J. Fuge u.a. (Hrsg.): Das Gedächtnis von Stadt und Region

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Titel
Das Gedächtnis von Stadt und Region. Geschichtsbilder in Norddeutschland


Herausgeber
Fuge, Janina; Hering, Rainer; Schmid, Harald
Reihe
Hamburger Zeitspuren, Bd. 7
Erschienen
Anzahl Seiten
186 S.
Preis
€ 10,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Kratz, Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Nach wie vor sind lokale und regionale Erinnerungskulturen nur in Ansätzen erforscht, was sich allerdings nicht so sehr in einem mangelnden Interesse der besonders in den letzten Jahren stark angewachsenen Forschung begründet 1 als vielmehr in der Vielzahl möglicher Forschungsobjekte. Anders gesagt: Es gibt einfach weitaus mehr Städte und Regionen als Nationen. Insofern betreten auch die Autoren des vorliegenden Sammelbands weitgehend Neuland und bieten deshalb weniger abschließende Einsichten als vielmehr „Anregungen“ (S. 14) und „Werkstattberichte“ (S. 11) zur weiteren Erforschung norddeutscher Erinnerungskulturen. Diesem Anspruch werden sie bei ihrem inspirierenden Unternehmen, „erinnerungskulturelle Wegmarken der Hamburger und Schleswig-Holsteiner Stadt- und Landesgeschichte seit der Weimarer Republik“ (S. 7f.) in Fallstudien zu identifizieren auf ganz unterschiedliche Weise gerecht.

Der Sammelband gliedert sich in zwei chronologische Blöcke: Im ersten wird die Zeit der Weimarer Republik behandelt, im zweiten werden die Dekaden nach 1945 thematisiert. Die „theoretische Klammer“ (S. 14) bilden drei Arbeitshypothesen: So stünden erstens sowohl Raum und Erinnerung als auch zweitens nationales und lokales Gedächtnis in einem Wechselverhältnis. Darüber hinaus seien drittens „Zeugnisse respektive Konstruktionen des Authentischen“ (S. 14) konstitutiv für lokale Vergegenwärtigungen der Geschichte und führten dazu, dass das lokale und regionale Gedächtnis selektiver sei als das nationale. Während die beiden erstgenannten Hypothesen anhand der empirischen Erkenntnisse in den Einzelkapiteln vielfach gestützt werden, wird bei der letztgenannten nicht ersichtlich, weshalb dies besonders für lokale und regionale Erinnerungskulturen gilt und warum subnationale Erinnerungskulturen selektiver sein sollten als nationale. Beispielsweise wählten die Errichter des „Hermanns-Denkmals“, das als Ausdruck des kollektiven Gedächtnisses des Kaiserreichs angesehen werden kann, den Teutoburger Wald als Standort, da sie glaubten, dass dort die Varusschlacht stattgefunden habe. Nur ein Beispiel von vielen dafür, dass auch für nationale Gedächtnisse Authentizität von zentraler Bedeutung ist. Zudem gibt es wohl wenige lokale Erinnerungsorte, bei denen der Selektionscharakter deutlicher aufgezeigt werden kann als bei diesem.2

Den Anfang macht Gunnar B. Zimmermann mit seiner Analyse der programmatischen Ausrichtung des Vereins für Hamburgische Geschichte zur Zeit der Weimarer Republik. Er zeigt auf, dass der Verein unterschiedliche, über die Hansestadt hinausgehende Räume (Umland, Niederelbegebiet, Niedersachsen) mit seiner Arbeit historiographisch erschloss und diese somit für seine Konsumenten und Mitglieder zur möglichen „komplementären“ Identifikation bereitstellte. Als Erklärung für diese räumliche Ausweitung führt Zimmermann gegenwärtige Bedürfnisse (Stadtplanung, Integration der zugewanderten und neu eingemeindeten Bevölkerung), spezifische Interessen der Autoren sowie die Einbindung der anwachsenden Heimatbewegung an.

Ebenso dem Hamburg der Weimarer Zeit widmet sich Janina Fuge in ihrem Aufsatz über die lokale Erinnerungskultur, die sie anhand von drei Gedenkanlässen untersucht: der Erinnerung an das untergegangene Kaiserreich (zehnter Jahrestag der Unterzeichnung des Versailler Vertrags, 60. Reichsgründungstag), der Gründung der Republik (9. November, Verfassungstag) sowie an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges (Volkstrauertag, Totensonntag). Zur Analyse greift sie die These Edgar Wolfrums vom „Bürgerkrieg der Erinnerung“ auf, die sie allerdings aufgrund ihrer Forschungsergebnisse hinsichtlich eines „Zwei-Fronten“-Gedenkens (S. 41) zwischen Reichs- und Republikerinnerung zuspitzt, bei dem es weder zu synthetisierenden Erinnerungen oder alternativen Konfliktlinien gekommen sei. Warum allerdings „begründet“ (S. 58) vermutet werden kann, dass sich dieser Befund auf alle Städte des Deutschen Reichs übertragen lässt, bleibt offen und ließe sich wohl nur durch vergleichende Studien belegen oder falsifizieren. Im Vergleich der drei von ihr untersuchten Gedenkanlässe zeigt sie darüber hinaus, dass die Veranstaltungen zum Volkstrauertag und Totensonntag am stärksten besucht waren, was sie mit der unmittelbaren Betroffenheit der Hinterbliebenen der fast 35.000 Hamburger Soldaten, die im Ersten Weltkrieg ihr Leben verloren hatten, erklärt. Doch die Generalisierung dieses Befundes („Je konkreter der Bezug der Erinnernden zum Erinnerten, desto nachhaltiger ist die Erinnerung für die Gegenwart.“, S. 39) erscheint mehr als fraglich angesichts des massenhaften Holocaustgedenkens seit 1978 beispielsweise an den runden Jahrestagen der Reichspogromnacht vom 9. November 1938, das auch und gerade von den Nachgeborenen – wohl wegen ihrer Nichtbetroffenheit – getragen wurde.3

Malte Thießen leitet mit seinem Städtevergleich zur Erinnerung an den Luftkrieg die Aufsätze über die Gedenkkultur nach 1945 ein. Im Gegensatz zu den übrigen Fallstudien des Sammelbands über einzelne Städte bzw. Regionen kann er mit seinem methodischen Ansatz überzeugend allgemeine Bestimmungsfaktoren lokaler Erinnerungskulturen herausarbeiten. So könne man am Beispiel der Erinnerung an die Bombenangriffe auf Hamburg und Lübeck trotz der ganz unterschiedlichen Ausgangslage (schwerer versus schwacher Zerstörungsgrad, florierende Elbmetropole versus Hansestadt im „Zonenrandgebiet“) von einem „Gleichklang des Gedenkens“ (S. 87) sprechen. Dafür verantwortlich sei zum einen der stets vorhandene Gegenwartsbezug der Erinnerung. So formten gegenwärtige Phänomene wie der Kontext des Kalten Kriegs, der Wiederaufbau, das „Wirtschaftswunder“, die deutsch-britische Aussöhnung und die Sorge um einen möglichen Atomkrieg die jeweiligen Erzählungen über die Bombenangriffe. Zum anderen sei es seit den 1990er-Jahren zu einer „transkommunalen Erinnerung“ (S. 87) gekommen: Lübeck und Hamburg registrierten genau, wie der jeweils andere an den Luftkrieg erinnerte.

Dem Umgang mit NS-Belasteten sowie der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus widmet sich Rainer Hering in seinem Beitrag über „Die evangelisch-lutherischen Kirchen nördlich der Elbe und ihre nationalsozialistische Vergangenheit“. Der regionale Befund deckt sich mit den bisherigen überregionalen Studien: Während sich Kirchenvertreter für „Entnazifizierungsopfer‘“ und sogar nationalsozialistische Massenmörder einsetzten, dominierte das Schweigen über die Opfer des „Dritten Reichs“. Eine regionale Auffälligkeit zeigt sich lediglich bei der im nationalen Vergleich verspäteten wissenschaftlichen Aufarbeitung der Rolle der Kirche im Nationalsozialismus, die nach vereinzelten Vorarbeiten erst 1998 systematisch begann.

Einen eher konzeptionellen Ansatz verfolgt Harald Schmid bei seinem Versuch, das „Landesgedächtnis“ sowohl theoretisch als auch anhand dreier Fallstudien zum Bundesland Schleswig-Holstein zu fassen. Unter dem Begriff „Landesgedächtnis“ versteht er eine spezifische Form des kollektiven Gedächtnisses, an dessen Bildung im Gegensatz zu einem nationalen kollektiven Gedächtnis lediglich die Akteure innerhalb eines Bundeslandes teilnehmen. Obwohl dies nach Schmid nicht nur staatliche Einrichtungen des Bundeslandes sein können, sondern auch Einzelpersonen, Organisationen, Milieus, Generationen oder Familien, beziehen sich seine Fallstudien allein auf den staatlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit. So untersucht er im diachronen Vergleich die Gedenkreden der jeweiligen Ministerpräsidenten, die Reaktionen der Landesregierung auf Bemühungen, den in Landsberg als Kriegsverbrecher einsitzenden Rudolf Hess freizulassen sowie den Umgang der Landesregierungen mit jüdischen NS-Opfern. Vor allem der Vergleich der Gedenkreden zeigt, wie sehr die Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ der parteipolitischen Profilierung diente. Ob das „Landesgedächtnis“ jedoch tatsächlich als eine „bedeutsame Schaltstelle politischer Orientierung“ (S. 137) gerade im Hinblick auf die Rolle von Städten und nationalen Akteuren bezeichnet werden kann, müsste nicht zuletzt wegen der „begrenzten methodischen Aussagekraft“ (S. 136) der Studien, wie Schmid selbst einräumt, weiter erforscht werden.

Joe Perry rundet schließlich in einem resümierenden Kapitel den Sammelband ab, indem er die im Einleitungskapitel aufgeworfenen Arbeitshypothesen aufgreift. So betont er vor allem den Konstruktionscharakter der eigentlich „natural or self-evident“ (S. 141) erscheinenden Räume und authentischen Orte, die von den einzelnen Autoren untersucht worden sind. Denn diese als Kristallisationspunkte einer spezifischen kollektiven Selbstvergewisserung zu definieren, sei jeweils eine Frage der Macht. Eine Leerstelle in diesem Zusammenhang bestehe aus seiner Sicht in dem noch wenig erforschten Einfluss des Christentums: „One of the most powerful discourses of authenticity in modern Germany ist that of Christianity.“ (S. 143) Ein weiteres Desiderat sei die Verbindung von Erinnerungsforschung und Gender-Perspektive, da die untersuchten lokalen Gedächtnisse alle maskulin geprägt seien. Doch nicht nur Frauen gehörten vielfach zu den „Verlierern“ (S. 147) der Auseinandersetzung um die Etablierung einer dominierenden Erzählung über die Vergangenheit, sondern auch viele weitere gesellschaftliche Gruppen, deren Vergangenheitsdeutungen es ebenso zu erforschen gelte wie jene der „Gewinner“.

Insgesamt bietet der Sammelband zum einen zahlreiche Anknüpfungspunkte für die weitere Erforschung norddeutscher Erinnerungskulturen. Zum anderen regt er zum Vergleich mit weiter südlich gelegenen Städten und Regionen an. Besonders fruchtbar erscheinen die Beiträge dann, wenn sie die vergleichende Perspektive einnehmen, ob nun einzelne Städte einander gegenübergestellt oder lokale Erinnerungen mit nationalen verglichen werden. Der Band ist deshalb nicht nur speziell an Norddeutschland Interessierten zu empfehlen, sondern all jenen, die sich mit lokalen und regionalen Erinnerungskulturen befassen.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Literaturhinweise bei Malte Thießen, Das kollektive als lokales Gedächtnis: Plädoyer für eine Lokalisierung von Geschichtspolitik, in: Harald Schmid (Hrsg.), Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis, Göttingen 2009, S. 155-176; Harald Schmid (Hrsg.), Erinnerungskultur und Regionalgeschichte, München 2009.
2 Andreas Dörner, Politischer Mythos und symbolische Politik. Der Hermannmythos: zur Entstehung des Nationalbewusstseins der Deutschen, Opladen 1995; vgl. die Rezension von Jeffrey Verhey. In: H-Soz-u-Kult, 05.02.1999, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=146 (6.12.2010)>.
3 Harald Schmid, Erinnern an den "Tag der Schuld". Das Novemberpogrom von 1938 in der deutschen Geschichtspolitik (Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg: Forum Zeitgeschichte, Bd. 11), Hamburg 2001.

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