Cover
Titel
Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen - Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa


Autor(en)
Csáky, Moritz
Erschienen
Anzahl Seiten
417 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Ther, Institut für osteuropäische Geschichte, Universität Wien

Es ist überaus erfreulich, dass die Forschungsansätze des österreichischen Kulturhistorikers Moritz Csáky über die Kulturgeschichte Zentraleuropas, die bislang vorwiegend in Aufsätzen in Sammelbänden publiziert wurden, nun in einer großen Monographie vorliegen. Sein Werk hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten als einflussreich erwiesen, nicht nur in Österreich, wo Csáky in den 1990er Jahren den produktiven Grazer SFB „Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900“ und die „Kommission (inzwischen Institut) für Theatergeschichte und Kulturwissenschaften“ an der „Österreichischen Akademie der Wissenschaften“ leitete, sondern auch in anderen europäischen Ländern. Etliche Projekte, die sich in Deutschland, Polen und Ungarn mit Stadtgeschichte, Erinnerung und Kulturtransfers befassen, beziehen sich auf die Publikationen Csákys.

Das erste Kapitel seiner neuen Monographie beginnt mit einem Exkurs über Béla Bartók, der die kulturelle Heterogenität Zentraleuropas erkannte und in seinem Oeuvre produktiv verarbeitete. Wie Csáky zeigt, dekonstruierte Bartók die Vorstellung und den Begriff des nationalen Stils und authentischer Kulturen. Dies mag auf den ersten Blick als eine Facette der Musikwissenschaft erscheinen, Csákys zweites Studienfach, aber Bartóks Einsichten belegen, dass der ethnische Nationalismus in Zentraleuropa sehr wohl kritisch betrachtet wurde. Wissenschaftsgeschichtlich ist diese Dekonstruktion ebenfalls von Interesse: Bartók nahm die Einsicht der Nationalismusforschung der 1980er Jahre vorweg, dass die Nation als Konstrukt zu betrachten sei und hinterfragte damit letztlich das Paradigma der Nationalgeschichte. Diese Ouvertüre mit Bartók steht stellvertretend für die sinnliche Qualität des Gesamtwerks von Csáky, der sich seit langem intensiv mit der Literaturgeschichte, Sprachgeschichte, Alltagskulturen bis hin zur Küche, Konsumkultur und verschiedenen Genres von Musik befasst hat, darunter insbesondere der Wiener Operette.1

An das einleitende Kapitel schließt sich eine längere Diskussion von Raumeinheiten an, in der Csáky Zentraleuropa von konkurrierenden Begriffen wie Mitteleuropa oder Ostmitteleuropa und zugleich von Osteuropa im engeren Sinne abgrenzt. Diese Begriffsdiskussion betont den politischen Kontext des Mental Mappings in verschiedenen Epochen. Wohl auch deshalb kommen die wissenschaftsimmanenten Dimensionen des Begriffs Ostmitteleuropa etwas zu kurz. Die osteuropäische Geschichte und ihre Subdisziplinen beruhten lange Zeit auf einem strukturhistorischen Fundament, das Csáky nicht grundsätzlich hinterfragt. Es bleibt somit offen, ob seine Kulturgeschichte Zentraleuropas eher als Erweiterung oder als Alternative zu einem strukturhistorisch verstandenen Ostmitteleuropa zu betrachten ist. In beiden Fällen ist die in Österreich immer noch identitätsbildende Abgrenzung zur preußischen und deutschen Geschichte problematisch. Sozialhistorisch gab es etliche Gemeinsamkeiten zwischen dem Habsburgerreich und den ostelbischen Gebieten Preußens, kulturhistorisch blieben die Verbindungen auch nach 1866 sehr eng. Dies gilt auch für Italien und die italienischen Gebiete des Habsburgerreiches.

In diesem einführenden Kapitel und dem gesamten weiteren Buch betont Csáky die Heterogenität Zentraleuropas. Weiterführend ist dabei insbesondere die Unterscheidung zwischen endogener, also in der Region liegender Pluralität, und einer exogenen, durch kulturelle Austauschprozesse mit anderen Teilen Europas entstehenden Pluralität. Csáky verweist dabei unter anderem auf spanische, französische und italienischen Einflüsse auf die Habsburgermonarchie, die mit einer Fülle von empirischen Beispielen belegt werden. Daran schließt sich, methodisch gestützt auf Bronislaw Malinowski und Stephen Greenblatt, ein Kapitel über Kultur als Kommunikationsraum an, das sich als grundlegende Abhandlung für jeden kulturwissenschaftlichen und kulturhistorisch orientierten Studiengang empfiehlt.

Im Kapitel über Wien als „urbanes Milieu in der Moderne“ werden diese theoretischen Grundlagen weit gefächert angewandt. Csáky wendet sich dabei den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und ihren Kulturen zu, insbesondere den Wiener Tschechen, Ungarn und Juden. Während die davor erläuterten Kulturtheorien sich eher auf Transfers und Austausch konzentrieren, werden in diesem Kapitel auch die Differenzen, Stereotypen und Konflikte analysiert. Csáky konstatiert auf Seiten der schon länger ansässigen Stadtbevölkerung und der Zuwanderer aus den verschiedenen Ländern des Habsburgerreiches eine Verunsicherung, die in wechselseitige Abschließung und Ablehnung münden konnte. Mit dieser Verunsicherung und dem aufkommenden Nationalismus erklärt Csáky die „kolonialen Attitüden“ gegenüber den Wiener Tschechen, Polen, Slowenen und anderen Gruppen. Auch den Wiener Juden und ihrer Bedeutung für Geschichte und Kultur der Stadt ist ein reichhaltiges Kapitel gewidmet. Besonders interessant ist dabei die Analyse des Antisemitismus anhand der Populärkultur. Insgesamt ergibt sich eine „dichte Beschreibung“ der Stadt und ihrer Lebenswelten im „langen“ 19. Jahrhundert. Da die Theorien in diesem wie in den folgenden Kapiteln immer wieder angeführt werden, kann man die einzelnen Teile des Buches auch als in sich geschlossen betrachten und dementsprechend gut in der Lehre anwenden.

Das nachfolgende fünfte Kapitel vergleicht Wien mit anderen urbanen Milieus in Zentraleuropa. Zum Auftakt behandelt Csáky die vielfältigen Literaturen in Wien, wo auch bedeutende polnische, ungarische, ukrainische, slowenische und andere Schriftsteller tätig waren. In der Tat stellt sich die Frage, wieso man mit Büchern über die Prager deutsche Literatur etliche Regalmeter füllen kann, während die Wiener tschechische oder polnische Literatur weit weniger Beachtung findet. Csáky führt dies auf das Konstrukt des „Deutschen Wiens“ und den Germanozentrismus der Forschung zurück. Die quellengesättigten Porträts der nicht-deutschen und häufig zwei- oder mehrsprachigen Literaten und ihrer Werke gehören zu den besonders lesenswerten Passagen des Buches. Ebenso interessant sind die kulturhistorischen Städteportraits von Budapest, Bratislava, Ljubljana, Prag, Triest und Breslau, die sich bis auf einzelne Stadtviertel, ihre Dialekte und Alltagskulturen, aufgliedern. Csáky verklärt das Neben- und Miteinander der Kulturen nicht, sondern betont stets die Konflikthaftigkeit kultureller Differenzen. Durch den starken kulturhistorischen Schwerpunkt geraten gelegentlich die sozialen Konflikte innerhalb bestimmter Nationalitäten in den Hintergrund, aber das ist auch ein Problem der gesamten Imperienforschung bzw. Empire Studies. Sozialhistorische Studien würden wahrscheinlich weitere Konflikte innerhalb bestimmter Gruppen aufweisen und letztlich die sprachliche Definition von Kommunikationsräumen in Frage stellen, wobei Csáky völlig richtig auf die Überschneidung nationaler und sozialer Trennlinien hinweist.

Diese Anmerkung weist bereits darauf hin, wie man Csákys umfangreiches Werk und sein jüngstes Buch aufnehmen und weiter entwickeln könnte. Viel versprechend in Bezug auf hybride Kulturen könnten Studien über Regionen wie Oberschlesien, Mähren oder das (österreichisch-slowenisch-italienische) Triplex Confinium sein. Diese „Zwischenräume“ bewahrten und entwickelten eigene Kulturen jenseits des von Csáky kritisierten nationalen Paradigmas, das in den Städten weit dominanter war als auf dem Lande. Ein weiteres Studienobjekt, das in dem Buch bereits vorgegeben wird, sind Alltagskulturen, insbesondere im Bereich der Populärkultur und des Konsums.

Das letzte Kapitel über Zentraleuropa als Laboratorium der Gegenwart nimmt vorherige Thesen auf und spitzt sie noch einmal zu, vor allem in einer politischen Richtung. Csáky betrachtet den Nationalsozialismus als Fortsetzung der „inneren Kolonisierung“ Österreichs und vor allem Wiens gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Unter Berufung auf Joseph Roth kritisiert er außerdem die deutsch-ungarische Hegemonie über das späte Habsburgerreich. Mit Blick auf die Gegenwart warnt Csáky vor einem ähnlich destruktiven Umgang mit kultureller Pluralität wie vor hundert Jahren. Eine andere zeitbezogene Parallelisierung weist dagegen eher in eine philosophische Richtung: Wie bereits in dem Grazer Spezialforschungsbereich über Wien und die Moderne um 1900 vergleicht Csáky die Postmoderne mit der Moderne und betont die Ähnlichkeit der Ausgangsbedingungen und der Herausforderungen. Letztlich deutet das in Richtung eines zirkulären anstatt eines linearen Zeitverständnisses. Zugleich endet das Buch mit einem politischen Auftrag an das heutige, seit den 1990er Jahren wieder boomende und zunehmend multinationale Wien und seine politischen und gesellschaftlichen Eliten.

Anmerkung:
1 Moritz Csáky, Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay zur österreichischen Identität, Wien 1996.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch