K. Meister: "Aller Dinge Maß ist der Mensch"

Cover
Titel
„Aller Dinge Maß ist der Mensch“. Die Lehren der Sophisten


Autor(en)
Meister, Klaus
Erschienen
Paderborn 2010: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Dreßler, Excellence Cluster Topoi, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Sophisten sind für die griechische Geistesgeschichte von großer Bedeutung. Gestalten wie Protagoras aus Abdera, Hippias aus Elis oder Gorgias aus Leontinoi, die in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v.Chr. als philosophische Wanderlehrer von Stadt zu Stadt zogen, Kurse gaben und Vorträge hielten, spielten eine wesentliche Rolle dabei, dass die Philosophie in Athen ihre auf lange Zeit hinaus wichtigste Heimstätte fand. Philosophie entwickelte sich durch sie zu einem gängigen Bildungsgut und erreichte erstmals breitere Kreise der (gehobenen) Bürgerschaft. Ihr Erfolg ist dabei auch darauf zurückzuführen, dass sie sich weniger mit naturphilosophischen Spekulationen als mit Fragen befassten, die den Menschen und die menschliche Gesellschaft betrafen. Ihr Unterricht sollte ‚Wohlberatenheit‘ (euboulía) in den eigenen wie den öffentlichen Angelegenheiten vermitteln, versprach also Erfolg im praktischen Leben. Dafür war besonders die Rhetorik wichtig, deren Beherrschung in den demokratischen Institutionen Athens (und anderer griechischer Städte) von großer Bedeutung war. Daneben befassten sich die Sophisten mit einer ganzen Reihe weiterer Fragen – so etwa Gesellschaftstheorie und Politik, Ontologie und Epistemologie, Erziehungstheorien und Dichtung – und gaben damit nicht nur dem zeitgenössischen Geistesleben, sondern auch der weiteren Entwicklung von Philosophie und Gelehrsamkeit wichtige Anstöße.

All dies und noch vieles mehr ist nachzulesen im neuen Buch von Klaus Meister, seines Zeichens emeritierter Althistoriker von der Technischen Universität Berlin. Zu den Sophisten liegen zwar schon eine ganze Reihe von Überblicksdarstellungen vor 1, Meister stellt sich demgegenüber aber die Aufgabe, einen umfassenden Überblick zu ihrem Denken und Wirken, ihrem Fortwirken in Antike und Neuzeit sowie der modernen Forschung zu bieten. Wie er selbst bemerkt, hat das Buch also „in gewissem Sinne den Charakter eines Handbuchs“ (S. 7): Alle für das Verständnis der Sophisten relevanten Themenbereiche werden angeschnitten, manches wird vertieft und durch einen eigenen Forschungsansatz bereichert.2 Vieles kann aber auch nur knapp und kursorisch abgehandelt werden. Dies gilt besonders für die Thematik des Fortwirkens sophistischer Themen, für deren Darstellung sich Meister zumeist der einschlägigen Forschungsliteratur anschließt. Die historische Bedeutung sophistischer Gedanken erweist Meister zudem häufig nicht durch eine tatsächliche Rezeptionsgeschichte, sondern indem er kursorisch aufzeigt, dass von Späteren Ähnliches gedacht wurde.

Das erste Kapitel (S. 15–44) führt in den (schon in der Antike durchaus offenen) Begriff der ‚Sophistik‘ ein, skizziert dessen zeitgenössische und spätere Wahrnehmung, verortet ihn in seinem historischen Kontext, besonders in dem der athenischen Demokratie, und gibt einen Überblick zum Wirken der Sophisten. Die beiden folgenden Kapitel (S. 45–139) bilden den Schwerpunkt des Buches und behandeln die konkreten Ansichten der Sophistik. Besondere Aufmerksamkeit widmet Meister dabei unter anderem der Rhetorik, der sophistischen Unterscheidung von Nomos und Physis sowie den Auffassungen der Sophisten zur Religion und zur menschlichen Gesellschaft, insbesondere den verschiedenen Kulturentstehungstheorien. Das vierte Kapitel ist prosopographisch angelegt und befasst sich mit Leben, Werk und historischer Bedeutung der einzelnen Philosophen (S. 141–252). Es folgen eine kurze Zusammenfassung, umfangreiche Anmerkungen, eine Auswahlbibliographie sowie mehrere Indizes (S. 253–327).

Ein erklärtes Ziel von Meister ist es, „die Sophisten zu rehabilitieren“ (S. 13). Für Platon waren sie bekanntlich unmoralisch und gewinnorientiert, weder fundierte Denker noch ernsthafte Philosophen. Ihr (aus Sicht des ‚wirklichen‘ Philosophen) fehlendes Wissen hätten sie durch ihre rhetorischen und eristischen Fähigkeiten überspielt. Diese negative Sicht hat sowohl das antike 3 als auch das moderne Bild der Sophisten über lange Zeit geprägt und findet sich zum Teil auch noch heute.4 Meisters Anliegen ist daher durchaus zu würdigen. So zeigt er etwa, dass die typisch sophistische Unterscheidung zwischen einem (je unterschiedlich vorgestellten) Naturzustand und den erst nach und nach entstandenen Sitten und Rechtssatzungen der Menschen (die berühmte Nomos-Physis-Antithese) zumeist nicht mit der Zurückweisung des Nomos zugunsten eines ‚natürlichen Rechts des Stärkeren‘ einhergeht (S. 83–100).5 Letztere tatsächlich ‚unmoralische‘ Position findet sich nur bei Kallikles (gemäß der Darstellung in Platons Gorgias). Die Hinterfragung gängiger sozialer und rechtlicher Normen durch viele Sophisten deutet Meister daher im Anschluss an de Romilly durchaus überzeugend nicht als „Eintreten für oder gegen etwas“, sondern als objektive Analyse realer Gegebenheiten (so S. 89f., 92 u. 94–96).6 Anzumerken ist dennoch, dass sich ein gegebener Diskurs eben nicht auf die jeweilige Aussageintention der Diskursteilnehmer reduzieren lässt: Dass eine bestimmte Position nicht unmoralisch gemeint war, sagt daher noch nichts darüber aus, wie sie wahrgenommen wurde und welches keineswegs intendierte Eigenleben sie unter Umständen führen konnte.7

Ein weiteres Anliegen des Buches ist es, „die besondere Aktualität und Modernität“ der Sophisten darzulegen (S. 13). Meister bemüht dazu unter anderem den bereits von Hegel ins Spiel gebrachten Vergleich von Sophistik und europäischer Aufklärung und meint, „daß bei Sophisten und Aufklärern sehr wohl ähnliche Denkansätze und Grundthesen zu finden sind“ (S. 26). Zu fragen bleibt allerdings, ob ein solcher Vergleich tatsächlich sinnvoll und hilfreich ist, schließlich ist der geistesgeschichtliche, historische und politische Kontext in beiden Fällen ein grundlegend anderer. Es besteht daher die Gefahr, dass Eigenheiten der späteren Aufklärung unreflektiert auf die Sophistik projiziert werden – wie es zum Beispiel mit dem Fortschrittskonzept der Aufklärer oder eben ihrem Anspruch, ‚Aufklärung‘ zu leisten, oft genug geschehen ist. Kritisch anzumerken ist auch die Verwendung des Naturrechtsbegriffs in Bezug auf das Physis-Denken der Sophisten, die sich etwa im Kapitel „Nomos und Physis: Positives Recht und Naturrecht“ findet: Während jedoch eine (zum idealisierten Begriff geformte) ‚Natur‘ den Aufklärern als allgemeingültiger Legitimitätsgrund rechtlicher Normen dient, ist die Physis bei den Sophisten gerade das Gegenstück zum Nomos.8 Die Schaffung von Recht bedeutet für sie somit die Abkehr von der Physis.9

Die große Nähe zu den Quellen, die Meisters Buch auszeichnet, verhindert jedoch, dass das Bild der Sophistik durch eine übertriebende Aktualisierung verzerrt wird. Aus der großen Menge zeitgenössischer Texte, die in Übersetzung präsentiert werden, entsteht ein dichtes und vielfältiges Bild der Sophisten und ihrer Zeit, das auch die Probleme der Überlieferungslage nicht ausklammert. Hinter dem Bemühen, die Quellen sprechen zu lassen, tritt allerdings in manchen Fällen die eigene Interpretation etwas in den Hintergrund. Positiv anzumerken ist wiederum, dass Meister die Sophistik nicht als quasi einheitliche Gruppe behandelt: Gerade die Vielfalt und Gegensätzlichkeit der Antworten, die die einzelnen Denker zu ähnlichen Fragen finden, führt das Buch anschaulich vor Augen. Hervorzuheben ist außerdem der umfassende Forschungsüberblick, der zu praktisch allen behandelten Themen geboten wird.10 Der Anspruch, „möglichst alle zentralen Fragen, welche die Sophistik und die Sophisten betreffen“, zu behandeln (S. 12), kann insgesamt als erfüllt gelten. Das Buch empfiehlt sich daher sowohl für den Laien als Einführung als auch für den Eingeführten als nützliches Arbeitsinstrument.

Anmerkungen:
1 Zu diesen siehe Meister, S. 22–31, und Abschnitt II.4 des Literaturverzeichnisses (S. 311–313).
2 So erweist Meister durch eine neuerliche Analyse die Identität des Sophisten mit dem Redner Antiphon (S. 184–90) und zeigt Parallelen zwischen Antiphon und Thukydides auf, die er (vielleicht nicht zwingend) als direkte Beeinflussung deutet (S. 198–206). Außerdem kann er überzeugend darlegen, dass das Sisyphos-Fragment wahrscheinlich nicht Kritias, sondern Euripides zuzuschreiben ist (S. 220–224; so auch schon in: Die Interpretation historischer Quellen, Bd. 1, Paderborn u.a. 1997, S. 288–294). Im Kapitel zu Hippias ist es ihm ein besonderes Anliegen, diesen entgegen einer verbreiteten Sicht als vielseitigen und keineswegs oberflächlichen Gelehrten zu zeigen (S. 170–180).
3 Dass jedoch das römische Bild der Sophistik differenzierter war als zumeist angenommen, zeigt Martin Harbsmeier, Betrug oder Bildung. Die römische Rezeption der alten Sophistik, Göttingen 2008.
4 So zum Beispiel in der Monographie von Helga Scholten: Die Sophistik. Eine Bedrohung für Religion und Politik der Polis?, Berlin 2003; dazu Meister, S. 27.
5 Vgl. dazu aber auch schon William K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy, Bd. 3, Cambridge u.a. 1969, S. 55–134.
6 Vgl. Jaqueline de Romilly, Les Grands Sophistes dans l’Athènes de Périclès, Paris 1988, bes. S. 156f.
7 Dies zeigt auch de Romilly in ihrem Kapitel zu den „dangers de la table rase“ (Grands Sophistes, S. 160–190).
8 Zu Nomos und Physis im griechischen Denken vgl. Anthony A. Long, Law and Nature in Greek Thought, in: Michael Gagarin / David Cohen (Hrsg.), The Cambridge Companion to Ancient Greek Law, Cambridge 2005, S. 412–430. Dort werden auch tatsächliche ‚Vorläufer‘ bzw. Parallelen zum späteren Naturrecht-Denken wie etwa die Vorstellung von agraphoi nomoi oder die Philosophie der Stoiker behandelt.
9 Eine Ausnahme scheint das von Kallikles in Platons Gorgias (482e–484c) postulierte ‚natürliche Recht des Stärkeren‘ zu bilden – doch wird der Nomos-Begriff hier eher im metaphorischen Sinne zur Beschreibung einer Macht verwendet, die der Rechtsordnung eigentlich entgegensteht. Und wenn der Anonymus Iamblichi schreibt, dass „Gesetz und Recht […] fest mit der Natur verknüpft“ sind, meint er damit nur, dass der Mensch von Natur darauf angewiesen ist, politische Gemeinschaften zu gründen, und dazu eben Gesetze benötige (DK 89 6.1). Es geht ihm nicht darum, bestimmte Rechtsformen durch den Erweis ihrer ‚Naturgegebenheit‘ zu legitimieren, wie das der Begriff des ‚Naturrechts‘ nahelegen würde.
10 Das Entschlüsseln der sehr umfangreichen Literaturangaben in den Anmerkungen wird allerdings dadurch erschwert, dass Titel in den Anmerkungen nur einmal vollständig und danach nur in Kurzform ohne Hinweis auf die erste Nennung angegeben werden. Das Literaturverzeichnis am Ende des Buches umfasst nur eine thematisch gegliederte Auswahl.

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