/vijesti/clanak/u-jasenovcu-je-bilo-masovnih-ubojstava-i-nakon-drugog-svjetskog-rata/430601.aspx> (03.06.2011). Vgl. Šeparović: U Jasenovcu se ubijalo i poslije 1945., 6.11.2009, <http://dalje.com/hr-hrvatska/separovic--u-jasenovcu-se-ubijalo-i-poslije-1945/252668> (03.06.2011). Die Version einer Weiterführung des Lagers nach 1945 hat auch Eingang in die internationale Presse gefunden: Chris Hedges, Croatian War-Shrine Plan Revives Pain, in: The New York Times, 19.5.1996, S. 6.
10 Stefan Dietrich, Der Bleiburger Opfermythos, in: Ingrid Böhler / Lisa Rettl (Hrsg.), Geschichtspolitik in Kroatien (= zeitgeschichte 5/08), Innsbruck 2008, S. 298-317. Vgl. Ludwig Steindorff: Rezension zu: Böhler, Ingrid; Rettl, Lisa (Hrsg.): Geschichtspolitik in Kroatien. (= zeitgeschichte 5/08). Innsbruck 2008, in: H-Soz-u-Kult, 14.04.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-2-030> (03.06.2011).
11 Diese Ausstellung war nicht zuletzt auch eine Verkaufsaktion für den gleichnamigen Band („Bleiburg – tragedija i nada“), der 2008 mit Beiträgen u.a. von Bože Vukušić (Ex-Emigrant und Leiter der revisionistischen Gedenkorganisation Počasni bleiburški vod) und Josip Jurčević erschienen ist.
12 Vgl. Paul Hockenos, Homeland Calling. Exile Patriotism and the Balkan Wars, Ithaca / London 2003, S. 28. Dabei ist anzumerken, dass in Bleiburg selbst kein Massaker stattgefunden hat, sondern das Niederlegen der Waffen vielmehr den Endpunkt des NDH markierte (Christopher Booker, A Looking-Glass Tragedy. The Controversy over the Repatriations from Austria in 1945, London 1997, S. 192).
13 Holm Sundhaussen, Das Konzentrationslager Jasenovac (1941-1945). Konstruktion und Dekonstruktion eines Kriegsverbrechens und Weltkriegsmythos, in: Wolfram Wette / Gerd Überschär (Hrsg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001, S. 370-381. Unverständlicherweise bezeichnet Sundhaussen den Betrieb des Lagerkomplexes als „Kriegsverbrechen“, obwohl direkte Kriegshandlungen für diese Institution des Todes nur sekundär waren. Sehr lesenswert ist seine Kritik an den übers Ziel hinaus schießenden Versuchen zur Dekonstruktion des „Jasenovac-Mythos“: <http://www.oei.fu-berlin.de/geschichte/soe/rezensionsseite/rezension55.html> (03.06.2011).
14 Der Generalsekretär des Präsidiums der Volksrepublik Jugoslawien verlautbarte Mitte August 1946, in Jasenovac seien „ungefähr 550.000 Personen von den Besatzern [!] und den Ustaše“ ermordet worden (Dragomir Vučinić (Hrsg.), Dokumenti o spoljnoj politici SFRJ [sic], 1946, Bd. 1, Belgrad 1986, S. 282).
15 Bspw. Milan Bulajić, Ustaški zločini genocida i suđenje Andriji Artukoviću 1986. godine, Bd. 1-2, Belgrad 1988/1989.
16 Vgl. MacDonald / David Bruce, Balkan Holocausts? Serbian and Croatian Victim-centred Propaganda and the War in Yugoslavia, Manchester 2002.
17 Vgl. Petar Džadžić, Nova Ustaška država? Od Ante Starčevića do Pavelića i Tuđmana. 3. Aufl., Belgrad 1991, bes. S. 74ff. (Auszüge aus der serbischen Presse).

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