U. Boschung u.a. (Hg.): Repertorium

Titel
Repertorium zu Albrecht von Hallers Korrespondenz 1724-1777.


Herausgeber
Boschung, Urs; Braun-Bucher, Barbara; Hächler, Stefan; Ott, Anne K.; Steinke, Hubert; Stuber, Martin
Reihe
Studia Halleriana, VII 1+2
Erschienen
Basel 2002: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
1061 S., 2 Bde. mit CD-ROM
Preis
€ 119,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ute Schneider

1. Zum Forschungsinteresse
Die Gelehrtenrepublik der Aufklärung stellte ein europäisches Netzwerk dar, das durch die persönlichen Briefwechsel der Gelehrten geknüpft und gefestigt wurde. Trotz der steigenden Anzahl von gelehrten Zeitschriften, die im 18. Jahrhundert als schnelle Publikationsorte und als wichtige Kommunikationsinstanz verstärkt zur Verfügung standen, waren Briefe noch das geeignete Medium, um professionelle wie private Informationen auszutauschen, um die gemeinsamen Forschungsinteressen der jeweiligen Korrespondenzpartner zu diskutieren und auch um Seilschaften zu knüpfen. Die soziale Funktion der Briefe geht daher oft über die schnelle Mitteilung wissenschaftlich relevanter Sachverhalte weit hinaus. Briefe dienten der Selbstvergewisserung der Fachkollegen. Sie dienten dem einzelnen Gelehrten zur Positionssicherung innerhalb der Wissenschaftlergemeinschaft ebenso wie zum Austausch wissenschaftsexterner, alltagsbezogener Neuigkeiten. Insofern lassen sich anhand dieser Quellengattung nicht nur wissenschafts- und geistesgeschichtliche Entwicklungen nachvollziehen, sondern auch Aussagen treffen über die Organisation des wissenschaftlichen Alltags, über den Lebens- und Arbeitszusammenhang der Gelehrten.

Die Erschließung und inhaltliche Sichtung solch gelehrter Briefbestände ist für unser tieferes Verständnis der aufgeklärten Gelehrtenrepublik unverzichtbar, erlauben sie doch den Blick in die Praxis der durch Vernunft, Verstand und Fortschrittsgedanken geleiteten europäischen Wissenschaftlergemeinde. Wegen der meist sehr breiten Streuung der Briefe in Archiven und Bibliotheken ist eine grundlegende, umfassende Aufarbeitung kompletter Gelehrtenbriefwechsel Desiderat geblieben. In der Regel wird nur einem Teil der Korrespondenz berühmter Wissenschaftler in der Forschung Aufmerksamkeit zuteil, und dann finden auch oft nur die Briefe Interesse, die mit ebenso berühmten Partnern ausgetauscht wurden.

Mit dem jüngst in Basel erschienenen Repertorium der gesamten Korrespondenz einer der wichtigsten Persönlichkeiten der Gelehrtenrepublik wird nun ein großer Schritt auf dem Weg der Aufklärungsforschung zurückgelegt. Der aus Bern stammende Universalgelehrte Albrecht von Haller (1708-1777), Mediziner, Literaturkritiker (etwa 9000 Rezensionen schrieb er im Laufe seines Gelehrtenlebens) und Verfasser schöngeistiger Werke, unterhielt einen der umfangreichsten Briefwechsel des 18. Jahrhunderts. Hallers Korrespondenz, die schon von seinen Zeitgenossen und Erben als bedeutendes Dokument erkannt wurde (vgl. Braun-Bucher: Einleitung, S.XIII-XXI), wird mit dem Repertorium in ihrer Gesamtheit vorgestellt und lädt zur intensiven Nutzung ein.

2. Zu den Daten
Die Zahlen sind beeindruckend: Etwa 17000 Briefe sind überliefert (13300 an und 3700 von Haller), die er mit insgesamt 1150 Briefpartnern und 50 Briefpartnerinnen wechselte.
Vergleichbare Zahlen lassen sich etwa in der Korrespondenz des Berliner Buchhändlers, Verlegers, Literaturkritikers und Schriftstellers Friedrich Nicolai (1733-1811) nachweisen. Gut eine Generation jünger als Haller korrespondierte Nicolai mit etwa 3000 Briefpartnern und –partnerinnen, hinterließ etwa 20000 Briefe von ihm und an ihn, die zum allergrößten Teil noch der inhaltlichen Erschließung harren. Angesichts der Masse in beiden Fällen mutet es fast verblüffend an, daß diese beiden Briefgiganten persönlich nicht miteinander in Kontakt standen, obwohl sich ihre Briefnetze überschnitten.

Dem Repertorium der Haller-Korrespondenz beigegeben sind vier geographische Karten mit der statistischen Auswertung der regionalen Verteilung der Briefpartner Hallers sowie vier statistisch aufbereiteten Graphiken, aus denen sich (1) die quantitativen Analyse der Briefe in der zeitlichen Entwicklung von 1724 bis 1777 ableiten läßt, (2) ein Vergleich der Sprachen, in der die Briefe abgefaßt sind, vorliegt, (3) die Anzahl der Briefe pro Korrespondent im prozentualen Vergleich aufgeführt wird und (4) die Verteilung der Korrespondenzgröße und das Gewicht der großen Korrespondenzen, d.h. derjenigen mit über 200 Briefen pro Briefpartner, ersichtlich ist. Folgendes läßt sich herauslesen: Hallers Korrespondenznetz erstreckt sich über das gesamte Europa, von Moskau über St. Petersburg und Stockholm bis nach Dublin im Nordwesten, Neapel und Malaga im Süden. Regionale Schwerpunkte lassen sich in Deutschland und der Schweiz ausmachen. Hannover, Bern, Lausanne, Zürich und Göttingen sind unter den 447 Absendeorten mit jeweils 600 bis über 2200 Briefen quantitativ am häufigsten vertreten. Selbst aus New Göttingen in den USA erhielt der Polyhistor Albrecht von Haller Post. Haller korrespondierte in Französisch (etwa 38% der Briefe), Deutsch (ca. 24%), Latein (ca. 21%) und Englisch (ca. 15%) mit Medizinern, Juristen, Mathematikern, Naturforschern, Beamten, Dichtern, Buchhändlern und Verlegern, natürlich auch mit Familienmitgliedern. Die vier Hauptkorrespondenzpartner mit jeweils über 500 Briefen an Haller während seiner gesamten Lebenszeit sind der Arzt und Dichter Paul Gottlieb Werlhof, der Schweizer Naturforscher und Hallers Arztkollege Johannes Gessner, der Berner Ökonom Samuel Engel, der Kurator der Göttinger Universität Gerlach Adolph von Münchhausen. Diese vier Briefpartner verweisen auf die zentralen Stätten von Hallers Wirken: auf Göttingen, wo er von 1736 bis 1753 Professor für Anatomie, Chirurgie und Botanik war, und auf seine Magistratszeit in seiner Heimatstadt Bern und Roche 1753-1777. Im letzten Jahr seiner Göttinger Zeit wird die quantitative Spitze der Briefe an Haller mit über 600 Briefen erreicht, später sind etwa 300 bis 400 erhaltene Briefe die Regel.

Die kursorische Durchsicht der Briefinhaltsbeschreibungen gibt schon den Blick frei auf die komplexen Beziehungen im Leben des Gelehrten Haller. Thematisiert werden in den Briefen im Prinzip alle Bereiche, die von professionellem oder privatem Interesse sind: Anfragen in Krankheitsfällen verknüpft mit Bitten um praktische Hilfestellungen bis zu wissenschaftlichen Krankheitsbeschreibungen und Therapiemaßnahmen verweisen auf den Mediziner Haller. Beschwerden und Freude über Rezensionen, Planungen und Ankündigungen von Buchprojekten, Bücherbeschaffung und ihre Probleme sind Themen, die vor allem den wissenschaftlichen Autor betreffen. Daneben stehen Beratungen in Heiratsplänen, Berichte über familiäres Glück und Leid, über Liebe und Freundschaft. Streitigkeiten privater wie gelehrter Natur und nicht zuletzt Empfehlungsschreiben in jeder Hinsicht. Der Privatmann, der Repräsentant einer ständisch organisierten Gesellschaft und der Gelehrte Haller werden gleichermaßen angesprochen. Auch aus sozialpsychologischer Sicht erweist sich somit die Hallersche Korrespondenz als fruchtbare Quelle.

3. Zum Erschließungsschema
Im ersten Band des Repertoriums werden in alphabetischer Reihenfolge die Briefpartner/innen und darunter in chronologischer Anordnung die nachweisbaren Briefe verzeichnet. Eine inhaltliche Zusammenfassung jedes Briefwechsels wird in verschiedenen Abstufungen vorgenommen. Bei wenig umfangreichen Briefwechseln (bis zu fünf, teilweise bis zu 10 erhaltenen Briefen) handelt es sich um Regesten, bei Korrespondenzen im Umfang von sechs bis zu 30 Briefen werden chronologische Zusammenfassungen geliefert, über diese Quantität hinaus gehende Briefwechsel werden durch Schwerpunktsetzungen in den für die einzelne Korrespondenz repräsentativen Briefen zusammengefasst. Dem zu erwartenden Einwand, damit werde den kleineren Briefwechseln eine Dominanz vor den größeren eingeräumt, stellen Hächler, Steinke und Stuber die überzeugende Einschätzung entgegen, daß gerade die kleineren Briefwechsel kaum eine Chance auf gesonderte Edition haben werden, während die größeren in eigenen Ausgaben publiziert werden können und teilweise auch schon publiziert sind (vgl. S. XXXVII). Bereits publizierte Briefe werden als solche mit den entsprechenden bibliographischen Angaben gekennzeichnet. Kurze biographische Notizen zu den Briefpartner/innen Hallers ergänzen sinnvoll den Überblick über den Inhalt der Briefe. Bei den umfangreicheren Korrespondenzen illustrieren ein Porträt des Briefpartners, Schriftproben oder das Titelblatt eines Werks die Verzeichnung der erhaltenen Briefe. Der Benutzer erhält also nicht nur darüber Auskunft, welche Themen zwischen den Briefpartnern verhandelt wurden, sondern kann mit Hilfe dieser prosopographischen Erschließung weiterführende Erkenntnisse über die Zusammensetzung der Gelehrtenrepublik gewinnen.

4. Die Register
Dem Verzeichnis der Briefe schließt sich im zweiten Band des Repertoriums ein umfangreicher Registerband an. Verschiedene Register werden dargeboten: Das Personenregister liefert einerseits die Verweise auf die Korrespondenzpartner, andererseits erfreulicherweise aber auch auf in den Briefen erwähnte Personen. Ein weiteres Register verweist auf die in den Briefen erwähnten Werke und Periodika, so daß es dem interessierten Benutzer unproblematisch möglich wird, anhand des Registers die Diskussionen über bestimmte Publikationen herauszufiltern. Das Orts- und Sachregister verschlagwortet in Überbegriffen die Themen der Briefwechsel. Schließlich wird ein Briefregister in chronologischer und ein Briefregister nach Orten in alphabetischer Reihenfolge angeboten.

Es ist also möglich, schon allein mit Hilfe des Registers beispielsweise folgende Fragen zumindest tendenziell zu beantworten: Mit welchen verschiedenen Partnern korrespondiert Haller im selben Zeitraum? Werden einzelne Themen mit verschiedenen Partnern verhandelt, oder sind bestimmte Diskussionen spezifischen Personen vorbehalten? Welche Themenschwerpunkte dominieren in unterschiedlichen Lebensabschnitten? Kommuniziert Haller vorwiegend mit Fachkollegen, so daß die Anfänge einer disziplinär gebundenen scientific community nachweisbar werden? Erleichtert wird eine vorläufige Beantwortung dieser Fragen mit Hilfe der den beiden Bänden beigelegten CD-ROM. Sie enthält die beiden Bände im pdf-Format und ermöglicht über eine unproblematische Volltextrecherche hinaus die Erstellung einer auf die individuellen Bedürfnisse der Benutzer zugeschnittenen Briefliste. Als Recherchemöglichkeiten bieten sich folgende Kategorien an: Datum, Empfänger/Absender, Absende-/Empfangsort.

5. Fazit
Hier wurde über Jahrzehnte Kärrnerarbeit geleistet. Der Rechercheaufwand der Herausgeber war immens, und er hat sich gelohnt. Europaweit wurden Briefe in Archiven und Bibliotheken nachgewiesen. Nicht nur die Tatsache, daß die Briefe zugeordnet, gelesen und sinnvoll zusammengefaßt wurden, sondern auch die Eruierung der biographischen Daten zu den einzelnen Briefpartnern stellen eine unglaubliche Leistung des Herausgebergremiums dar. Das Repertorium wird die Grundlage für alle weiterführenden Analysen sein, für Arbeiten über Haller, für Studien, die medizinhistorisch angelegt sind, genauso wie für Studien, die sich allgemein mit der Wissenschaftsorganisation der Gelehrtenrepublik beschäftigen. Die Aufbereitung dieser Korrespondenz wird sicher Vorbild für die Erschließung anderer Gelehrtenbriefwechsel werden, die noch der Bearbeitung harren.

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