Cover
Titel
Eine endliche Geschichte. Die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen


Autor(en)
Faehndrich, Jutta
Reihe
Visuelle Geschichtskultur 5
Erschienen
Köln 2011: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
XII, 303 S., 36 SW-Abb.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mathias Beer, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen

Es gibt Themen, von denen man annehmen darf, dass sie von der Forschung schon längst aufgegriffen worden wären. Das Heimatbuch gehört dazu. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, der „Geburtsstunde“ der Heimatbücher, über ihre Blüte in der Zwischenkriegszeit und dann wieder nach dem Zweiten Weltkrieg sind Tausende solcher Bücher erschienen und erscheinen nach wie vor. Doch der Begriff „Heimatbuch“ findet sich in keinem Nachschlagewerk. Und eine bibliographische Recherche im Bereich der Volkskunde, Geschichts-, Literatur- und Kulturwissenschaften führt lediglich zu einigen wenigen Titeln, meist Aufsätzen. Auf diese Forschungslücke und auf die Erkenntnismöglichkeiten, die das Heimatbuch als Teil der populärwissenschaftlichen Literatur bietet, hat 2007 eine Tagung in Tübingen aufmerksam gemacht, aus der inzwischen ein Sammelband hervorgegangen ist.1

Jutta Faehndrichs Studie – eine, das sei vorweggenommen, ebenso breit angelegte wie methodisch fundierte und gut geschriebene Untersuchung – setzt hier an. Im Mittelpunkt der an der Universität Erfurt angenommenen kulturwissenschaftlichen Dissertation steht ein jüngerer Teilbereich des großen Themas – die „Heimatbücher der deutschen Vertriebenen“. Zwar ist diese Untergruppe der Heimatbücher vergleichsweise besser erforscht.2 Doch Faehndrich löst hier thematisch und methodisch ein Desiderat der Forschung ein. Zudem lässt sie den Leser am Ringen mit dem ihr unbequemen Forschungsgegenstand teilhaben. Man wird bei diesen „gewundenen Wegen“ (S. 1) zum teilnehmenden Beobachter eines spannenden Forschungs- und Erkenntnisprozesses.

Die Studie ist die erste Monographie, die die Gesamtheit der Vertriebenenheimatbücher in den Blick zu nehmen versucht, die nach 1945 in der Bundesrepublik erschienen sind – also sämtliche Publikationen zu Orten aus Gebieten des Deutschen Reiches und einer Reihe von Staaten Ostmitteleuropas, aus denen die deutsche Bevölkerung als Folge des Zweiten Weltkriegs flüchtete, umgesiedelt oder vertrieben wurde. Es handelt sich um von ehemaligen Bewohnern eines Ortes meist kollektiv verfasste Bücher über ihre verlorene Heimat. Abgehandelt wird darin eine breitestmögliche Themenpalette in einer charakteristischen Mischung aus subjektiver und faktenorientierter Schilderung, die weit über die Darstellung von Geschichte hinausgeht. Mindestens 580 Vertriebenenheimatbücher hat Faehndrich gezählt, wobei sie aus pragmatischen Gründen nur jene Publikationen erfasste, die den Begriff „Heimatbuch“ im Titel tragen. Setzt man diese Zahl ins Verhältnis zu allen erschienenen Heimatbüchern, so entsprechen die Vertriebenenheimatbücher mit etwa einem Fünftel der gesamten deutschsprachigen Heimatbuchproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg ziemlich genau dem Anteil von rund 20 Prozent, den die Vertriebenen 1961 an der Bevölkerung der Bundesrepublik hatten.

Das Ziel der kulturwissenschaftlichen Studie ist es, „mit Hilfe der Heimatbücher an eine Mittelebene zwischen Individuum und Vertriebenenverbänden, zwischen Familiengedächtnis und kulturellem Gedächtnis der Gesamtgesellschaft heranzukommen: an das Gruppengedächtnis der Vertriebenen als Erinnerungsgemeinschaft“ (S. 15). Wie die Autorin bereits in früheren Aufsätzen argumentiert hat3, sind die Vertriebenenheimatbücher nicht nur eine Literaturform aus regional- und lokalkundlicher Perspektive, sondern vor allem ein spezifisches Ausdrucksmedium für Verlusterfahrung und Erinnerung (S. 13). Dabei unterstreicht Faehndrich, dass es sich um „keine ganz normalen Heimatbücher“ handele, weshalb sie immer wieder die „endliche Geschichte“ dieser Bücher hervorhebt. Dadurch werden die Gemeinsamkeiten mit den Charakteristika des Heimatbuchs an sich vermutlich etwas unterschätzt. Grundlage der Arbeit bilden 150 Heimatbücher; 40 davon sind vor und 110 nach 1945 erschienen. Die Studie zieht rund 30 Prozent jedes Erscheinungsjahrzehnts heran, bei publikationsstarken Intervallen mindestens 10 Prozent. Die Bücher werden einer minutiösen quantifizierenden und in Teilen qualitativen Analyse unterzogen.

Das Buch umfasst sieben Kapitel, die wiederum vielfach untergliedert sind. Dadurch entsteht nicht nur der Eindruck einer „Übersystematisierung“, sondern auch dem Erzählfluss werden künstliche Hindernisse in den Weg gelegt. Auf die Einleitung sowie die Darstellung von Fragestellung, Forschungsstand und Methoden folgen im dritten Kapitel, unter Inkaufnahme von Wiederholungen, die theoretischen Grundlagen der Arbeit. Anknüpfend an die Erinnerungs- und Gedächtnisforschung sowie hier vor allem an die Arbeiten von Jan und Aleida Assmann werden die Heimatbücher als Ausdruck einer Erinnerungsgemeinschaft der Vertriebenen interpretiert. Zu hinterfragen ist dabei die Annnahme, dass sich die regional bestimmte Identität der einzelnen Vertriebenengruppen erst als Folge der Vertreibung herausgebildet habe.

Im vierten Kapitel, einer Art Exkurs, geht Faehndrich der Entstehung des Heimatbuchs im 19. Jahrhundert nach und verfolgt dessen Entwicklung bis in die Gegenwart. Sie leistet damit Pionierarbeit. Zu Recht unterstreicht sie die Bedeutung der Heimatkunde bei der Entstehung des Heimatbuchs. Wohl zu gering schätzt sie den Stellenwert der Entstehung und Ausdifferenzierung der Geschichtswissenschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein. Diese Ausdifferenzierung hatte zur Folge, dass die Geschichtsschreibung und die Landeskunde der „interessierten Laien“ in eine Nische abgedrängt wurden, die unter anderem das Heimatbuch bediente.

Den Kern der Arbeit bilden die beiden folgenden Kapitel. Im fünften wird die Geschichte der Vertriebenenheimatbücher nachgezeichnet, von ihren Entstehungsbedingungen über die besonderen Merkmale und identitätsstiftenden Funktionen bis hin zur Differenzierung zwischen intendierter Funktion und tatsächlicher Wirkung der Heimatbücher. Schließlich verweist Faehndrich auf die fehlende Tradierung und Rezeption in der zweiten und dritten Generation. Zu fragen wäre, ob die meisten dieser Merkmale nicht solche des Heimatbuchs schlechthin sind und ob bei den Vertriebenenheimatbüchern nicht deutlichere Verbindungslinien zu den vor 1945 entstandenen Heimatbüchern bestehen.

Das schon durch seinen Umfang zentrale sechste Kapitel bietet einen Überblick und, noch wichtiger, einen Vergleich der Heimatbücher aus verschiedenen Herkunftsregionen der Vertriebenen. Laut Faehndrich sind relativ gesehen mehr Heimatbücher zu den südosteuropäischen Herkunftsgebieten entstanden. Zudem zeichneten sich diese durch eine größere Vielfalt der behandelten Themen aus. Hier wiederum glaubt sie eine größere Offenheit festzustellen – bezogen auf die Darstellung des Zweiten Weltkriegs, des Nationalsozialismus und des Verhältnisses zu den anderen ethnischen Gruppen. Solche landsmannschaftlichen Unterschiede und die im Laufe der Zeit erfolgte inhaltliche Akzentverschiebung in den Heimatbüchern hin zur „Vertreibung“ führt Faehndrich unter anderem auf die unterschiedliche „Steuerung der Erinnerungskonstruktion“ durch die Heimatvertriebenenverbände zurück (S. 234). In diesem Zusammenhang spricht sie insbesondere mit Bezug auf die Heimatbücher aus dem sudetendeutschen Bereich von einem „historical engineering“ und einer „völlig ungenießbaren Kontaminierung vieler Heimatbücher […] mit zeitgenössischer Verbandsrhetorik“ (S. 235). Auch damit macht die Untersuchung deutlich, wie die Autorin abschließend zusammenfasst, dass es ebenso wenig ‚die’ Vertriebenen als Gruppe wie ‚das’ Vertriebenenheimatbuch gibt.

Das Verzeichnis der Heimatbücher mit geographischer Lokalisierung und mindestens einem bibliothekarischen Nachweis (S. 254-276) macht die Studie über die Analysen hinaus zugleich zu einem Nachschlagewerk. Auch deshalb liegt mit dem Buch nun eine Arbeit vor, an der die künftige Forschung zum Vertriebenenheimatbuch nicht vorbeikommt. Dass das Thema noch lange nicht erschöpfend untersucht ist, wird in der Studie selbst betont. Über die Rezeptionsgeschichte der Heimatbücher im Allgemeinen und der Vertriebenenheimatbücher im Besonderen gibt es bisher nur Mutmaßungen, aber keine empirisch abgesicherten Ergebnisse. Es fehlen auch vergleichende Untersuchungen von Vertriebenenheimatbüchern und Heimatbüchern zu Orten der Bundesrepublik, deren Bevölkerung nicht durch Zwangsmigration von ihrem Heimatort getrennt wurde.

Den Ausgangspunkt für das vorliegende Buch bildete, wie Jutta Faehndrich einleitend schreibt, eine „außerplanmäßige wissenschaftliche Abweichung“ (S. 1). Diese wurde zu einer jener heute im Bereich der Geisteswissenschaften nicht mehr selbstverständlich zugelassenen „Schleifen im Denken“, die die Forschung gerade deswegen voranbringen, weil sie nicht vorhersehbar sind. Diese Feststellung drängt sich nach der Lektüre der Studie über die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen geradezu auf.

Anmerkungen:
1 Mathias Beer (Hrsg.), Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung, Göttingen 2010; rezensiert von Willi Oberkrome, in H-Soz-u-Kult 22.12.2010: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-4-210> (13.07.2011).
2 Stiftung Ostdeutscher Kulturrat (Hrsg.), Ost- und südostdeutsche Heimatbücher und Ortsmonographien nach 1945. Eine Bibliographie zur historischen Landeskunde der Vertreibungsgebiete. Bearbeitet von Wolfgang Kessler, München 1979; Ulrike Frede, „Unvergessene Heimat“ Schlesien. Eine exemplarische Untersuchung des ostdeutschen Heimatbuchs als Medium und Quelle spezifischer Erinnerungskultur, Marburg 2004.
3 Jutta Faehndrich, Erinnerungskultur und Umgang mit Vertreibung in Heimatbüchern deutschsprachiger Vertriebener, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 52 (2003), S. 191-229; dies., Papierene Erinnerungsorte: die Heimatbücher schlesischer Vertriebener, in: Marek Czapliński / Hans-Joachim Hahn / Tobias Weger (Hrsg.), Schlesische Erinnerungsorte. Gedächtnis und Identität einer mitteleuropäischen Region, Görlitz 2005, S. 323-342.