G. Weiss (Hg.): Westfalens Aufbruch

Titel
Zerbrochen sind die Fesseln des Schlendrians. Westfalens Aufbruch in die Moderne


Herausgeber
Weiss, Gisela; Dethlefs, Gerd
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 31,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Prof. Dr. Heide Barmeyer-Hartlieb, Universität Hannover

In Vorbereitung auf ein groß angelegtes Säkularisationsprojekt für das Jahr 2003 ist schon jetzt unter Federführung des Westfälischen Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Münster ein aufwendig ausgestatteter Band erschienen, der nicht nur im Layout perfekt durchgestylt ist, sondern dessen wissenschaftliches Niveau insgesamt ebenfalls als beachtlich zu bezeichnen ist.

Umrahmt von einem Prolog – „1801 – Vom Umgang mit der Zukunft“ – und einem Epilog – „2001- Odyssee im Weltraum“– stellt die Herausgeberin einen Bezug zur Gegenwart her und vergleicht die Umbruchszeit um 1800 – „Laboratorium vor der Moderne“ (Frie) – mit unseren Zukunftserwartungen. Um 1800 war das Fliegen, die Überwindung der Schwerkraft, das Freiwerden von beengenden Fesseln, das Symbol eines optimistischen Aufbruchs in eine bessere Zukunft und stand für den Abschied vom Schlendrian einer in festgefahrenen Gleisen stagnierenden selbstverschuldeten Unmündigkeit. Die Zeitgenossen faszinierten Experimente mit Heißluft- und Gasballons und erreichten über das neue Kommunikationsmedium Zeitschrift, im vorliegenden Fall dem Magazin für Westfalen, ein breiteres Publikum.
Angesichts gegenwärtiger Zukunftserwartungen einer internet-verknüpften globalisierten Welt soll die Retrospektive in eine von Widersprüchen geprägte Umbruchszeit, die nach 200 Jahren Erfahrung mit tiefgreifenden Veränderungen nicht mehr nur mit einem positiv besetzten Modernisierungsbegriff erfaßt werden kann, helfen, für eine ungewisse Zukunft „weiser“ zu werden.

Auf den Prolog folgt eine Bildcollage, in der das „alte“ Westfalen vorgestellt wird. Hier werden die für die folgenden Aufsätze maßgeblichen Bereiche Land/Landwirtschaft – Stadt/Zunft – Adel/Ständische Gesellschaft – Kirche/Religiöses Leben – Herrschaft/Verwaltung mit instruktiven Exponaten vorgeführt.

Nach dieser Eröffnung gliedert sich der Band in drei ungleiche Teile: „Wunsch nach Veränderung – Westfalen um 1800“ (S.43-121), „ Zeitenwende 1800 – Modernisierungsimpulse aus Frankreich und Großbritannien“ (S.123 –159) und „Aufbruch in die Moderne – Das „neue“ Westfalen“ (S.161-331). Der besondere wissenschaftliche Ertrag für die Erforschung der Geschichte Westfalens liegt eindeutig in den zehn Aufsätzen des dritten Teils, für den die beiden vorangestellten Abschnitte vorbereitenden Hintergrundcharakter haben – durchaus sinnvoll und didaktisch geschickt plaziert.

Die beiden Texte unter der Überschrift Zeitenwende sind eher allgemein und wenig westfalenbezogen. Thamer gibt einen Handbuchartikel, Weidner eine knappe Einführung zu Erfindungen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Modernisierung dienten. Charakteristisch für das Bemühen der Projektleiter, die schon die Ausstellung mit im Blick haben, ist im vorangegangenen Teil: „Wunsch nach Veränderung – Westfalen um 1800“ die enge Verschränkung von Text und Bild. Zwei Artikel zur „Reisewut“ lenken den Blick auf Westfalen. Reininghaus behandelt unter der Überschrift „Reisende in Westfalen- Westfalen auf Reisen“ zuerst die Sicht des pro-preußischen Modernisierers von außen auf ein angeblich im alten Schlendrian steckengebliebenes Westfalen – ganz auf der Linie des negativen Westfalenbildes von Voltaires Candide – belegt durch einen auszugsweisen Abdruck aus Justus Gruners „Wallfahrt zur Ruhe und Hoffnung oder Schilderung des sittlichen und bürgerlichen Zustandes Westphalens“ 1802/3. Der innerwestfälische Diskurs wird dann einerseits mit einem 1783 veröffentlichten Bericht eines Jöllenbecker Pfarrers und Publizisten belegt, andererseits mit Zeugnissen von in Westfalen lebenden französischer Emigranten. Aber auch Westfalen reisten in die Welt, um ihren Horizont zu erweitern und damit zweifellos auch ihre Sicht Westfalens zu verändern: Ludwig Freiherr Vincke lernte der weite Teile Europas auf einer großen Spanien- und zwei Englandreisen kennen, Kaufleute machten Amerikaerfahrungen – so ein Iserlohner Kaufmann -, Soldaten kamen aus den napoleonischen Feldzügen mit neuen Erfahrungen zurück, so die beiden Lipper Wilhelm Ludwig Falkmann und Friedrich Wilhelm Dornheim.
Im umfangreichsten dritten und letzten Teil – „Aufbruch in die Moderne – Das „neue“ Westfalen“ – stellen 10 Autoren/innen verschiedene Aspekte der Modernisierung in Westfalen vor, die eingangs genannten Stichworte aufnehmend und nun differenzierend und mit konkreten Einzelbeispielen belegend. Bis auf den mit wissenschaftlich längst überholten Klischees argumentierenden Beitrag zur napoleonischen Verfassungspolitik in Westfalen sind alle anderen Untersuchungen bei allen Unterschieden niveauvoll und anregend; einige mehr allgemein, andere stärker auf Westfalen bezogen, einige das Bekannte durch westfälische Beispiele bereichernd, wieder andere aus eigener Forschungsarbeit entstanden und den bisherigen Kenntnisstand durch Neues ergänzend und sogar in Neuland vorstoßend. Es ist äußerst anregend zu sehen, wie Historiker, Volkskundler, Kunsthistoriker und Theologen mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen und unter Benutzung verschiedener Quellen zum gleichen Thema arbeiten.

Mit der Landwirtschaft, von der um 1800 bis zu 90% der Menschen lebten, wird begonnen. Wolf-Dieter Könenkamp stellt in einem vorzüglichen Aufsatz dar, auf welche Weise sich die Modernisierung der Landwirtschaft auf dem weiten Weg vom Holz zum Eisen vollzog. Er zeigt, wie die Innovationen aus England über Reiseberichte und Briefkorrespondenzen nach Westfalen gelangten und die Diskussion neuer Erkenntnisse (Thaer) schrittweise über Dorfpfarrer weitergegeben wurde, bis einzelne Verbesserungen und eine Reform der rechtlichen Rahmenbedingungen allmählich den Übergang von der extensiven zur intensiven Landwirtschaft ermöglichten.

Der Volkskundler Kurt Dröge öffnet dem Leser die Augen für Veränderungen der Lebensweise auf dem Lande, wie sie sich in neuen Möbeln und Wohnformen zeigte. Der Werte- und Mentalitätswandel von der Vormoderne des „ganzen Hauses“ zur sich allmählich durchsetzenden bürgerlichen Lebensform der räumlichen Trennung von beruflicher Arbeitswelt und auf die Privatsphäre reduzierter Zwei- bis maximal Dreigenerationenfamilie erforderte neue architektonische Grundrisse und eine den neuen Bedürfnissen angepaßte Innenausstattung. So folgte auf das niederdeutsche Hallenhaus als Einhaus mit Mensch und Vieh unter einem Dach die neue Form des Stubenwohnens mit dem Einbau einer trennenden Scherwand. Neue Hygieneanforderungen und neue Wert- und Prestigevorstellungen verlangten nach neuartigen Möbeln. An schriftliche Quellen gewöhnte Historiker können hier lernen, wie viel gerade aus dieser gegenständlichen Überlieferung für Fragen von Mentalität und Alltag zu entnehmen ist. Dröge warnt davor, in volkskundlichen Museen stilistisch einheitlich rekonstruierte Ensembles mit der Wirklichkeit zu verwechseln, in der Altes neben Neuem benutzt wurde. Auch erinnert er daran, daß Textilien aufgrund ihrer besonderen Vergänglichkeit als Sachgut heute seltener vorhanden sind, was aber nicht zu dem Trugschluß ihrer geringeren Bedeutung führen sollte. Ideologiekritisch warnt er vor der weit verbreiteten Annahme einer autarken Textilproduktion der vorindustriellen Gesellschaft, – der von ihm „Flachs- und Leinen-Ideologie“ genannten Vorstellung.

Die allgemeinen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen im preußischen Westfalen, die Aufnahme entwickelter liberaler Theorien in Westeuropa und deren allmählicher Umsetzung zeigt Gerd Dethlefs in seinem Beitrag auf.
Annette Gebhardt wählt als Beispiele für den Wandel der Stadtkultur zur Moderne die Stadt Münster und zeigt, wie sich in der entfestigten und mit einer zur Promenade umfunktionierten Stadtbefestigung ein öffentlicher Raum herausbildet, in dem bürgerliche Kultur ihren Raum findet. Sie zeigt, wie sich zwischen Gruner 1802/3 und Guilleaume 1836 literarische und Theaterkultur entwickelt und der Stadt ein neues Gepräge gibt.

Angelika Lorenz gelingt es anhand intensiver Bildinterpretationen, den Wandel des Porträts vom älteren ständisch geprägten zum bürgerlich-individuellen Bildnis nachzuzeichnen und die Konturen eines neuen Menschenbildes überzeugend herauszuarbeiten; auch hier wird wieder eine Quellengattung herangezogen, die Historiker leicht in ihrem Aussagewert übersehen. Von den Porträts ist es nur ein Schritt zur Thematisierung der Geschlechterverhältnisse. Deren Wandel nimmt Barbara Stollberg-Rilinger auf, indem sie die Einstellung zu Liebe, Ehe und Partnerwahl untersucht. Nachdem sie den allgemeinen Hintergrund einschließlich der Veränderungen in den rechtlichen Rahmenbedingungen und deren Ursachen dargestellt hat, wendet sie sich vergleichend zwei westfälischen Zeugnissen zu. Es handelt sich um den Eheanbahnungsversuch des Osnabrücker Regierungskonsulenten Justus Möser für seine Lieblingsnichte (1777) und um einen autobiographischen Bericht (nach 1781) des münsterschen Gelehrten Anton Matthias Sprickmann über eine Liebesepisode seiner Jugend. Barbara Stollberg-Rilinger gelingt es durch subtile Interpretation dieser beiden Dokumente, den Übergang von ständisch-traditional geprägten Verhaltensvorstellungen zu individualisierten Lebenserwartungen und –ansprüchen herauszuarbeiten und zu zeigen, wie emotionale Aufwertung der Ehe und ihre gleichzeitige ökonomische Abwertung zusammengehören.

Ewald Frie wendet sich für die Übergangszeit – von ihm treffend als eigenständige Periode eines „Laboratoriums vor der Moderne“ bezeichnet – dem Bereich von Kirchen und Religiosität zu. Wie die durch Nipperdey angestoßene jüngere Forschung zur Geschichte von Kirchen und Religiosität des 19. Jahrhunderts und Frie selbst in seiner Marwitz-Biographie nachgewiesen haben, gilt auch hier, daß mit der Säkularisation kein linearer Prozeß zunehmender Verweltlichung, wachsender Kirchenferne und abnehmender Bedeutung von Religion und Frömmigkeit in Gang kam, sondern daß auch hier regionale, konfessionelle und schichtenspezifische Unterschiede an Bedeutung zunahmen. Bevor er die Geschichte von Religion, Religiosität und Kirchen konfessionsvergleichend behandeln kann, stellt er vorweg die konfessionelle und politische Gliederung Westfalens dar. Es folgt eine Schilderung des Klerus und der kirchlichen Organisation, erst der katholischen Geistlichkeit, dann der protestantischen Landgeistlichen, auf die sich die Säkularisation unterschiedlich auswirkte. Danach wendet er sich den verschiedenen Frömmigkeitsformen der Konfessionen zu – den katholischen Wallfahrten und Prozessionen und der protestantischen Erweckungsbewegung. Auf relativ engem Raum bietet Westfalen anschauliche Beispiele für Kontinuitäten, Neuanfänge und Möglichkeiten einer offenen Zukunft, die im Gärungsprozeß der Übergangszeit noch unentschieden nebeneinander bestanden.

Thomas Küster schließlich fragt nach neuen Modellen sozialer Fürsorge. Für die Zeit der Vorreformen vor 1806 stellt er auf wenigen Seiten unterschiedliche Lösungsvorschläge aus zwei westfälischen Gebieten vor, wie sie nach ihrer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Struktur unterschiedlicher kaum gedacht werden konnten: aus der preußischen Grafschaft Mark und dem Hochstift Münster. Küster vergleicht die beiden Reformansätze, den preußischen und den münsterschen und kommt im Ausblick zu dem Resümée, daß die Vorreformen zwar noch nicht als Beginn der modernen Sozialpolitik anzusehen sind, wohl aber belegen, daß auch hier eine sich verändernde Auffassung von Gesellschaft bemerkbar wurde. Der Aufsatz bringt neue wissenschaftliche Erkenntnisse und besticht durch Klarheit, Anschaulichkeit und Konzentration auf westfälische Beispiele, die analytisch gedeutet und in den größeren Zusammenhang der Entwicklung der sozialen Frage eingeordnet werden.
Der letzte Beitrag von Stefan Haas lenkt den Blick auf den Alltag. Am Beispiel des Umgangs mit Tod und Kleidung wird deutlich, wie der Übergang von der ständisch-traditionalen zur bürgerlichen Ordnung des Lebens neue Ausdruckformen suchte und fand.

Zusammenfassend sei festzuhalten, daß der Band auf hohem wissenschaftlichem Niveau eine Vielzahl von Aspekten der Entwicklung Westfalens in der Übergangszeit um 1800 vorstellt. Neben der Qualität der Texte fällt die ungewöhnlich intensive Verbindung von Texten und Abbildungen auf und die ästhetisch ansprechende Gestaltung. So wartet der gut vorbereitete Leser gespannt auf die Ausstellung und auf das für 2003 geplante Säkularisationsprojekt mit dem Westfälischen Haus der Geschichte.