M. Lindemann: Medicine and Society in Early Modern Europe

Cover
Titel
Medicine and Society in Early Modern Europe.


Autor(en)
Lindemann, Mary
Erschienen
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
$ 40.00 (paperback)
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Jütte, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart

Wer sich für die Medizingeschichte der Frühen Neuzeit interessiert, der kann seit einigen Jahren auf dieses englischsprachige Standardwerk aus der renommierten Reihe „New Approaches to European History“ zurückgreifen. Die Bände dieser von Robert W. Scribner mitbegründeten Reihe werden allgemein an anglo-amerikanischen Universitäten gerne als textbooks im Unterricht eingesetzt. Die Tatsache, dass ein Überblickswerk über die Medizingeschichte der Frühen Neuzeit jetzt in zweiter, überarbeiteter Auflage vorliegt, beweist, dass Themen wie Gesundheit und Krankheit längst in den Lehrveranstaltungen an geisteswissenschaftlichen Fakultäten angekommen sind. So überrascht es auch nicht, dass die Verfasserin eine Historikerin ist, die sich unter anderem mit ihrer Studie über das norddeutsche Gesundheitswesen im 18. Jahrhundert in der Medizingeschichte einen Namen gemacht hat.

Bereits der Titel der ersten Auflage, der nicht verändert wurde, signalisiert die Trendwende in der Medizingeschichtsschreibung der letzten dreißig Jahre. Die Autorin bekennt sich damit bereits klar zu einer Sozialgeschichte der Medizin. Eine Fortschrittsgeschichte, wie sie viele Jahre an medizinischen Fakultäten gelehrt wurde, lehnt Lindemann strikt ab. Theoretisch lässt sie sich von Konzepten leiten, die aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen kommen. Dazu gehört beispielsweise das Modell der sozialen Konstruktion von Krankheit, das allerdings nicht unkritisch übernommen, sondern am Einzelfall überprüft wird. Weitgehend konsequent ist dagegen die Autorin in ihrer Ablehnung einer retrospektiven Diagnose von Krankheiten, die sich nicht nur in Ärztekreisen immer noch einer gewissen Beliebtheit erfreut, obwohl jedem bewusst sein müsste, dass selbst bei paläopathologischen Befunden auf der Basis von modernen molekularbiologischen Untersuchungen die heutige Krankheitssystematik nur begrenzt übernommen werden kann.

Nach einer knappen Einführung in die Theoriedebatte der letzten Jahre richtet sich das Augenmerk der Autorin zunächst auf die zentralen Begriffe von Krankheit und Gesundheit, wobei letzterer in der Darstellung etwas zu kurz kommt. Hier hätte zum Beispiel die inzwischen auch auf Englisch vorliegende Studie von Klaus Bergdolt über Gesundheitskonzepte von der Antike bis in die Gegenwart1 Anregungen für eine erweiterte Darstellung liefern können, die über eine Beschreibung des Konzepts der Viersäftelehre hinausreicht. Der Abschnitt über Krankheit(en) ist dagegen besser gelungen. Er beginnt nicht – wie üblich – mit den Volksseuchen, die unsere Vorfahren plagten, sondern mit Alltagskrankheiten wie zum Beispiel Ödemen. Die weitverbreiteten Zahnleiden fehlen in der Aufzählung, wären in diesem Kontext aber sicherlich einer Erwähnung wert gewesen. Es folgt ein kurzer Abriss der Geschichte der Seuchen und ihrer Bekämpfung. Dabei fällt auf, dass die Autorin fast immer den neuesten Forschungsstand wiedergibt. Nur im Abschnitt über den Kampf gegen die Menschenpocken werden wichtige neuere Studien zum anfänglichen Widerstand gegen die Vakzination (zum Beispiel von Eberhard Wolff) nicht rezipiert.2 Damit kommt die Fortschrittsgeschichte gleichsam wieder durch die Hintertür hinein.

Das Kapitel über die gelehrte Medizin fällt dagegen recht konventionell aus. Hier vermisst man zum Beispiel die innovativen Forschungen von William Eamon, Ian McLean und Nancy Siraisi.3 Außerdem fehlt jeder Hinweis auf die Existenz von jüdischen Ärzten, die vor dem 18. Jahrhundert nicht an jeder medizinischen Fakultät studieren durften.

Breiten Raum in der Darstellung nimmt ein allerdings erst seit dem 19. Jahrhundert so zentraler Ort für die Medizin ein, das Krankenhaus, dessen Frühgeschichte dargestellt wird. Inspiriert von Guenter R. Risses Buch über die Geschichte des Krankenhauses von der Antike bis heute4, das konsequent die Patientenperspektive einnimmt, schildert Lindemann die Welt des frühmodernen Hospitals, das noch weitgehend ein Sozialasyl und keine Klinik war. In diesem Zusammenhang werden auch die Krankenpflegeorden kurz erwähnt. Dass es auch damals schon eine „freie Pflege“ in Ansätzen gab, erfährt der Leser leider nicht.

Im Kapitel, das den Titel des Buches übernimmt, wird vor allem die Herausbildung eines öffentlichen Gesundheitswesens aufgezeigt. Auch werden die wichtigsten Präventionsmaßnahmen, die damals schon bekannt waren, geschildert. Erfreulicherweise findet in diesem Zusammenhang die Veterinärmedizin, die sich um die Bekämpfung von Tierseuchen bemühte, ebenfalls Erwähnung.

Am Schluss erfährt der Leser, welche unterschiedlichen Therapieangebote es gab und wie bunt das Feld der professionellen Heiler und der medizinischen Laien, die sich teilweise Konkurrenz machten, war. So kann man zum Beispiel auch etwas über die Heiltätigkeit von Scharfrichtern lesen.

Im Vergleich zur ersten Auflage fällt auf, dass die Fixierung auf Europa etwas aufgelockert wurde und auch der medizinische Alltag in den Kolonien sowie der Heilmittelimport aus der Neuen Welt thematisiert wird. Außerdem wurde die seit der Erstauflage erschienene neuere Forschungsliteratur im Großen und Ganzen eingearbeitet. So finden sich erfreulicherweise in den Anmerkungen auch Titel in französischer, deutscher und niederländischer Sprache. Das hilfreiche, zur Weiterarbeit anregende Literaturverzeichnis, das nach Themen geordnet ist, konzentriert sich allerdings mit dem Blick auf die weltweite Leserschaft auf englische Titel.

Anmerkungen:
1 Klaus Bergdolt, Leib und Seele. Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens, München 1999 (engl. unter dem Titel „Wellbeing. A Cultural History of Healthy Living”, Oxford 2008).
2 Eberhard Wolff, Einschneidende Maßnahmen. Pockenschutzimpfung und traditionale Gesellschaft im Württemberg des frühen 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1998.
3 William Eamon, Science and the Secrets of Nature. Books of Secrets in Medieval and Early Modern Culture, Princeton, NJ 1994; Ian MacLean, Logic, Signs, and Nature in the Renaissance. The Case of Learned Medicine, Cambridge 2002; Nancy G. Siraisi, History, Medicine, and the Traditions of Renaissance Learning, Ann Arbor 2007.
4 Guenter R. Risse, Mending Bodies, Saving Souls. A History of Hospitals, Oxford 1999.

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