Cover
Titel
Designs for an Anthropology of the Contemporary.


Autor(en)
Rabinow, Paul; Marcus, George E.; Faubion, James D.; Rees, Tobias
Erschienen
Anzahl Seiten
141 S.
Preis
€ 17,40
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cristian Alvarado Leyton, Lateinamerika-Zentrum, Universität Hamburg

Der vorliegende Band dokumentiert Gespräche Paul Rabinows und George Marcus’ über das Unbehagen an der Ethnologie. Paul Rabinow ist im deutschsprachigen Raum vor allem wegen seiner Werke über Foucault bekannt, der Rabinows Forschungen zur Biotechnologie und modernen Vernunft prägte. Marcus hat sich in den Feldern ethnographisches Schreiben, moderne Feldforschungsmethodik und Eliten hervorgetan. Tobias Rees, der die Gespräche verständnisfördernd moderierte, ist ein ehemaliger Promovend Rabinows und forschte in einem neurobiologischen Labor; James Faubion, ebenfalls Schüler Rabinows, beteiligte sich an einigen Gesprächssitzungen. Er publizierte von Foucault inspirierte Arbeiten zu Millenarismus, Verwandtschaft und Ethik.

In Rees’ Einleitung wird das Gesprächsziel, ethnologische Arbeit nach Writing Culture aus einer „postmodernen“ reflexiven Metaperspektive zu bestimmen, gut entfaltet. Die folgenden sieben „dialogues“ sind chronologisch geordnet. Die ersten beiden beginnen mit dem nach 1945 einsetzenden „Golden Age“ der US-amerikanischen Ethnologie und führen zur Writing-Culture-Debatte der 1980er-Jahre. Der dritte Dialog resümiert den gegenwärtigen Status, während die Dialoge 4 bis 7 eine „emergierende“ Ethnologie reflektieren und Zukunftsszenarien diskutieren. Rees’ Nachwort, das die zentralen Gesprächsideen – das „design“ von Feldforschungen sowie die ethnologische Ausbildung in „design studios“ – aufgreifen soll, beendet den mit einem Register versehenen Band.

Die Schwäche des Buches liegt darin, dass die Gesprächspartner unter „anthropology“ ausschließlich die US-amerikanische Ethnologie verstehen. Andere Traditionen werden nicht thematisiert, wirkmächtige erkenntniskritische Diskussionen um die „World Anthropologies“, insbesondere Ethnologien der „Dritten Welt“ bleiben ungenannt.1 Dass ferner die Bedeutung ihrer Kritik, die aus ihren für die Ethnologie ungewöhnlichen Forschungen folgt, für die konventionelle Forschung weder in den Gesprächen noch in den rahmenden Kapiteln explizit diskutiert wurde, schwächt deren Relevanz unnötig ab. Denn die Stärke des Buchs liegt darin, dass die Beteiligten radikale, unbequeme Neubestimmungen einer zeitbewussten Ethnologie leisten und sich um eine höhere Adäquatheit der empirischen Erforschung sozialer Prozesse im frühen 21. Jahrhundert bemühen. Dies begründet die hohe Relevanz ihrer Kritik für jedwede gegenwärtige Ethnologie, auch wenn „postmoderne“ reflexive Ethnologie in weiten Teilen des deutschsprachigen Fachestablishments schlecht gelitten ist.

Das Buch beginnt mit fachgeschichtlich interessanten Erörterungen des staatlich-privaten Förderungsbooms der Ethnologie von etwa 1940 bis 1975. Rabinow und Marcus berichten anschaulich von ihrer Unzufriedenheit mit der etablierten Arbeitstradition Ende der 1960er Jahre, da sie keine in der Öffentlichkeit aktuellen Problematiken wie die Machtfrage, Gewaltformen oder globale Prozesse adressierte. Im Dialog über Writing Culture gestatten Rabinow und Marcus als zentrale Protagonisten wunderbare Einblicke in den damaligen Kontext. Sie fassen den um 1980 einsetzenden, bis heute anhaltenden experimentellen Moment in der Ethnologie zusammen, der sich den unter anderem von Clifford Geertz in Gang gesetzten innovativen interdisziplinären Anleihen verdanke, was zur thematischen Ausdifferenzierung sondergleichen geführt habe (S. 14ff., 31f.).

Interessant ist Marcus’ Kritik, dass Fachfremde wegen ihrer „still stereotypic receptions“ (S. 32) glaubten, Ethnologie betreibe weiterhin die traditionelle Erforschung exotischer Anderer (S. 16, 31). An dieser Erwartungshaltung erkennt er das heutige Dilemma des Faches: Die klassischen „aesthetics and ethos of practice“ der Ethnologie seien intakt geblieben, obwohl mehrere EthnologInnen längst mit fachfremden Diskursen und zu neuen Themen arbeiteten (S. 22). Dadurch sei das aktuelle Problem entstanden, dass die Fachtradition deren Arbeit identitäts- und sprachlos lasse (S. 6, 24f., 31f., 43, 46, 62); diese „andere“ Ethnologie sei aber auch „invisible“, weil konventionell arbeitende EthnologInnen sie nicht wahrnehmen wollten (S. 43).

Auffällig ist Rabinows Kritik „linker“ EthnologInnen ob ihrer Ächtung „postmoderner“ Ethnologie – er nennt unter anderem so verschiedene ForscherInnen wie Nader, Leacock, Ortner, Wolf (S. 26f.) –, zumal er sich als „left“ präsentiert (S. 27). Faubions beispringende Erklärung, die Linke könne nicht auf den objektiven Wahrheitsanspruch positivistischer Wissenschaft verzichten (S. 26) und bekämpfe daher „Relativierer“, ist simpel, wenn die „linke“ Prämisse kritischer Theorie, Wissenschaft sei eine Funktion des Machtinteresses, bedacht wird; Differenzierungen und genauere Entgegnungen, die auch hier von einer Gemengelage ausgingen, wären interessanter gewesen. Nun fällt auf, dass Marcus die Kulturkritik als ethnologischen Arbeitszweck abwertet (S. 61) und der 1986 von ihm mitverfasste Geschwisterband Anthropology as Cultural Critique, der vielfältige Synthesen „postmoderner“ und „linker“ Ethnologie diskutiert, in den Gesprächen nicht einmal erwähnt wird. Erneut macht sich der unterlassene Bezug auf andere Ethnologiekonstellationen negativ bemerkbar, ist doch die Kulturkritik zum Beispiel für Ethnologien in der „Dritten Welt“ zentral.

Dem Anliegen der Diskutanten, Bestimmungen der „anderen“ Ethnologie vorzunehmen, die unterschätzten Veränderungen der Feldforschungspraxis explizit zu machen, um etablierte Normen und Formen problematisierend zu wandeln (S. 53), widmen sich fünf der sieben Dialoge. Dabei sind zwei Aspekte zentral: 1. die Temporalität der Feldforschung und 2. die Frage nach der Lehre zeitgenössischer Forschung. Rabinow et al. kritisieren, dass nach Writing Culture zwar die Adäquatheit ethnographischer Standardformen problematisiert wurde und das „Kulturelle“ als semiotischer Differenzmarker an die Stelle des unhaltbaren Begriffs „Kultur“ getreten ist (S. 106ff.), doch die damit verbundene Problematisierung der Feldforschung als solcher „has hardly occurred at all“ (S. 25), weshalb die Writing-Culture-Debatte weiterhin aktuell ist (S. 53, 96f.).

Ihre Diskussion der Temporalität der Feldforschung fußt auf der um 1970 einsetzenden Kritik, Ethnologie negiere die „Gleichzeitigkeit“ der untersuchten „Anderen“, indem deren Verortetsein in der kapitalistischen Welt ausgeblendet bleibe (S. 7, 29, 60f.). Doch auch „moderne“ Forschungsthemen wie Technowissenschaften, Warenkonsum, Eliten, Unternehmen, Diskurse, Börsen, staatliche Gewalt oder Medien erforderten eine „‚retemporalization‘ of the anthropological subject“ (S. 28f.). Das Potential ethnologischer Feldforschung bestünde nun darin, Gegenwart als dynamisches Praxisphänomen erfahren zu können, das nach Raymond Williams dominante, residuale und emergierende Attribute aufweise (S. 93f., 102f.). Insofern zeige der titelgebende Begriff des Zeitgenössischen auf das bislang ausgeblendete Emergierende der Gegenwart, das sowohl deckungsgleich mit dem Modernen als auch different davon sei (S. 57).

Da die Gegenwart zu weiten Teilen „unterdeterminiert“ sei, so Rabinow weiter mit seiner Nietzsche folgenden Kritik des Historismus, begründe die Kontingenz die Problematik der Ethnologie: zeitgenössische Probleme und ihre heutigen Formen mit überkommenen analytischen Modellen anzugehen, die mehr verdeckten als anzeigten, da jene mit etablierten Konzepten noch nicht greifbar seien (S. 9f., 56ff.). Es gelte daher, neue Konzepte für die Analyse des Emergierenden zu schmieden, was als Forderung nach analytischer Komplexitätssteigerung auch die Frage nach neuen Schreibformen aktualisiert (S. 64, 67f.). Dieses Plädoyer für eine Art grounded anthropology verbindet beide Aspekte, denn konkrete Forschungserfahrungen – die „tales of the field“ – seien wichtige Quellen für methodische Innovationen (S. 66, 97ff., 111f. 116f.), wobei insbesondere das sich fundamental ändernde Subjekt-Objekt-Verhältnis, die Beziehung zwischen FeldforscherInnen und InformantInnen „becomes a key realm for rethinking method, practice, theory“ (S. 65).

Konsequent stellten sich neue Herausforderungen für die Lehre, womit nur die Ausbildung von Promovierenden gemeint ist. Hier divergieren Marcus und Rabinow am stärksten: Während Marcus zwischen klassischen und zeitgenössischen Arbeitsformen eine minimale Kontinuität herzustellen sucht – er rekurriert vor allem auf die Feldforschung als verbindendes Arbeitsprinzip –, problematisiert Rabinow diese und versteht Ethnologie mehr als sich entlang spezifischer Probleme formierende Fragmente (S. 48-51, 89, 91f., 114). So hätte sich Rabinow in seiner Forschung weder als traditioneller Feldforscher verstehen können noch hätten gängige Konzepte analytischen Wert gehabt (S. 6, 49). Konform gehen beide darin, neue Lehrformen praktizieren zu wollen, für die sie, inspiriert von Architekturbüros, „design studios“ vorschlagen, in denen kollektive Reflexionsarbeit zwecks Erprobung neuer Konzepte und Methoden stattfinden könne (S. 82-86, 100f.).2

Im Ganzen betrachtet liefert der Band viele fachgeschichtlich wichtige Daten und anregende Thesen. Seine Anlage als Gespräch, das Antworten sucht, statt vorgefertigte zu liefern, ermutigt, die eigene Arbeit zu überdenken. Mit dieser „living science“-Methode werden die Beteiligten ihrem Appell performativ gerecht, zeitgenössische Gesellschaftssituationen und ihre Ethnologie/n als Entstehendes zu verstehen – eine beeindruckende Leistung. Drängenden Herausforderungen mit der von ihnen bemühten Denkfigur der Temporalität begrifflich zu begegnen, macht uns auf das Potential einer bewusst gegenwärtigen Forschung aufmerksam.

Für die Nachbardisziplinen und die interessierte Öffentlichkeit spiegelt der Band das stärker werdende Bedürfnis nach ethnologischen Arbeitsformen, die der Rede vom Unmodernen nicht mehr bedürfen, glänzend wider. EthnologInnen bietet er Anreize, ihr Unbehagen an überkommenen Arbeitsweisen als Ausgang zur Erprobung neuer Wege wahrzunehmen.

Anmerkungen:
1 Gustavo Lins Ribeiro / Arturo Escobar (Hrsg.), World Anthropologies. Disciplinary Transformations within Systems of Power, Oxford 2006; Cristian Alvarado Leyton, Native Anthropology, Berlin 2009.
2 Seit 2005 bzw. 2006 praktizieren Rabinow und Marcus diese Lehrform (S. 117f.); für Rabinows Anthropology of the Contemporary Collaboratory siehe <http://anthropos-lab.net> (25.10.2010), für Marcus’ Center for Ethnography siehe <http://www.socsci.uci.edu/~ethnog> (25.10.2010).

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