Cover
Titel
Jan Palach '69.


Herausgeber
Blažek, Petr; Eichler, Patrik; Jareš, Jakub
Anzahl Seiten
637 S.
Preis
Kč 690,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Stach, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig

Die Selbstverbrennung des Studenten Jan Palach am 16. Januar 1969 auf dem Wenzelsplatz in Prag ist heute fester Bestandteil aller Geschichten über die Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Paktes. Lange jedoch erschöpfte sich dies im bloßen Hinweis auf Palachs Tat, die die Menschen „wachrütteln“ sollte. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung gab es nicht – abgesehen vielleicht von einem Sammelband, der bereits 1991 von Studenten der Philosophischen Fakultät der Prager Universität vorgelegt wurde.1 Die Gründe hierfür scheinen zu einem nicht unwesentlichen Teil in der hohen Emotionalität des Themas zu liegen und damit einer gewissen „Scheu“ der (tschechischen) Zeithistoriker, sich dem „großen Opfer“ quellenkritisch zu nähern.2 Die Aufgabe für den Geschichtsforscher lautet: Arbeit nicht am, sondern gegen den Mythos; die für den Zeitzeugen, sein eigenes Handeln nach 1969 an Palachs Tat zu messen – so zumindest die Schauspielerin Vlasta Chramostová in einer Diskussionsveranstaltung im Rahmen der Präsentation des hier anzuzeigenden Sammelbandes.3 Dieser ist in Zusammenarbeit der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität mit dem Institut für das Studium totalitärer Regime in Prag entstanden und reagiert auf eine doppelte Herausforderung. Einerseits setzen sich die Herausgeber das Ziel einer umfassenden geschichtswissenschaftlichen Bearbeitung und Einordnung der Tat Palachs auf Basis der zugänglichen Archivquellen sowie einer Analyse der vielfältigen künstlerischen Auseinandersetzungen, die zum Thema „Palach“ seit 1969 entstanden sind, andererseits geht es darum, die Bedeutung der Ereignisse aus philosophischer Sicht zu reflektieren.

Der Band ist in sechs Teile gegliedert. Nach einer Einordnung des Geschehens vom Januar 1969 am Wendepunkt zwischen Prager Frühling und der sogenannten „Normalisierung“ durch Miloslav Petrusek folgen im ersten Block detaillreiche Rekonstruktionen der Taten von Jan Palach sowie seiner Vorgänger bzw. Nachfolger Ryszard Siwiec in Polen, Jan Zajíc und Evžen Plocek in der Tschechoslowakei sowie Oskar Brüsewitz in der DDR. Mit dem Sinn der Selbstverbrennung, ihren religiösen Konnotationen und den moralischen Fragen, die sie bis heute aufwirft, beschäftigen sich die – teilweise für diesen Band entstandenen, teilweise bereits früher publizierten – Essays im nächsten Teil. Es folgen drei Studien zu künstlerischen Bearbeitungen des Palach-Motivs in Film, Literatur und klassischer Musik. Im von Petr Blažek zusammengestellten Dokumententeil, der fast die Hälfte der Publikation ausmacht und durch eine DVD mit Fotos, Filmen und Archivdokumenten ergänzt wird, finden sich in erster Linie zwischen 1969 und 1974 entstandene Akten aus dem Archiv der Sicherheitsdienste, unter ihnen Kopien der Briefe, die Palach selbst vor seinem Tod verfasst hatte, aber auch ausführliche Ermittlungsprotokolle der Staatssicherheit und der Polizei. Quasi als Scharnier zwischen den wissenschaftlichen bzw. reflektierenden Texten und dem Dokumententeil fungiert die biografische Studie „Jan Palach. Zpráva o životě, činu a smrti českého studenta [J.P. Bericht über das Leben, die Tat und den Tod eines tschechischen Studenten]“4 des Publizisten Jiří Lederer, die – 1969 entstanden – eine sehr unmittelbare Interpretation überliefert.

Mit „Fackel Nr. 1“ ist der Artikel Blažeks überschrieben, in dem dieser die Tat Palachs und deren unmittelbare Folgen mithilfe der gesichteten Archivquellen sorgfältig rekonstruiert. Es ist vor allem ein erst jetzt entdecktes Dokument, das neues Licht auf das „Opfer“ wirft. So zeigt ein Brief, den Palach wohl bereits am 6. Januar 1969 dem Studentenvertreter Lubomír Holeček übergab und in dem er eine Besetzung des Gebäudes des Tschechoslowakischen Rundfunks durch eine Gruppe von Studenten vorschlug, dass der junge Mann durchaus auch andere radikale Formen des Protestes erwog. Die Selbstverbrennung – so der Autor – sei also keineswegs ein spontaner Verzweiflungsakt gewesen (S. 53).

Die Beiträge von Patrik Eichler, Łukasz Kamiński und Tomáš Vilímek über Selbstverbrennungen in anderen sozialistischen Staaten während der 1960er- und 1970er-Jahre dienen der vergleichenden Einordnung Palachs und zielen auf die Frage, warum es fast ausschließlich Palachs Tat ist, die bis heute im kollektiven Gedächtnis präsent blieb und warum gerade er – gab es doch sowohl in Warschau als auch Kiew „Vorgänger“ – zum Vorbild für alle Nachfolger wurde. Die Antwort liegt in erster Linie in der Medienresonanz, die fast unmittelbar nach der Tat einsetzte und sie auch weit über die tschechoslowakischen Grenzen hinaus bekanntmachte. Im Falle des Protestes von Ryszard Siwiec, der sich am 8. September 1968 bei einer Massenkundgebung im Angesicht der polnischen Parteispitze entzündete, war es dem Regime noch gelungen, eine entsprechende Debatte weitgehend zu unterdrücken. Implizit erwähnt und allein durch den Aufbau des Bandes selbst bestätigt, ist die augenfällige Verflechtung der Diskurse um alle Selbstverbrenner im „Ostblock“, die sofort nach 1989 einsetzte. Von den Regimes sorgfältig isoliert, erscheinen sie mittlerweile gleichsam als homogene Protestform, die in ihrer Regimekritik letztlich direkt zum politischen Umbruch von vor 20 Jahren führte.

Unter den Essays sei insbesondere verwiesen auf Ladislav Hejdáneks „Symbol a skutečnost [Symbol und Wirklichkeit]“, der gleichzeitig als grundlegende Botschaft der Herausgeber dieses Sammelbandes verstanden werden soll: So lasse sich der „Sinn“ von Palachs Selbstopferung nicht an dessen politisch-gesellschaftlicher Wirkung ablesen, vielmehr stehe die Tat – als moralische Größe – für sich selbst. Palach „antwortete“ auf eine „Botschaft“, einen „Appell der Geschichte“, der an alle adressiert war (S. 154) und eben hier liege die Bedeutung des Symbols Palach für die Gegenwart. Nicht seine Art zu Handeln sei vorbildlich, sondern, d a s s er handelte. Seine Tat rufe – damals wie heute - zu zivilgesellschaftlichem Handeln auf. Die Schuld an der viel diskutierten „Vergeblichkeit“ seines Opfers, liege daher bei all denen, die ihrer eigenen Verantwortung nicht nach(ge)kommen (sind). Mit dem Problem des Umgangs mit der quasi-religiösen Tat beschäftigen sich unter anderem die Beiträge Václav Cíleks und Martin C. Putnas. Ersterer reflektiert die Selbstverbrennung als rituelle Tat, die das Gefühl von etwas Heiligem hervorrufe. Dies mache aus Palach ein „öffentliches Privatissimum“ (S. 166), das sich breiten Debatten bislang entzog. In diesem Sinne sieht auch Putna („Archetyp mladého mučedníka [Der Archetyp des jungen Märtyrers]“) erst mit Beendigung des Palachkultes die Möglichkeit einer kritischen Reflexion und Verortung seiner Tat im Rahmen radikaler studentischer Protestakte (S. 174f.).

Wenngleich Cílek in seinem Artikel auch die allen Prager Denkmälern gemeinsame Unscheinbarkeit (S. 168) konstatiert, die sich aus der Schwierigkeit ergibt, verbale Ausdrucksformen angesichts eines derart drastischen non-verbalen Aktes zu finden, beschäftigt sich nur Jan Kolář in seiner hervorragenden Interpretation der 1969 entstandenen Dokumentarfilme explizit mit Aspekten der visuellen Erinnerungskultur. Die Filme prägen, ebenso wie die Bilder von kilometerlangen Kondolenzschlangen und Ehrenwachen an Palachs Sarg bis heute die Erinnerung an den Januar 1969 und verleihen ihr damit eine „kitschige lyrische Perspektive“ und viel Pathos (S. 190). In Bezug auf die hohe geschichtskulturelle Bedeutung visueller Zeugnisse ist es schade, dass in den Band kein Beitrag zu den tausendfach reproduzierten (Passfoto)portraits oder auch der Totenmaske Palachs aufgenommen wurde.

Dieses Desiderat schmälert allerdings nicht den Wert der sorgfältig edierten Publikation. Als studentische Initative direkt in der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität (am Jan-Palach-Platz) entstanden, schufen die Herausgeber ein keinesfalls nur für Historiker wertvolles Buch. Einzig bleibt das Gefühl, dass sie etwas zu viel wollen: einerseits mit neuen geschichtswissenschaftlichen Analysen zum Verständnis der Tat Palachs beitragen, andererseits dem Vergessen des ehemaligen Geschichtsstudenten entgegentreten (als Teil der Jubiläumsfeierlichkeiten 2009). Gleichzeitig begleitet den Leser eine Art moralisches Leitmotiv. Durch die Lektüre soll er Lehren für die Gegenwart ziehen. Dabei trifft er auf eine vor allem den „Nachgeborenen“ fremd anmutende starke Emotionalität. Dieses Pathos, das manchen der ausgewählten Quellen eigen ist, wird greifbar, etwa wenn der Soziologe (und ehemalige Reformkommunist) Petrusek seinen Beitrag mit einer Anklage jener Protagonisten des Prager Frühlings beschließt, die nicht am Begräbnis teilgenommen hatten: „wo seid Ihr gewesen, Ihr Helden des Prager Frühlings […]? Nicht einmal soviel Mut habt Ihr noch, dem Opfer ins Gesicht zu blicken, das auch in Euch einen Rest dessen wachrütteln wollte, wodurch Ihr gebunden seid an das Schicksal Eurer Nationen?“ (S. 35) Diese im Band aufscheinende Vermischung von Zeitzeugenschaft und wissenschaftlichem Aufklärungsanspruch, die Unentschlossenheit Palach zu entmythologisieren oder ihm ein Denkmal zu setzen, spiegelt auf anschauliche Weise das Dilemma im Umgang mit Jan Palach heute wider und lässt die Publikation selbst zu einer Fundgrube für die Erforschung geschichtskultureller Aspekte dieses Themas werden.

Anmerkungen:
1 Barbara Mazáčová / Veronika Pokorná / Pavel Suchánek (Hrsg.), Ve jménu života Vašeho... [Im Namen Eures Lebens...], Praha 1990.
2 So u.a. Jiří Hoppe, Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte in Prag, in: Tomáš Pavlíček, Shořel Palach zbytečně? [Verbrannte Palach vergebens?], in: Respekt, 28.1.2007.
3 Vgl. Kateřina Volná, Hledání smyslu oběti [Suche nach dem Sinn des Opfers], in: FAKT Časopis studentů FF UK, <http://ffakt.ukmedia.cz/palach-hledani-smyslu-obeti> (25.08.2010).
4 Der erst 1990 auf tschechisch publizierte Text erschien bereits 1982 in Zürich unter dem Titel „Jan Palach. Ein biografischer Bericht“.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension