J. Feichtinger: Wissenschaft als reflexives Projekt

Cover
Titel
Wissenschaft als reflexives Projekt. Von Bolzano über Freud zu Kelsen: Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848–1938


Autor(en)
Feichtinger, Johannes
Reihe
Science Studies
Anzahl Seiten
618 S.
Preis
€ 42,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Vlastimil Hála, Filosofický ústav Akademie věd České republiky, Praha

Vor rund 30 Jahren unternahm der Grazer Philosoph Rudolf Haller den Versuch, die Eigentümlichkeit der „Österreichischen Philosophie“ zu erfassen und zu formulieren. Aus seiner Perspektive erschien dieser Forschungsgegenstand relativ kohärent und eigenständig. Als Hauptmerkmale dieser Eigenständigkeit hob Haller insbesondere Realismus, Empirismus und antispekulative Orientierung hervor.

Die Intention der vorliegenden Publikation des Wiener Historikers Johannes Feichtinger ist gewissermaßen genau gegensätzlich orientiert: Als Hauptmerkmal kann man hier die starke Betonung eines „Antiessentialismus“ ausmachen. Nach dieser Auffassung bildet jede angeblich eigenständige, zum Beispiel nationale Tradition, in Wahrheit ein „Palimpsest“, das verschiedene kulturelle Schichten einschließt. Dies ist auch der Grund, warum Feichtinger Zurückhaltung gegenüber beliebigen Hypostasierungen von kulturellen, bzw. geistigen Traditionen übt.

Diese Grundauffassung betrifft zuerst schon den einmal den Raum. Feichtinger geht von Moritz Csákys Ideen über „Mitteleuropa“ und „Zentraleuropa“ aus. Während der Terminus „Mitteleuropa“ durch die Idee einer deutschen politischen und kulturellen Dominanz geprägt war, zeichnet sich die Konzeption von „Zentraleuropa“ durch die Hervorhebung eines grundlegenden „Plurikulturalismus“ aus. So verstanden ist „Zentraleuropa“ kein statischer geografischer Raum mit irgendeinem privilegierten (zum Beispiel christlichen) „Wesenszug“, sondern ein Kommunikationsraum, in dem man stets verschiedene Verflechtungen und zeitliche Übergangsvorgänge mit reflektieren muss (S. 74). Dieser „Antiessentialismus“ charakterisiert selbstverständlich nur eine der bedeutsamen Linien der österreichischen wissenschaftlichen, philosophischen, kulturellen usw. Traditionen, nicht aber „die“ österreichische Tradition im Ganzen.

Als ein antiessentialistisches Merkmal der Wissenschaft im Sinne eines reflexiven Projekts fasst Feichtinger die „Zerstörung der hypostasierenden Begriffe und die Objektivierung der terminologischen Systeme“ auf (S. 301). Neben dem betonten Antiessentialismus fokussiert der Autor auf solche wissenschaftlichen Traditionen, die er als funktionale und reflexiv-anregende Stellungnahmen definiert und in Anlehnung an Jürgen Habermas von „politisch-beglaubigenden“ wissenschaftlichen Aussagen abgrenzt (S. 13). Zwischen beiden Tendenzen besteht seiner Auffassung nach ein direkter Zusammenhang.

Markante Beispiele solcher zugleich antiessentialistischer und politisch-reflexiver wissenschaftlicher Auffassungen sind für Feichtinger „der substanzlose Staat“ bei Hans Kelsen, „die Physik ohne Kraft“ bei Ernst Mach und die „Seelenlehre ohne Seele“ bei Sigmund Freud. Der Autor argumentiert, dass dies mit einer generellen Abkehr von Substanzbegriffen in Wien um 1900 zusammenhänge (S. 301). In weiterer Folge identifiziert Feichtinger die von ihm behandelten wissenschaftlichen Strömungen mit Machtkritik und dem Engagement für die Demokratie (S. 238–324, 368–388.).

Zu konkreten Analysen wählt der Autor Sigmund Freud und Hans Kelsen. Als weitere mögliche Beispiele werden Ludwig Wittgenstein, der Wiener Kreis und der Kunsthistoriker Alois Riegl erwähnt (S. 188 u.a.), da – so Feichtinger – in ihren Werken antiessentialistische Stellungnahmen am ausdrücklichsten verkörpert seien. Jeder der Vertreter dieser Grundauffassung von Wissenschaft habe diese auf seine eigene Art und Weise verwirklicht.

Hans Kelsen konzipierte seine „reine Rechtslehre“ (S. 247) als rein juristische Auffassung vom Staat, als jenem Raum, in dem die kohärente Ordnung der Rechtsnormen gültig ist (S. 108). Feichtinger hebt hervor, dass so weder der Staat selbst, noch die Staatsform auf Basis einer Vorstellung von klassenspezifischer, ethnischer oder sozialpsychologischer Einheit begründet werden können (S. 376). Kelsens „reine Rechtslehre“ wird von Feichtinger in Gegensatz zu einigen hypostasierenden Konzeptionen des Staates, in denen er eine substantiell nationalistische Dimension verkörpert sieht, gestellt: Dies sei zum Beispiel in der Rechtskonzeption Carl Schmitts der Fall (S. 247–256).

Zweites Fallbeispiel in Feichtingers Konzeption ist Sigmund Freud. Er verwirklichte seine antiessentialistische Grundposition nicht nur durch Zerlegung der traditionellen substantiellen Vorstellung über das „Ich“, das nach ihm kein einheitliches Phänomen ist (und kein „Herr in seinem Haus“, weil es zwischen „Es“, und „Über-Ich“ steht, S. 185, 311). Besondere Aufmerksamkeit widmet der Autor der Interpretation von Freuds Alterswerk „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ (1939). Freuds problematische Behauptung über die Ähnlichkeit zwischen dem angeblichen – von Freud behaupteten – Mord der Juden an Moses und der christlichen Geschichte über den Tod Christi, hat nach Feichtinger vor allem eine versöhnende Funktion. Das Bewusstwerden dieser unterdrückten Dimension der jüdischen und der christlichen Tradition sollte nach Feichtinger das Gemeinsame in der jüdischen und christlichen Tradition erfassen: Verschweigen der eigenen Schuld und Übertragen dieser Schuld auf andere. Die Geschichte von Moses hat so bei Freud gewissermaßen auch eine therapeutische Funktion (S. 391–425).

Am Rande behandelt der Autor auch wichtige Gegenspieler der genannten antisubstanzialistischen und prodemokratischen Strömungen: Im Fall von Kelsen sind es unter anderem Carl Schmitt und Othmar Spann, bei Freud zum Beispiel Carl Gustav Jung und Wilhelm Schmidt.

Feichtinger betont besonders den inneren Zusammenhang zwischen substanzialistischen Auffassungen des Staates und politisch autoritären Tendenzen einerseits, und zwischen den formal funktionalen, antisubstanzialistischen Konzeptionen des Staates als Rechtsraum und der Demokratie andererseits (S. 68–69, 250, 381). Was die allgemeine Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik betrifft, hebt Feichtinger hervor, dass Wissenschaft autonom, heterogen, aber auch engagiert sein sollte, was genau der von ihm analysierte Linie der österreichischen wissenschaftlichen Traditionen entspräche (S. 535).

Einer der zentralen Gedanken in Feichtingers Analysen ist die Thematisierung des Zusammenhangs von Essentialismus und Rassismus. Der Nationalismus manifestiere sich nämlich in der Hervorhebung der Ethnizität als das, was die eigene Essenz ausmache. Dies führe zu einem prinzipiellen Gegensatz zwischen „Eigenem“ und „Fremden“ im Sinne klarer Grenzziehungen: letztlich zu einer „Wir-Ideologie“ (S. 302). Dies, so Feichtinger, sei auch einer der Gründe des Antisemitismus. Der Autor ist freilich auch davon überzeugt, dass selbst der Begriff „Multikulturalismus“ noch eine Abgrenzung des „Eigenen“ vom „Fremden“ impliziere, in dem das Eigene als das Universelle, das Fremde und Andere als das Besondere aufgefasst werde (S. 66, 99–100, 551).

Feichtinger versucht Tiefenschichten des Antisemitismus zu analysieren. Diese manifestieren sich, so der Autor, in der Pluralität der Begründungen und Formen von Antisemitismus, zu denen auch die katholische Variante gehörte. Diese war nicht primär auf einem biologischen „Rassenfundament“ begründet, sie akzentuierte vielmehr die Schlüsselrolle der seelischen Seite (wobei Seele als Essenz verstanden wurde): Nicht die Rasse drücke der Seele ihren Stempel auf, sondern die Seele der Rasse. So verstanden konnte der Unterschied zwischen Juden und Christen als „geistig“ bedingt verstanden werden (S. 463–502). Diese katholische Variante des Antisemitismus, die auf dem Gedanken der „Anderswertigkeit“ begründet ist, analysiert Feichtinger konkret anhand des offiziellen Diskurses des österreichischen Ständestaates (1934–1938) und seiner „christlich-nationalen“ Ideologie (S. 463–497). Auch hier spielt für den Autor also eine essentialistische Grundeinstellung die Schlüsselrolle. Diese Interpretation der Tiefendimension des Antisemitismus halte ich für die wichtigste konkrete Idee der vorliegenden Arbeit.

Der Autor geht neben dieser gedanklichen Hauptlinie auch einige spezielleren Themen durch: Große Aufmerksamkeit widmet er der Thunschen Unterrichtsreform Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Bernard Bolzanos Schüler Franz Exner und dessen Schüler Robert Zimmermann bedeutsame Rollen spielten. Beide wurden ursprünglich vom Bolzanos Reformkatholizismus beeinflusst, wandten sich später aber dem Herbartianismus zu, der durch die Unterrichtsreform in Österreich durchgesetzt wurde (S. 117–151).

Feichtinger thematisiert die ausgewählten Problematiken nicht nur in historischer Perspektive, sondern widmet sich auch ihre aktuellen Relevanz, etwa dort, wo er sich – unter Bezugnahme auf zum Beispiel Jürgen Habermas, Jean-François Lyotard und Anil Bhatti – mit der Frage des Plurikulturalismus beschäftigt (S. 216–218). Gerade dieser Aspekt der Aktualität kann auch für nicht aus Österreich stammende Leser, etwa für solche aus dem „Kommunikationsraum“ der ehemaligen Donaumonarchie, wichtige Impulse für weiteres Durchdenken bieten.

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