Cover
Titel
Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung


Herausgeber
Bösl, Elsbeth; Klein, Anne; Waldschmidt, Anne
Reihe
Disability Studies 6
Anzahl Seiten
215 S.
Preis
€ 26,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Joachim Scholz, Allgemeine Erziehungswissenschaft / Theorie der Bildung, Bergische Universität Wuppertal

„Hat Behinderung eine Geschichte?“ fragen die Herausgeberinnen des vorliegenden Sammelbandes, der als einführende Studienliteratur in die Erforschung der Historizität von „verkörperter Differenz“ konzipiert ist. Auf 255 Seiten gibt das Buch Einblicke in konzeptionelle Grundlagen, methodische Fragen und exemplarische Befunde der „Disability History“, die an das mittlerweile elaborierte und etablierte Feld der Disability Studies anschließt und als eine neue Teildisziplin der Geschichtswissenschaft vorgestellt wird. In drei einführenden Texten begründen Anne Waldschmidt, Elsbeth Bösl und Anne Klein jeweils diesen Anspruch und schildern zunächst die kultur- und gesellschaftskritische Programmatik sowie die grundlegende Prämisse der Disability History, derzufolge Behinderung nicht, wie es das Alltagsverständnis nahelegt, per Schicksalsentscheid besteht, sondern eine soziale und historisch variable Konstruktion von Differenz ist, die sich „auf eine bunte Mischung von unterschiedlichen körperlichen, psychischen und kognitiven Merkmalen bezieht, die nichts anderes gemeinsam haben, als dass sie mit negativen Zuschreibungen […] verknüpft werden“ (S. 14). Behinderung wird in Abkehr von biologistischen Vorstellungen nicht statisch aufgefasst, sondern als ein kulturelles Konzept beschrieben, dessen sich Menschen bedienen und das sie durch „Repräsentationen, Dar- und Vorstellungen, […] Sprechweisen und Praktiken“ reproduzieren (Beitrag Elsbeth Bösl, S. 34). Hier wird deutlich gemacht, wie die Nichtfixierbarkeit von Behinderung auf Historizität überhaupt und damit auf die Brüchigkeit jeglicher Normalvorstellungen verweist.

Dabei beansprucht die Disability History, über den Gegenstandsbereich „Behinderung“ hinaus einen Beitrag zur Auslotung der Grenzen der „großen Erzählungen“ zu leisten. Gegen das in der Moderne entwickelte Wissenschaftsverständnis wird der Vorwurf erhoben, einem verklärenden Fortschrittsoptimismus zuzuneigen. Konkret wird der Traditionsbruch, den die Disability History gegenüber der modernisierungstheoretischen Geschichtsschreibung betreibt, in der Kritik an der Historiografie der Sonder- und Heilpädagogik, die noch immer einseitig an Wohltätern und Pionieren von Verbesserungsbemühungen im historischen Prozess orientiert sei (vgl. Beitrag Anne Waldschmidt, S. 21). Mit ihrem Anliegen, der Binnenperspektive von Behinderten in der Geschichtswissenschaft Ausdruck zu verleihen, sieht sich die Disability History stattdessen in der Tradition der Emanzipationsbewegung behinderter Menschen, die in den 1970er-Jahren den Grundstein für die Entwicklung der Disability Studies gelegt hatte. Behinderte Menschen sollen – auch im historischen Prozess – als handelnde Subjekte sichtbar werden und so den reinen Opferstatus verlieren, der ihnen selbst dann noch zugeschrieben worden war, als die sozialen Ursachen von Behinderung längst erkannt waren (vgl. Beitrag Elsbeth Bösl, S. 33).

Wie im Aufsatz von Elsbeth Bösl wird im Buch immer wieder auf die Geschichte der Disability History selbst reflektiert. Mehrfach wird eine historische Abfolge herausgestellt, die gleichsam zielgerichtet von biologistischen zu sozialen und schließlich kulturalistischen Wissenschaftskonzepten von Behinderung reicht und so beinahe wieder eine eigene Fortschrittsgeschichte erkennbar werden lässt, wo pluralistische Positionen der Postmoderne den Gipfelpunkt der Entwicklung markieren. Durch sie hätte die Wissenschaft die „eindimensionalen Konzepte der Moderne“ überwinden und eine neue Ethik das „herkömmliche Selbstverständnis von Forscherinnen und Forschern und deren Praxis als machtreproduzierend“ (Beitrag Anne Klein, S. 49, 54) entlarven können. Gleichwohl: In einigen der im Buch meist sehr prägnanten Wiedergaben theoretischer Positionen tritt die Semantik des kritischen Neuansetzens so stark hervor, dass versäumt wird, vorangegangene Konzepte auch in kritischer Kontinuität zu denken. Machtkritisches Denken etwa lässt sich auch aus der Tradition der Aufklärung begründen; diese wird im Buch aber tendenziell als Geburtsort zweifelhafter Kategorienbildungen oder fragwürdiger Heldengestalten abqualifiziert.

Auch der methodologische Beitrag von Anne Klein, der in einem komprimierten Überblick die methodischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts betrachtet, führt eher die Wucht einer Absetzbewegung vor, die eine kommunikative, konsequent kritische Perspektive verfolgt und sich einer neuen Vielfalt von Quellen und Erkenntnisobjekten zuwendet, als dass er substanziell neue methodologische Zugänge einbringen oder bekannte methodische Operationen außer Kraft setzen würde. Das ist auch nicht nötig. Wo aus der Not einer schmalen Quellenbasis eine Tugend gemacht wird, überzeugt es kaum, eine „Methode des Erzählens“, die sich „auf der Basis spärlichster Dokumente umsetzen lässt“, als besonders geeignet für Forschungen zur Disability History zu erklären (Beitrag Petra Fuchs, S. 111, S. 121). Wenn kein historisches Material überliefert ist, um beispielsweise über die Ich-Konstruktionen von behinderten Menschen in der NS-Zeit ein zuverlässiges Bild zu erhalten, dann reicht auch die fragmentarische Nacherzählung einer Lebensgeschichte allein nicht aus.

Wie die exemplarischen Studien, mit denen das Buch in drei Themenkomplexen fortsetzt, zumeist sehr anschaulich bezeugen, liegt die methodische Herausforderung der Disability History bei der Erschließung vormals unterbelichteter Quellen. Wo dies gelingt, zeigt sich deutlich das innovative Potential des Forschungsprogramms. So untersucht in Kapitel 2 „Wissenschaftliche Konstruktionen und subjektive Erfahrungen“ Susanne Pohl-Zucker Krankenakten als Quellen von Subjektivität und Cornelia Brink beschreibt in einem Beitrag den radikalen Wandel der Vorstellungen von gesund und krank bzw. normal und anormal anhand von so genannten Irrenbroschüren aus der Zeit um 1900 und den kollektiven Selbstthematisierungen behinderter Menschen aus der Phase der Psychiatriereform um 1970.

Im dritten Kapitel stehen dann Wandlungsprozesse in der Betrachtung und Adressierung behinderter Menschen in „Institutionen und Politiken“ im Fokus. Mit Beiträgen über die Geschichte der erfolgreichen Medienkampagne „Aktion Sorgenkind“ (Gabriele Lingelbach), zum schweizerischen Sozialstaat und seiner Behindertenpolitik zwischen 1900 und 1960 (Urs Germann) und zu „Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung in der bundesdeutschen Behindertenpolitik“ (Wilfried Rudloff) wird ebenfalls der starke Wandel sichtbar gemacht, der sich im letzten Drittel des 20. Jahrhundert vollzogen hat. Die Transformation der Ziele der Aktion Sorgenkind „von einem paternalistischen zu einem gleichberechtigten Ansatz“ ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür, wie dieser Wandel auch „gute Absichten“ radikal in Frage stellte und institutionelle Lernprozesse in Gang brachte. Auch im Zuge der Heimkritik änderten sich ab den 1970er-Jahren Muster der Wahrnehmung, Einstellungen und Zuschreibungen mehr als deutlich. Rudloff zeigt, wie seither „das Prinzip ,Anstalt‘ […] seine selbstverständliche Legitimation“ einbüßte (S. 178). Dass er die Bedeutung der Arbeiten Erving Goffmans, der mit seinem soziologischen Klassiker „Asyle“ schon zu Beginn der 1960er-Jahren eine schlüssige theoretische Analyse und wirkmächtige Kritik „totaler Institutionen“ formuliert hatte, hierbei ausführlich herausstellt, ist in der Sache besonders aufschlussreich.1

Der letzte Abschnitt führt unter der Überschrift „Körper, Kunst und Kultur“ noch einmal in den Kernbereich der Disability History und fokussiert in den Beiträgen zur Behindertensportgeschichte im Nationalsozialismus (Bernd Wedemeyer-Kolwe), der Darstellung Kleinwüchsiger in der Kunstgeschichte (Maaike van Rijn) und dem Lachen über körperliche Differenz die historische Kontingenz und den Konstruktionscharakter von Behinderung an zahlreichen Beispielen. Die Interpretationen historischer Bedeutungsverschiebungen – etwa in der Funktion, die Kleinwüchsigen in der Kunst zugewiesen wurde und wird, oder der wechselvollen Geschichte von Komik und Behinderung – liefert solide Befunde und erhellt insbesondere, dass die Disability History nicht etwa auf ein partikulares Feld verwiesen ist, sondern nur im Zusammenhang mit jeweils legitimen kulturellen Mustern der Mehrheitsgesellschaft zu betreiben ist.

Fazit: Wenngleich die Frage, ob die notwendige Fokusveränderung in der historischen Betrachtung von Behinderung tatsächlich den Status einer neuen Subdisziplin der Geschichtswissenschaft legitimiert, offen bleiben mag, wird doch der durch die Disability History erzielbare Zugewinn an Erkenntnismöglichkeiten im vorliegenden Band sehr überzeugend demonstriert. Die methodischen Offerten erscheinen dagegen besonders dort, wo sie sich von konventionellen abgrenzen wollen, noch eher unausgereift und zeigen, dass sich die Disability History gegen die Logik politisch-moralischer Argumentation, aus der sie hervorging, recht unkritisch verhält, jedenfalls nicht genug abschirmt.

Lobenswert ist die für ein Einführungsbuch nötige Übersichtlichkeit und Konsistenz der Darstellung, die durch Querverweise in den einzelnen Beiträgen und durch erkennbar abgestimmte Rückbindung an das theoretische Programm hergestellt wird. Ein Stichwortverzeichnis könnte den Zugang zu Schlüsselbegriffen vielleicht noch weiter erleichtern.

Anmerkung:
1 Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1972.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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