G. Kuhn: Life Under the Jolly Roger. Reflections on Golden Age Piracy

Titel
Life Under the Jolly Roger. Reflections on Golden Age Piracy


Autor(en)
Kuhn, Gabriel
Erschienen
Oakland, CA 2010: PM Press
Anzahl Seiten
267 S.
Preis
€ 16,68
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Rüdiger Haude, Historisches Institut, RWTH Aachen

Als im Jahr 2003 der erste „Pirates of the Caribbean“-Film auf der Leinwand erschien, war die Piraten-Debatte in der Welt der Historiker bereits in vollem Schwange. Schon 1995 hatte Peter Lamborn Wilson sein „Pirate Utopias“ über die Korsaren des marokkanischen Salé veröffentlicht.1 Im Jahr 2000 erschien die wichtige „Many Headed Hydra“ von Peter Linebaugh und Marcus Rediker, worin die karibische Piraterie einer Geschichte des „revolutionären Atlantik“ subsumiert wird.2 Beide Bücher zählen zu einer „radikalen“ Lesart des Piraterie-Phänomens: Die Seeräuber gelten hier als Beweis, dass Demokratie in einer undemokratischen Welt, und eine egalitäre Ökonomie in der Ägide des Frühkapitalismus möglich waren.3 Aber auch die Gegenseite war nicht untätig. 1996 erschien David Cordingly’s „Under the Black Flag“ (deutsche Übersetzung: 1999), in dem Piraten zu „gewöhnlichen Kriminellen“ erklärt wurden 4; und 2003 beteuerte der Flensburger Historiker Robert Bohn, dass unter karibischen Piraten trotz ihrer demokratischen Satzungen „letztlich doch das Recht des Stärkeren ausschlaggebend“ gewesen sei.5

Die genannten Positionen kennzeichnen die Hauptkonfliktlinie in den zeitgenössischen Debatten über das „Goldene Zeitalter“ der Piraterie, das ungefähr 1725 endete und je nach Autor eine unterschiedliche Anzahl Jahrzehnte gedauert hatte. Ebenfalls noch bevor Capt. Jack Sparrow die Kinowelt betrat, lagen in deutscher Sprache drei fundierte und illustrierte Sammelbände zum Thema vor, die Vertretern beider Seiten Platz einräumten.6 Eine ‚Summa‘ der radikalen Diskursposition in dieser Debatte aus der Feder von Marcus Rediker ist seit 2004 greifbar: „Villains of All Nations“. Darin wird noch einmal bekräftigt, dass heutige soziale Kämpfe von den Selbstorganisations-Leistungen der Piraten des „Goldenen Zeitalters“ immens lernen könnten.7

Eine erste Bewegung kam in diese Debatte 2009 durch das originelle Buch „The Invisible Hook“ von Peter T. Leeson. Dieser erkennt die egalitären und radikaldemokratischen Binnenstrukturen der Piraten an, führt sie aber nicht auf eine herrschaftsfeindliche Gesinnung, sondern auf zweckrationales Handeln zurück: der Pirat als homo oeconomicus.8

Und nach dieser liberalen Frontbegradigung folgt nun eine radikale. Gabriel Kuhn, der sich selbst als Anarchist versteht, ist ein freier Schriftsteller, der in Stockholm lebt und zu Themen wie rebellische Fußball-Subkultur, Hardcore-Punk oder den gegenwärtigen Anarchismus in den USA publiziert. 1994 hatte er bereits ein kleines Piraten-Buch in deutscher Sprache herausgegeben 9, an das das jetzige umfangreichere Werk anknüpft.

Kuhn betreibt, wie Leeson, eine Sekundärauswertung der vorhandenen piratologischen Literatur; und wie jener ist er sehr gut im Bilde über den Stand der Debatte. Aber besteht denn ein Bedarf an einer weiteren „radikalen“ Piraten-Historiographie? War denn nicht spätestens mit Redikers „Villains“ alles gesagt über das rebellische und demokratische Vermächtnis der karibischen Piraten in ihrem „Goldenen Zeitalter“? Kuhns Monographie zerstreut solche Impulse eines möglichen Überdrusses am Thema auf zweierlei Weise. Erstens stellt er das Phänomen der klassischen Piraterie systematischer, als dies bisher geschah, in einen Kontext philosophischer, geschichtswissenschaftlicher und ethnologischer Debatten und arbeitet durchgängig mit dem Instrument strukturaler Analogienbildung. Zweitens gelingt es ihm, in die festgefahrene Frontstellung zwischen „radical pirate scholars“ einerseits und ihren „non radical“ Gegnern andererseits (S. 5) wieder dialektischen Schwung zu bringen. Seine Protagonisten sind weder einfach edle Sozialrebellen, noch schlicht sadistische Psychopathen.

Kuhn diskutiert die „Golden Age Piracy“ im Lichte von Theorien über den Guerilla-Krieg (Guevara, Mao, Marighella) und über das Sozialbanditentum (Hobsbawm). Vom letzteren unterschied die Piraten die nicht existierende soziale Einbettung in einem Hinterland, vom ersteren zudem die fehlende umfassende Befreiungsperspektive. Dies wiederum hatten sie gemein mit den „Regulierten Anarchien“ (Sigrist) der Ethnologie. Kuhn unternimmt es als erster Piratologe, die auffällige Ähnlichkeit zwischen den politischen und ökonomischen Strukturen der Piraten und denen in Wildbeuter- oder Stammesgesellschaften systematisch zu untersuchen. So spannt er die Überlieferung zu den Piraten in Diskurse über Nomadentum ein und identifiziert unter anderem das Meer, den Aktionsraum der Piraten, als „glatten Raum“ im Sinne der Nomadologie von Gilles Deleuze und Felix Guattari. Sodann entwickelt er eine ‚Theorie des Captaintums‘, wie man sagen könnte, indem er die Anwendbarkeit der von Pierre Clastres in Südamerika entwickelten „Theorie des Häuptlingstums“ 10 demonstriert: Captain und Häuptling haben im Prinzip dieselben Funktionen und Machtressourcen, die nicht in dauerhafte Herrschaft ‚umkippen‘ können. Frappierend ist auch die Parallelität zwischen ‚vorstaatlichen‘ Völkern und Piraten in der ökonomischen Sphäre, deren wichtigster Aspekt die Verhinderung von Reichtums-Akkumulation war (allen Schatzkarten der populären Imagination zum Trotz). Und Kuhn entdeckt sogar Parallelen im Strafrecht, wenn nämlich eine der härtesten Strafen, die Wildbeutergesellschaften anwenden – die Verbannung – als „marooning“ auch die ultimative Strafe unter Piraten war (S. 161).

Kuhn lässt in der Schwebe, ob die Parallelen auf Kulturkontakt mit indigenen herrschaftsfreien Gesellschaften beruhen oder auf Analogie der politisch-ökonomischen Voraussetzungen. Übrigens muss die demonstrierte Parallelität an zwei Stellen zugunsten einer spezifischen Modernität der Piraten modifiziert werden. In einem Punkt wird Clastres von Kuhn übermäßig in Anspruch genommen (S. 30): Die Wählbarkeit der piratischen Anführer hatte keine Parallele beim Clastres’schen Häuptling, dessen Amt in der Regel erblich war. Und diese Wählbarkeit war in den „Piraten-Artikeln“ einer jeweiligen Mannschaft schriftlich fixiert, so dass die Piraten-Kultur nur mit Einschränkungen als „orale Kultur“ (S. 44) bezeichnet werden kann. Diese Anmerkung erscheint mir wichtig, weil diese Unterschiede beweisen, dass die ‚primitive‘ politische Logik durchaus in ‚modernere‘ Konstellationen adaptiert werden kann.

Aber für Kuhn liegt das Vermächtnis der Piraten keineswegs darin, ein unmittelbar anwendbares Rollenmodell für gegenwärtige radikale Projekte zu liefern – genau dies wirft er großen Teilen linker Piraten-Rezeption vor. Gegen einen solchen unmittelbaren Vorbild-Charakter sprechen die vielen Schattenseiten der piratischen Realität, die der anarchistische Beobachter Kuhn viel schonungsloser offenlegen kann, als das die Piraten-Gegner der bürgerlichen Wissenschaft vermöchten. Es ist gut beobachtet, dass radikale Autoren diese Aspekte gerne durch argumentative Eiertänze oder durch schlichtes Verschweigen eskamotieren. Hierzu gehört das Verhalten der Piraten gegenüber Frauen, für das die Existenz der genau zwei Piratinnen Anne Bonny und Mary Read eben weniger repräsentativ ist als die vielen Berichte über Vergewaltigungen und sonstige Grausamkeiten. Hierhin gehört ferner, dass auch Piratenmannschaften (und erst recht die Bukaniere, die dem „Goldenen Zeitalter“ vorausliegen), keineswegs erhaben über nationale und konfessionelle Vorurteile waren, und dass ihr Verhalten gegenüber Afrikanern und gegenüber indigenen Amerikanern als Teil des „kolonialen Unternehmens der Unterdrückung, der Versklavung und des Völkermords“ (S. 71) zu betrachten seien. Alle diese wichtigen Präzisierungen betreffen den Dualismus von Binnen- und Außenmoral, wie man mit Max Weber formulieren könnte; sie ändern nichts an der auch von konservativen Historikern nicht mehr angezweifelten internen Radikaldemokratie der Piraten, an der egalitären Beuteverteilung, an der kollektiven Vorsorge für Invaliden, oder, wie Kuhn jetzt schön herausarbeitet, an der Disziplinlosigkeit einer „wilden Vielfalt“ von Körpern, die im Kontrast zur seinerzeit entstehenden „Biopolitik“ (Foucault) die „Würde des Körpers“ zu achten vermochte (S. 80) – gerade auch des verstümmelten Körpers, der in der populären Wahrnehmung unverzichtbar zum Klischee des Piraten gehört.

Wenn Kuhn mit liebgewordenen und unkritisch tradierten links-piratologischen Idyllisierungen aufräumt, und zum Beispiel die Erzählung des Capt. Charles Johnson von der seeräuberischen Staatsgründung „Libertalia“ auf Madagaskar 11 nicht nur als fiktiv entlarvt, sondern auch als „schlichter alter kleinbürgerlicher Liberalismus“, erreicht das Buch seine Höhepunkte. Dennoch schießt Kuhn bei dieser Demontagearbeit zuweilen übers Ziel hinaus. Die von Christopher Hill einst aufgeworfene Frage zum Beispiel, ob es einen Einfluss der frühen Quäker auf die karibische Seeräuber-Ethik gegeben haben könne, bestreitet er unter anderem mit dem Hinweis auf den in der Quäker-Politik „bald“ dominierenden Pazifismus (S. 114). Hills Argument war hier aber, dass dieser Pazifismus unter Cromwell und unter der restaurierten englischen Monarchie eine Überlebensstrategie der „offiziellen“ Quäker war, während das anarchistische Ur-Quäkertum infolge dieser Entwicklungen exiliert worden sei – unter anderem in die englischen Kolonien der Karibik.12

Kuhn übertreibt auch mit seiner dem ganzen Werk zugrunde liegenden Diagnose, es fehlten verlässliche Quellen über das Alltagsleben von Piraten des „Goldenen Zeitalters“. Selbstverständlich würde man sich mehr Selbstzeugnisse wünschen, wie sie einige Beteiligte, vor allem Ärzte, von Schiffen der Bukaniere hinterlassen haben. Aber per saldo ist die Archivlage zur Piraterie des „Goldenen Zeitalters“ eigentlich ziemlich gut, wobei man die staatliche Brille all der Gerichtsprotokolle, Petitionen und Memoranden natürlich quellenkritisch berücksichtigen muss. Es ist legitim, wenn Kuhn nicht selbst in die Archive gegangen ist; aber an einigen Stellen wird er den Kollegen, die dies getan haben, nicht ganz gerecht. Zum Beispiel qualifiziert er die Einschätzung von Peter Linebaugh und Marcus Rediker, wonach die Blauholzfäller von Belize eine Art „Urkommunismus“ verkörperten, angesichts angeblich fehlender Quellen als „ein bisschen idealistisch“ (S. 140). Linebaugh und Rediker beziehen sich aber darauf, dass Lewis Henry Morgan diesen wirkmächtigen Begriff später bei einem Besuch Belizes geprägt habe, und sie zitieren aus drei ergiebigen (teils unpublizierten) Quellen aus dem 18. Jahrhundert, die die These vom „Urkommunismus“ durchaus plausibel erscheinen lassen.13

Die Grundthese Kuhns bleibt gleichwohl richtig: Das radikale Potenzial der Piraterie des „Goldenen Zeitalters“ liegt in dem antiautoritären, rebellischen und dionysischen „Geist“ der Piraten, aber man muss diesen aus den kulturellen Kontexten „emporheben“ (S. 74), um ihn als Inspirationsquelle für heutige radikale Kämpfe zu nutzen; nicht jedoch die Piraten zu Verkörperungen heutiger Standards politischer Korrektheit stilisieren.

War nicht schon alles gesagt über die karibische Piraterie des „Goldenen Zeitalters“? Nein, und das ist es jetzt noch immer nicht. Aber Kuhns Beitrag stellt immerhin einen großen Schritt nach vorne dar.

Anmerkungen:
1 Peter Lamborn Wilson, Pirate Utopias. Moorish Corsairs & Europeaan Renegadoes. Second Revised Edition, Brooklyn (N.Y.) 2003.
2 Peter Linebaugh / Marcus Rediker, The Many-Headed Hydra. The Hidden History of the Revolutionary Atlantic, London 2000.
3 Beide Bücher sind kürzlich ins Deutsche übersetzt worden; vgl. Peter Linebaugh / Marcus Rediker, Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks, Berlin 2008; Peter Lamborn Wilson, Piraten, Anarchisten, Utopisten. Mit ihnen ist kein Staat zu machen, Berlin 2009; sowie meine Sammelbesprechung beider Bände in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 58 (2010) 7-8, S.663ff.
4 David Cordingly, Unter schwarzer Flagge. Legende und Wirklichkeit des Piratenlebens, Zürich 1999 (Zitat: S.9).
5 Robert Bohn, Die Piraten, München 2003 (Zitat: S.117).
6 David Cordingly (Hrsg.), Piraten. Furcht und Schrecken auf den Weltmeeren, Köln 1997 (engl. zuerst 1996); Hartmut Roder (Hrsg.), Piraten. Die Herren der Sieben Meere, Bremen 2000; Hartmut Roder (Hrsg.), Piraten. Abenteuer oder Bedrohung? Bremen 2002. – Ein weiterer von Roder, dem Leiter des Bremer Übersee-Museums edierter Sammelband soll im Sommer 2010 erscheinen.
7 Marcus Rediker, Villains of All Nations. Atlantic Pirates in the Golden Age, Boston 2004, vgl. z.B. S.176. – Ein weiterer wichtiger Beiträge zu dieser Diskursposition, der durch die Auswertung ungewöhnlichen, nämlich niederländischen Archivmaterials besticht, ist Stephen Snelders, The Devil’s Anarchy, Brooklyn, N.Y. 2005.
8 Peter T. Leeson, The Invisible Hook: The Hidden Economics of Pirates, Princeton 2009. – Vgl. Auch meine Rezension dieses Buches in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 57. Jg. 2009, H.10, S.836ff.
9 Gabriel Kuhn, Leben unter dem Totenkopf. Anarchismus und Piraterie, Wien 1994.
10 Pierre Clastres: Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie, Frankfurt am Main 1976, S. 28-48.
11 Daniel Defoe (Charles Johnson): A General History of the Pyrates (ed. Manuel Schonhorn), Mineola, N.Y. 1999, S. 383-439.
12 Christopher Hill, Radical Pirates?, in: Maragaret Jacob / James Jacob (Hrsg.), The Origins of Anglo-American Radicalism, London 1984, S.17-32, hier S. 27.
13 Linebaugh / Rediker, Hydra, S. 289.

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