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Titel
The Red Prince. The Fall of a Dynasty and the Rise of a Modern Europe


Autor(en)
Snyder, Timothy
Erschienen
London 2008: The Bodley Head
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
£ 20,00-
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Grzegorz Rossolinski-Liebe, Universität Hamburg

Um darzustellen, wie die Moderne die vielleicht konservativste der großen europäischen Familien, die Habsburger, herausforderte, hat sich Timothy Snyder ein interessantes Fallbeispiel ausgesucht: den bisexuellen ukrainischen Patrioten Wilhelm von Habsburg. In zehn Kapiteln, die Snyder nach Farben ordnet – mit dem habsburgischen Gold beginnend und dem durch die revolutionären Unruhen in der Ukraine 2004 in Mode gekommenen Orange endend – stellt der Autor in einer sehr eleganten geschriebenen, obwohl gelegentlich nostalgisierenden Erzählung ein unbekanntes Stück der habsburgischen Familiengeschichte und zugleich der ukrainischen Geschichte dar.

Im „goldenen Kapitel“ geht Snyder der Geschichte der Habsburgermonarchie nach, sowie der Frage, wie dieses multiethnische Staatsgebilde durch die Moderne und den Nationalismus herausgefordert wurde. Die Farbe Blau ordnet Snyder Wilhelms Kindheit und dem Plan seines Vaters Stefan zu, dem zufolge Wilhelm den Thron des zukünftigen polnischen Staates hätte besteigen sollen. Zu diesem Zweck wurden Wilhelm und seine Geschwister in Englisch, Französisch und Italienisch und eben auch in Polnisch unterrichtet. Des weiteren leitete Stefan seine Abstammung von dem imaginierten Titel des „Grafen von Żywiec“ ab, „proclaimed its family’s Polishness“ und zog 1907 mit der Familie zu einem ererbten neuen Schloss mit einer bis heute bekannten und beliebten Brauerei, welches im Westteil Galiziens, der rückständigsten Provinz der Habsburgischen Monarchie, lag (S. 46-49). Die Farbe Grün thematisiert die Strategie der Ehen, die Stefans’ Töchter mit polnischen Aristokraten schlossen. Nur Eleonore widersetzte sich dieser Familienpolitik und heiratete auf eine für Habsburger untypische Art und Weise anstatt eines polnischen Edelmannes den „schönen“ deutschen Seemann Alfons Kloss (S. 59-64).

Die Dramaturgie des „roten Kapitels“ manifestiert sich bereits im „Grünen“: In diesem beschreibt Snyder, wie unzufrieden der junge rebellische „Willi“ mit den Ehen seiner Schwestern war und wie dies zu seiner Begeisterung für die ukrainische Nation beitrug, die sich von der polnischen (insbesondere dem polnischen Adel) unterdrückt fühlte. Dieser Begeisterung folgend entschied sich Wilhelm dafür, kein polnischer, sondern ein ukrainischer Habsburger zu sein (S. 68). Die Ukrainer brachten ihm ukrainische Lieder bei (S. 98) und gaben ihm den ukrainischen Zusatznamen Vasyl’ Vyšyvanyi (Vasyl’ der Bestrickte), den sie von einem bestickten Hemd ableiteten, das Wilhelm unter seinem Uniform trug und das für ukrainische Nationalisten und Folkloreliebhaber bis heute als typisch „ukrainisch“ gilt (S. 95). Mit diesem Namen ging Wilhelm auch in die westukrainische politische Mythologie ein. Im westukrainischen Lemberg zum Beispiel wurde ein Platz nach dem „Bestrickten“ benannt, auf dem bis heute ein leerer Sockel ohne Denkmal steht. Im letzen Teil des Buches, dem Epilog ohne Farbe, verleitet dies Snyder dazu, die Lemberger Bürger dazu aufzufordern, den Sockel mit einer entsprechenden Statue zu besetzen, womit der wissenschaftliche Rahmen des Buches subtil gesprengt wird (S. 272f.).

Wilhelms militärisches und politisches Engagement für die Idee der ukrainischen Nation, sowie seine Träume, der König der Ukraine zu werden, sind das Thema des „roten“ und „grauen“ Kapitels. Das Projekt „Ukraine“ musste unter anderem deshalb scheitern, weil amerikanischen, britischen und französischen Diplomaten, die eine neue geopolitische Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg in Europa einführten, die Ukraine schlichtweg unbekannt war, weshalb sie die Idee eines ukrainischen Staates für eine deutsche Intrige hielten (S. 122). Ohne den ukrainischen Nationalismus aufzugeben, begeisterte sich Wilhelm nach dem Krieg für die Errichtung einer Monarchie, was Snyder mit der Farbe Weiß assoziiert. Das Titelblatt einer nach dem Krieg von ihm herausgegebenen Zeitung zeigte einen ukrainischen Bauer mit Hammer und Sichel, begleitet von der Parole: „Ukrainer aller Länder, vereinigt euch!“ (S. 143). Wenig überraschend wirkten sich die verfeindeten Nationalismen entsprechend negativ auf die Beziehung zwischen dem rebellischen, ukrainischen Patrioten Wilhelm und seinem polnisch-patriotischen Vater aus (S. 134-135).

Die Farbe Lila macht Snyder zum Symbol von Paris, jene Stadt, in der Wilhelm nach dem Ersten Weltkrieg seine Bisexualität so massiv auslebte, dass er infolge einer politischen Affäre mit romantischem Hintergrund Ende 1934 verhaftet wurde und nach einem medialen Skandal, in dem das Haus Habsburg als der Inbegriff des Verdorbenen dargestellt wurde, die Stadt verlassen musste. Die nächsten Jahre verbrachte Wilhelm im „braunen“ faschistischen Wien, das er überaus schätzte: Nicht zuletzt deshalb, weil es seinem ukrainischen Nationalismus entgegen kam. Die ukrainischen Nationalisten orientierten sich nämlich nach dem Ersten Weltkrieg dominant am Faschismus, in der Hoffnung, an der Seite anderer Faschisten ihre Heimat zu befreien. Faschismus bedeutete für sie und auch für Wilhelm zu dieser Zeit nationale Unabhängigkeit (S. 194f., 197).

Nach dem „braunen“ Kapitel folgt das „schwarze“ über den Krieg gegen Hitler und Stalin. Zunächst brachte der Zweite Weltkrieg dem polonisierten Zweig der Familie Habsburg Unglück: Die Nazis hielten sie für Verräter der deutschen Rasse (S. 209) und enteigneten sie. Wilhelm und seine Schwester Eleonore jedoch, die für die nationalsozialistischen Bürokraten als „rassisch Deutsch“ galten, bekamen üppige Entschädigungen für das enteignete Eigentum (S. 211f.). Im Jahr 1942 verlor Wilhelm, wie viele andere ukrainische Nationalisten, seinen Glauben an den Faschismus: Teilweise war es das Schicksal seiner Familie, teilweise die taktisch motivierte Einsicht, dass die Nazis den Krieg verlieren würden, die Wilhelm zu einem verspäteten Widerständler machten (S. 215-217). Wenig wahrscheinlich ist allerdings, dass Wilhelms politische Umorientierung durch die Massenmorde an Juden, Polen und nicht-nationalistischen Ukrainern verursacht wurde, von denen die OUN und die UPA die Westukraine im Zweiten Weltkrieg „säuberte“, was Snyder leider nicht herausarbeitet. Dabei dürfte ein kritisch vorgehender Historiker die Frage, wie Wilhelm diese Massenverbrechen der faschistisch-ukrainischen Patrioten mit seiner ukrainischen Identität vereinbarte, nicht ignorieren: vorausgesetzt, dass Wilhelm über die Vorgänge informiert war. Ab 1944 half Wilhelm in Wien der OUN und anderen ukrainischen Nationalisten, die angesichts der sich abzeichnenden Niederlage des Dritten Reiches nach neuen Helfern suchten und deshalb Kontakte mit den Alliierten knüpfen wollten (S. 222f.).

Im letzen, „orangen Kapitel“ beschreibt Snyder, wie Wilhelm im Dezember 1947 für seine Zusammenarbeit mit den ukrainischen Nationalisten in Wien von sowjetischen Agenten verschleppt und von einem Sowjetischen Tribunal wegen seines ukrainischen Nationalismus verurteilt wurde. In der Folge wurde er zu einem Gefängnis nach Kiew transportiert und weiter verhört. Ein Dritter Weltkrieg, den Wilhelm sich nach seiner Entführung offensichtlich sehr wünschte, da er sich davon das Ende seines Leidens in den sowjetischen Gefängnissen versprach, brach jedoch nicht aus: Wilhelm verstarb am 18. August 1948 in Sowjetischer Gefangenschaft an Tuberkulose, sein Tod wurde zweifellos durch die katastrophalen Zustände in den Sowjetischen Gefängnissen verursacht. Der restliche Teil des orangen Kapitels ist europäischen Ereignissen nach Wilhelms Tod gewidmet. Eines davon ist die „orange Revolution“ des Jahres 2004 in der Ukraine, die Snyder als „the most important defence of democracy in the Europe of the early twenty-first century“ versteht: Die Tatsache, dass diese Revolution nicht nur Demokratie, sondern auch Nationalismus hervorbrachte und gleichzeitig den westukrainischen Nationalismus als den vermeintlich demokratischen Teil der ukrainischen Kultur feierte, ignoriert Snyder bedauerlicherweise vollkommen (S. 257); möglicherweise um seine zentralen Thesen nicht zu gefährden.

Resümierend kann man sagen, dass Snyder die Geschichte des Wilhelm von Habsburg spannend erzählt und auch erklärt: Die Darstellung lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf viele wichtige Fragen der europäischen Geschichte, die oftmals zu wenig berücksichtigt werden. Es gelingt dem Autor am Beispiel der Familie von Habsburg plausibel und anschaulich darzustellen, wie die Ideologie des Nationalismus Menschen geistig und moralisch beschränkt, sie des Universalismus beraubt und degenerieren lässt. Vielleicht wäre dieser Versuch noch etwas gelungener ausgefallen, wenn Snyder beim Schreiben die nostalgischen Gefühle etwas mehr in Zaum gehalten, etwas mehr „gegen den Strich“ gebürstet und Gebrauch von theoretischen Ansätzen der Heterogenität, Pluralität und Identität gemacht hätte.1 Dann nämlich würden die Nationalismen und „nationalen Identitäten“ nicht die Form von quasi-natürlichen, authentischen und eindeutigen Gebilden annehmen, die von Individuen durch Erlernen der Sprache, Aneignung der Sitten und die Begeisterung für die nationale Folklore wie Waren in einem Supermarkt erworben und konsumiert werden können. Jedoch selbst mit diesen kleinen Unzulänglichkeiten ist „The Red Prince“ oder „Der König der Ukraine“ 2, als eine gelungene deutsche Übersetzung, ein großer Gewinn für die Geschichtswissenschaft und ein feinsinnig und spannend geschriebenes Buch.

Anmerkungen:
1 Moritz Csáky, Pluralität. Bemerkungen zum „dichten System“ der zentraleuropäischen Region, in: Neohelicon 23 (Budapest-Amsterdam 1996), S. 9-30, hier S. 9-11; Moritz Csáky, Ideologie der Operette und Wiener Moderne, Wien 1998, S. 249.
2 Timothy Snyder, Der König der Ukraine. Die geheimen Leben des Wilhelm von Habsburg, Wien 2009.

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